Das Gewicht der Welt

Peter M. H.

Mitglied
das Gewicht der Welt
von Peter Huemer

Harry war schon seit Wochen nicht mehr nach hause gegangen. Alle suchten ihn doch das beunruhigte ihn nur in geringem Maße. Nachhause. Nachhause konnte er nicht mehr. Wenn man ihn gefragt hätte warum, wäre ihm gewiss etwas eingefallen, sich selbst konnte er es aber nicht erklären. Nun zog er von Bar zu Bar, von Motel zu Motel und von Stadt zu Stadt. Er hielt in jedem Kuhdorf, in dem er zuvor noch nicht gewesen war und besuchte so gut wie jedes Etablissement, sei es eine Bar einen Bowlingbahn oder ein Bordell. Auf der Suche nach einem Ort, der ihn nicht an so viele schon gesehene erinnerte, fand er immer nur die gleichen Bars, Bowlingbahnen und Bordelle, die er schon überall, in jeder anderen Stadt zuvor gesehen hatte. Zur Arbeit war er auch, verständlicherweise schon lange nicht mehr gegangen. Dort hatten sie ihn wohl für einige Tage vermisst und ihn dann durch einen jungen Mann ersetzt der voller Hoffnungen in ihre Arme gelaufen kam, mit all den besten Vorstellungen von der Zukunft und ganz besonders von der seinen. Müde, nein, Müde war auch er nicht. Genau wie er nicht Lebensmüde war. Er war bloß enttäuscht und er versuchte diese Enttäuschung zu mindern, indem er irgendetwas fand, das neu und aufregend war und ihm zeigen konnte dass alles möglich war. Doch was er bis jetzt auf seiner Reise gesehen hatte zeigte ihm vor allem wie wenig möglich war. Alles war so gleichförmig, so formelhaft. Nicht ein Neonschriftzug den er nicht schon so oder so ähnlich gesehen hatte, nicht ein Drink den ihm nicht schon einmal jemand genauso bereitet hatte. Nicht das er ihm nicht schmecken würde, doch er fand ihn auch nicht aufregend, trinken würde er ihn trotzdem. Das tat er immer und hatte er immer getan. Nun da schon wieder die Lichter eines neuen Ortes vor ihm aufleuchteten und ihn flackernd, als ob sie nicht einmal selbst an ihrer Versprechungen glaubten, hinein lockten in die dunklen Höhlen deren Eingänge sich manchmal an der gepflegten Hauptstraße befanden und manchmal in den schmutzigen Seitengassen. Doch die Abwasserkanäle verliefen unter den gut ausgeleuchteten Verkehrsadern und den finsteren Gassen gleichermaßen und oftmals versteckten sich die schlimmsten aller schmutzigen Drogenlöcher im hellen Tageslicht. Dort war Harry von all den Plätzen, die er besuchte am liebsten. Dort fühlte er sich am lebendigsten und gleichzeitig am schuldigsten. Dort sah er wandelnde Leichnahme die mit Löchern in ihren Armen und ihren Herzen, genau wie er auf der Suche nach etwas, das ihnen Richtung gab, geflohen waren und sich ihre Existenz selbst vernebelten, um nicht von ihren eigenen anklagenden Blicken durchbohrt zu werden. Und so sah er wie viel leben doch noch in ihm selbst steckte und wie viel Zeit ihm noch blieb bis auch er die Hoffnung aufgeben musste, doch er fühlte eben auch die Schuld die er auf sich lud indem er sich selbst am leid anderer Aufrichtete anstatt, die vom Schmerz geplagten aufzurichten. Er fühlte sich selbst so voller Schmerz an manchen Abenden, dass er versucht war sich zu den Leichnahmen ins Grab zu legen und sich selbst auch Löcher ins Herz und in die Arme zu stechen. Harrys Richtung wurde ihm von den Pfeilen auf der Straße vorgegeben. Manchmal wechselte er auf breiten Straßen wie wahllos die Spur und folgte den Pfeilen auf die er traf. Sollte er rechts abbiegen oder geradeaus fahren oder war doch der Weg der zu seiner linken über eine endlos verschlungene Straße auf einen Hügel hinauf führte, von dem aus er vielleicht einen schöne Aussicht gehabt hätte, der richtige? Für ihn war die Entscheidung keine solche, denn er folgte dem Zufall, der ihn mal zum einen und mal zum anderen Horizont schickte und manchmal sogar im Kreis und doch störte es ihn nicht, wie wenig Macht er über sich hatte, denn wenn er sich so fallen ließ, konnte er spüren wie ein großer Teil des Gewichts der Welt von ihm abfiel und er sich nicht mühen musste den Ansprüchen, die sie an ihn stellte gerecht zu werden. Oh was waren das nur für hohe Ansprüche gewesen. Nun lachte er darüber wenn er sich selbst sah wie er vor einem Schaufenster stand und, sich darin spiegelnd, die Haare glättete. Was konnte es ihn auf seiner Reise jetzt noch kümmern, was man von ihm dachte. Es würde niemanden kümmern. Das hatte es nie. Wieso auch. Wer war er schon. Diese Stadt war genauso hell wie alle die er bis hierher gesehen hatte. Sie war genauso sauber und genauso schmutzig. Sie war genauso schön wie sie hässlich war und all die Vorzüge mit denen sie warb waren ebenso begehrenswert, wie sie abstoßend waren. Die Menschen waren so mitleiderregend wie alle überall sonst auf seinem Weg und die Bars waren genauso wie er es gewohnt war. Sie waren voll und dann wieder leer und die Flaschen waren, wie er es gewohnt war, erst voll und dann wieder leer und dann wieder, wie durch ein Wunder, voll. Die Zeit war wie er es gewohnt war Zeitlos und verrann und wiederholte sich. Stunden kamen und sie gingen wieder, nur um kurz darauf wieder zurück zu kehren. Tage verbrachte er in den Gassen der Stadt und er traf niemals zweimal dieselben Gesichter doch dieselben Menschen traf er immer und immer wieder. An jeder Ecke. Wankend in seinem Zustand schrie er nicht wenige an, die ihn aus Gründen, die nicht einmal er selbst kannte aus der Haut fahren ließen. War es ihre Ignoranz oder war es seine Hoffnungslosigkeit. War es sein Schmerz oder war es ihre Gleichgültigkeit. Ihre Unbedarftheit oder seine Angst. Der Anzug, den er zu beginn seiner Reise noch getragen hatte, war nicht mehr als ein solcher wieder zu erkennen und sein Gesicht, das er noch an dem Tag getragen hatte, als er auf dem Weg zur Arbeit gewesen war, war an jener Kreuzung zurück geblieben an der er beschlossen hatte nicht abzubiegen. Dort lag es jetzt, mitten auf der Straße, und blickte gen Himmel. Aber konnte nicht erkennen was dort oben war, denn es hatte keinen Augen, die hatte es nie gehabt und es konnte nicht hören was die Welt rundum sagte denn die Ohren funktionierten nicht, das hatten sie ohnehin nie getan, und es schmeckte nicht den Asphalt auf dem es lag und nicht die Insekten die über seine Lippen hinweg stiegen denn es hatte keine Zunge, die hatte es nie gehabt und so konnte es auch nicht fühlen wenn ein Wagen, der über die Kreuzung fuhr über es hinweg raste, den auch Gefühle hatte es nicht und auch die hatte es nie gehabt. Harry hatte es abgestreift und war auf den ersten Metern nach der Kreuzung geblendet von den Eindrücken die auf ihn Einströmten, denn die Augen und Ohren seines neuen Gesichtes funktionierten und auch die Zunge und die Gefühle die er jetzt hatte funktionierten wunderbar. Nun dachte er würde er die Welt erkunden und die Wunder sehen die sie zu bieten hatte und er würde anfangen, dort wo er immer schon gewesen war und er nicht die Augen gehabt hatte zu sehen und nicht die Ohren zu Hören, nicht die Zunge zu schmecken und nicht die Gefühle zu fühlen. Nach Wochen die er dort verbracht hatte, wo er immer schon gewesen war, lag er jetzt im Rindstein. Nachdem er alles was er um sich gehabt hatte, aber nie erlebt hatte, nun tatsächlich erlebt hatte, lag er im Rindstein und konnte sich nicht mehr bewegen. Seinen Gedanken, die Welt außerhalb der seinen zu erkunden, hatte er irgendwo zwischen der Kreuzung und hier, wo er jetzt lag, verloren und konnte ihn nicht wieder finden. Alles war doch immer nur das gleiche und alles war es doch nicht wert gesehen zu werden. Anders würde es doch auch in Europa oder in Südamerika oder Asien auch nicht sein. Nur das Design unterschied sich. Er stützte seine Arme auf einen Hydranten und erhob sich keuchend und schritt weiter. Feste Schritte waren es, getrieben von einem weit weniger festen Willen. Er erreichte seinen Wagen als die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte. Ihm war es nicht so vorgekommen als würde es heller. Entschlossen sofort weiter zu fahren betrat er ein kleines Lokal und setzte sich hin um ein paar Stunden zu schlafen. Es war eines jener Drogenlöcher und er konnte so viele bekannte Gesichter erkennen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er konnte sein eigenes Gesicht sehen und fand, dass es gar nicht mehr so viel unterschied zwischen ihm und den Leichen gab, die er so bemitleidet hatte und wegen denen er sich oftmals so Schuldig gefühlt hatte. Nun konnten sich andere Gäste wegen ihm Schuldig fühlen und er dachte darüber nach ob nicht vielleicht viele von jenen, mit den Löchern in ihren Herzen den selben Weg zurück gelegt hatten wie er und es nun sein weiterer Weg war, sich zu ihnen zu legen, wo er doch schon so wie sie aussah. Flaschen leerten und füllten sich über diesen Gedanken und als auch sie nicht mehr weiterwussten, rieten sie ihm er solle die Toten fragen, ob sie ihm Löcher in die Arme und ins Herz machen würde, denn vielleicht gäbe es hier die Antworten, die sie ihm nicht geben konnten. Wiederkehrende Stunden später lag er im Grab einer roten samt Sitzecke und fühlte sich leicht. Leichter als jemals zuvor. Ihm war schwindelig und schlecht doch er war leicht und froh darüber. Antworten hatte er auch gefunden, allerdings nicht die, die er gesucht hatte. Er wusste jetzt dass viele seinen Weg schon vor ihm beschritten hatten und dass viele schon viel früher an den Ort gekommen waren an dem er sich befand doch meist aus ähnlichen gründen. Sie waren alle dort, weil die Welt keinen Sinn für sie ergab. Sie konnten sich keinen Reim auf alles machen und flohen vor ihrer Ungewissheit. Sie versteckten sich in einer Kammer durch, die die Schemen anderer glitten und manchmal blieben und manchmal nicht. Es war ihnen egal, denn es war ihre Kammer und wichtig war nur, dass sie selbst hier waren und Harry konnte sie verstehen und er hätte beinahe seine Ursprüngliche Frage vergessen, auf die er keine Antwort erhalten hatte. Doch es kam der Tag und die Toten blieben tot, während Harry sich erhob und ans Licht trat. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr los und sah nichts als eine nicht enden wollende Straße vor sich und folgte ihr. Keine Städte lagen an dieser Straße und es wurde immer kälter. Harry überquerte Grenzen ohne es zu merken und er verlor Gefühl für Zeit und Raum. Bilder wurden zu bewegten Szenen vor seinen Augen und verloren sich in der endlosen Weite seiner Gedanken. Langsam wurde Harry nüchtern und bekam Angst alles klar zu sehen und nahm einen tiefen Schluck um seinen Blick wieder mit Leichentüchern zu bedecken und es gelang. Doch nicht ganz. Die Szenen, die nun schon einmal da waren gingen nicht mehr ganz fort. Sie wollten nicht mehr verschwinden und sie wollten betrachtet und gelebt werden. Spielende Kinder, die lachten und dann nicht mehr. Feste die gefeierte wurden und schön waren, ohne dass sich Flaschen leerten und füllten und dann nicht mehr. Gesichter, die sich in die Augen starrten und Mägen, die sich vor Freude und Aufregung verkrampften und die sich vor Erleichterung entspannten. Augen die sagten „bleib doch hier“ und solche die sagte „das werde ich“ und dann nicht mehr. Oder waren es nur Gehirne, die sich Gesichter wünschten, die sich in die Augen starrten und Augen die sagten „bleib doch hier“ und „das werde ich“. So genau konnte er es nicht trennen. Erinnerungen hatte er davon keine. Vielleicht hatte er sich das schon immer gewünscht und vergessen. Nun lag aber eine Menschenleere, von einer einzigen Straße durchzogene Wildnis vor ihm und er konnte nicht mehr umkehren, zumindest wusste er nicht mehr wie das ging. In seiner Angst für immer auf dieser Straße zu fahren und niemals anzukommen und niemals dort zu sein wo er hin wollte, wo auch immer das sein mochte, riss er das Lenkrad von Seite zu Seite und fühlte wie sich die Reifen vom Asphalt zu lösen begannen, er wieder leicht wurde und sich alles um ihn ins Gegenteil verkehrte. Oben wurde unten, Angst wurde Gewissheit, Hass wurde Liebe, Liebe wurde Hass, Schmerz verschwand und schmerz durchströmte ihn. Sein Unwille wurde Wille und er wurde Müde. Hitze wurde Kälte und Qualen wurden zu Erlösung und sein Wille sein Ziel zu erreichen wurde zu einem unbändigen Verlangen zurück zu kehren, dorthin wo alles begonnen hatte und sein Leben noch einmal leben zu können. Er war sich nun nicht sicher, was er hätte anders gemacht. Vielleicht gar nichts. Kälte wurde Eis und Erlösung wurde Dunkelheit. Alles wurde Nichts.
 



 
Oben Unten