Das Glasschach

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parallelwelt

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Der Alarm trieb uns in die Bunker.
Obwohl ich nachdenken musste und deswegen keinen Kopf dafür hatte zwischen Dutzenden, angstschwitzenden Menschen zu sterben, wurde ich von einem besorgt aussehenden Mann mitgezerrt. Die Bomben zerrissen unsere Trommelfelle und wir spürten jede einzelne Bewegung der schwankenden, alters- und kriegsschwachen Häuser.
Die zitternde Alte, die neben mir kauerte, ordnete mit rührender Bestimmtheit und Sorgfalt ihre Rockfalten und fing dann an den mitgebrachten Rosenkranz zu beten. Ihre gichtgekrümten Finger konnten kaum die Perlen festhalten und manchmal sank ihr vor Furcht der Kopf zurück und das panische Weiß ihrer Augen leuchtete im Halbdunkel. Ich hörte ihr Herz klopfen, doch dann merkte ich, dass ihre leise Stimme seltsam ruhig und friedlich klang, fast lächelnd.
\"Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes.\" Amen.
Ich fühlte die Schachfiguren meines Vaters in meiner Manteltasche und tastete sie haltsuchend ab. Seit er verschollen war, trug ich sie überall mit mir herum, denn sie erinnerten mich an ihn, er hatte sie selbst aus buntem Glas angefertigt. Als er noch in der Glasbläserei gearbeitet hatte und kein Soldat gewesen war, bevor der Krieg ihn mir genommen hatte.
In dem Moment, als eine Bombe in das Gebäude über mir einschlug und ich die Hände aus den Taschen riss, um mich vor den zusammenbrechenden Gemäuerbrocken zu schützen, genau in diesem Moment ließ ich den König fallen und er zerschlug hell auf dem dreckverschmierten Steinboden. Und dieser Klang, dieser wunderschöne, türenöffnende Singen hing über dem dumpfen Brüllen des verletzten Hauses.

Nachdem ich wieder zu mir gekommen war, herrschte nur erstickte Stille und Finsternis um mich herum und ich spürte körperlich, dass mir irgend etwas abhanden gekommen war. Kurze Zeit später bemerkte ich, dass es meine Freiheit war, die ich vermisste. Hustend versuchte ich mich zu rühren und zuckte vor Qual zusammen, denn meine Rippen brannten, als ständen sie in Flammen. Erschöpft sackte ich zurück und wartete. Auf was, wusste ich selber nicht. Vielleicht auf ein Wunder. Ich glaubte mich vage daran zu erinnern, dass heute Weihnachten war. Irgend etwas zwitscherte in meinem Gedächtnis, immer weiter, bis es sich formierte und zu der alten Melodie eines bekannten Chopins wurde.
Wahrscheinlich hörten andere Menschen in solchen Situationen Texte wie \"Don’t give up\", doch mein Lied spielte \"No man but a snowman\". Mein irres Lachen beförderte den Schmerz in meine Sinne zurück und ich wurde wohl wieder bewusstlos, denn sogar der kleine blinkende Stern, den ich durch ein Loch über mir wahrnahm, verschwand in tiefe Dunkelheit.

\"Schlucken!\", befahl eine knurrende Stimme und ich erstickte fast an einem unglaublich scharfem Getränk, das ich nach einigen Sekunden als reinen Wodka identifizierte.
\"Willst du mich umbringen?\", keuchte ich heiser und rang nach Atem, worauf der andere nur amüsiert grinste. Darauf wartend, dass das belebende Brennen in meiner Kehle einer angenehmen Wärme wich, setzte ich mich mühsam auf und mir wurde klar, dass ich mich zusammen mit noch einem Heimatlosen vor einem überdachten Hauseingang befand.
\"Scheiße, tut das weh!\", zog ich zischend die Luft durch die Zähne. Der Fremde neben mir musterte mich gelassen.
\"Du hattest ‘ne Menge Scherben im Bauch und in der Brust stecken... Hat ganz schön geblutet. Was war das denn ? Eigentlich müsstest du zu alt dafür sein, Granatsplitter zu sammeln...\"
\"Das war ein Glasschach...\", murmelte ich niedergeschlagen und holte den Rest der Bruchstücke aus den zerfetzten Manteltaschen. Schluckend betrachtete ich sie und unterdrückte ein unkontrolliertes Aufschluchzen.
\"Ich heiße Luke. Hab dich aus dem Trümmerhaufen geholt.\" Der andere reichte mir die eiskalte Hand. Es fing an zu schneien, dicke, weiche Flocken, die die Oberfläche des Leides überdecken würden. Der Anblick des Schnees machte mich froh und ich genoss es, ihn einatmen zu können.
\"Pedro. Vielen Dank. Ich dachte schon, ich würde an Weihnachten zu einem Engel werden...\"
\"Das wollte ich dir noch nicht gönnen, Kumpel... Hast du eine Zigarette ?\"
Wir teilten uns eine und wärmten uns an der kurzen Glut des Streichholzes. Es war wirklich bitterkalt. Der fahle Ausdruck auf Lukes hagerem Gesicht machte mir Sorgen, deswegen wandte ich den Blick ab und starrte auf die lichterverwehte, dunkel friedliche Straße vor uns.
\"Weißt du, ich hab mal irgendwo gelesen, dass der Schnee die einzige Möglichkeit ist, den Himmel der Erde nahezubringen. Die Grenzen verwischen und alles ist in die gleiche Helligkeit getaucht.\" Seine Stimme brach ab und ich starrte und starrte. Und fror, dachte an den zerbrochenen König, den ich losgelassen hatte, ohne dass ich es wollte.
\"Vielleicht eher Finsternis\", sagte ich dann. \"Vielleicht ist der Erde im Moment, zu dieser Zeit die Hölle näher.\"
Er schwieg. Ich beobachtete den Rauch der Zigaretten, sah ihn sich mit unserem Atem vermischen. So kristallklar und durch die Kälte vernebelt.
\"Es ist der Himmel\", flüsterte Luke schließlich, so leise, dass ich ihn kaum verstand. \"Ich glaube, dass es gerade zu solchen Zeiten der Himmel ist. Heute ist die Heilige Nacht...\"
\"Ja.\" Mehr brachte ich nicht heraus. Stille Nacht, heilige Nacht. Uns ist ein Kind geboren. Ein Kind, das in einer Nacht wie dieser vielleicht umkommen würde. Und wenn sie ihm auch noch so geweiht wäre.

Irgendwann im Morgengrauen bemerkte ich, dass Lukes geöffnete Augen mit einer feinen Eisschicht überzogen waren. Ich versuchte sie zu schließen, doch er war schon zu kalt und meine Finger zu steif, um sie bewegen zu können. Sein Leben für meines. Ganz sacht und leise.
Nachdem ich mich hochgezogen hatte, sah ich auf meinen neuen Freund nieder und mein Herz hämmerte wie verrückt, als wolle es schreien und konnte nicht. Mir entfuhr nur ein krampfhaftes \"Arrgh!\" zwischen zusammengebissenen Zähnen und ich wandte mich ab, schleppte mich davon, ohne mich umzudrehen. Meine Scherben ließ ich bei ihm zurück.

In dem Augenblick wünschte ich mir so sehr, dass es seinen Himmel wirklich gab, genauso wie ich wusste, dass es meine Hölle gab.
 
Hallo parallelwelt!

Herzlich Willkommen in der Leselupe! :)

Deine Erzählung hat mir sehr gut gefallen. Sowohl von der Handlung als auch sprachlich. Ich finde, man kann sich beim Lesen sehr gut in die Lage hineinversetzen und mitfühlen.


Zwei Dinge sind mir aber aufgefallen:

Als er verschüttet wird, heißt es, seine Rippen schmerzten ihm. Nach der Rettung ist jedoch nur von den Gassplitter im Bauch die Rede. Das passt nicht so ganz. Vielleicht könnte man die Erzählung noch dahingehend erweitern, dass er sich auch noch etwas an der Brust verletzt hat.

Das Ende würde mir persönlich besser gefallen, wenn du den Teil weglassen würdest:
Mir entfuhr nur ein krampfhaftes \"Arrgh!\" zwischen zusammengebissenen Zähnen
Das ist alles, was mir aufgefallen ist. Aber das sind nur Kleinigkeiten. Ansonsten, wie gesagt, gut gelungen.

Gruss,
oliver
 

parallelwelt

Mitglied
Hallo Oliver,
Vielen Dank für deine Kritik! So viel Lob hab ich gar nicht erwartet...

Mit den Rippen und dann die Bauchverletzung: da hast du Recht. Ich glaube, beim Schreiben der Geschichte wollte ich später noch erklärend mit einfügen, dass er sich ein paar Rippen gebrochen hatte und hab das dann vergessen, weil mir dann wiederum das Glasschach eingefallen ist, dass ich noch mit reinbringen wollte.
Du siehst, ich war ziemlich vertieft. *g*
 



 
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