Das Grillfest

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DAS GRILLFEST
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Sein Blick wandert über die weiß-getünchte Fassade, wandert langsam die Fensterreihen entlang. Hier ein Rosenbeet, da ein Halbkreis niedriger Tannen. Man hört die Geräusche eines Rasensprengers, in der Ferne das leise, beruhigende Zischen einer Laubmaschine – öffentliches Idyll. Nur das weiße Mietshaus ist zu sehen, sonnenbestrahlt, umzingelt von Grünflächen, kleine Wege dazwischen.
Er ist hier oben hinter seinem Fenster. Es ist gekippt, so strömt die warme Abendluft in den gelb gestrichenen Raum. Im Garten des ansehnlichen Nachbarhauses wird gegrillt, man riecht es. Jeder Windstoß treibt den herrlichen Wurstgeruch an seiner Nase vorbei. Jetzt ist das Toben der Kinder zu hören, man hört die Frauen, die Teller hinaus zu den Holztischen schleppen, die lachenden Männer am Grill.
Seine Frau liegt still auf dem breiten Ehebett, bekommt von alledem nichts mit. Sie trägt den gelben Bademantel, den er so liebt, deshalb hat sie ihn angezogen, wegen ihm. Wie sehr sie sich lieben, bei jedem Atemzug dieser Gedanke. Er dreht sich wieder ruhig zum Fenster, wird sie nicht stören, wird sie nicht wecken. Sie wohnen seit zwei Jahren hier im Neubaugebiet, hier hoch oben im dritten Stock. Eine schöne Wohnung, nichts besonderes, hier hat beinahe jeder eine schöne Wohnung. Man kann von hier oben in etliche Wohnungen blicken, vieles sehen.
Gerade legt die nette Frau Schallmayer aus dem Erdgeschoss des Nachbarhauses zum Beispiel den Rückwärtsgang ein, winkt den Grillenden zu, dann mit einem Ruck die lange Auffahrt hinunter. Da überfährt sie beinahe den Grund des Grillfests, das Geburtstagskind nämlich. Der kleine Peter Peters kann mit seinem Rollstuhl gerade ausweichen, macht einen großen Bogen um das heranrauschende Heck. Kein Fluch, keine wilden Gesten – er lächelt ihr zu, ein kurzer Gruß. Man kennt sich hier, man mag sich. Frau Schallmayer ist die rasanteste Ausparkerin in der ganzen Siedlung. Wäre Ausparken eine olympische Disziplin, Frau Schallmayer und ihr Fiat Punto, Farbton Metallic-Rost, würden vom Nationalen Olympischen Komitee sicherlich direkt nach New York, Paris oder Leipzig verfrachtet werden.
Er selbst hat kein Auto. Wieso auch? Zur Arbeit sind es nur ein paar Gehminuten, direkt die Straße hinunter am Mietshaus vorbei, von hier oben also nicht zu sehen. Dort sortiert er diverse Umschläge, erahnt ihren Inhalt, schnappt sich dann seine Tasche und verteilt die Post mit dem Fahrrad, sieht in der Mittagspause sogar manchmal seine Frau. Wieso also ein Auto? Er mag seinen Beruf, mag sein Umfeld, mag die Gespräche.
„Hallo, Herr Peters, schöner Tag heute, wie?
„Haben sie etwas für mich?“
„Zwei Briefe.“ Es waren die Rechung eines Blumenhändlers und ein Strafmandat wegen zu schnellem Fahrens, das eigentlich nicht an ihn, sondern an seine Frau gerichtet sein sollte – 72km/h, anbei ein hübsches Foto. Herr Peters fährt kein Auto mehr, hat ein Trauma.
„Danke. Wenn sie möchten, wir veranstalten morgen ein Grillfest, unser Sohn hat Geburtstag. Kommen sie doch mit ihrer Frau.“
„Gerne. Wir kommen gerne. Ich liebe diesen herrlichen Wurstgeruch.“
Durch das Fenster hat man einen wunderbaren Blick auf das weiße Mietshaus, im dritten Stock beispielsweise das Badezimmerfenster einer italienischen Familie. Die sind zwar nicht hübsch, bisweilen aber nackt. Der Italiener hat vier Töchter, zwei Söhne - das reicht, eine nackte Brust hier, ein paar italienische Beine da. Vor ein paar Wochen musste sich ein Freund der ältesten Tochter im Badezimmer verstecken, weil das betrunkene Familienoberhaupt nach Hause kam. Diesmal hämmerte er den Kopf seiner Ältesten, wohl weil ihm einfach danach war, gegen einen Türrahmen, während ihr Freund gerade im Badezimmer ins Waschbecken onanierte. Bizarre Szene. Der Briefträger mag keine Italiener, geschweige denn deren Freunde. Flüche, die er nicht versteht, Briefe, die er nicht lesen kann.
Jetzt klingelt das Telefon, es ist sicherlich Herr Peters. Doch er wird nicht abheben, denkt gar nicht da daran! Soll sich doch der Anrufbeantworter darum kümmern. Was soll man einem einbeinigen Kind auch schon zum Geburtstag schenken? Einen Fußball? Ein Paar Schlittschuhe? Er hat ein Hüpfseil gekauft, seine Frau findet das unpassend. Wieso unpassend? Wenn der Kleine rollen kann, wird er auch das Hüpfen lernen.
„Wir sind momentan leider nicht im Haus oder haben keine Lust abzuheben.“ Diese gnadenlose Ehrlichkeit. „Sie können uns aber eine Nachricht hinterlassen.“
„Hallo, ich grüße sie. Wir sind hier drüben und grillen gerade, kommen sie einfach rüber. Genug Würste und Steaks sind da. Wir freuen uns aber über Getränke.“ Ein Lachen im Hintergrund. „Also, wäre schön, wenn wir uns sehen.“
Er wird nicht zum Grillfest gehen, der Grund ist nicht das unpassende Geschenk, der Grund ist Herr Peters. Der nette Nachbar kam bei 140km/h mit seinem Fahrzeug früher einmal ins Schleudern, der Airbag wuchtete die gegen das Handschuhfach gedrückten Füße des Sohnes Richtung Oberkörper – jetzt erzählt Herr Peters allen von einem Trauma, will nie wieder Auto fahren, dabei hat er den Führerschein vor Gericht verloren - er geht sogar in Revision. Diese Verlogenheit! Kann man einen Mann mögen, der für den amputierten Unterschenkel seines Sohnes verantwortlich ist, kann man einen Vater mögen, der Peters heißt und seinen Sohn dann Peter tauft? Alltägliche Grausamkeiten. Es gibt viele Gründe Menschen zu hassen, gerade deshalb sollte man alles über sie wissen, findet der Briefträger.
Sein Schlafzimmer ist gelb gestrichen, neben dem Bett ein Schränkchen, darauf ein angeschalteter Fernseher, kein Videorekorder, kein Zubehör. Seine Frau hat überall im Haus Fernseher positioniert, schaut Serien, Filme, Serien, dann wieder mal Filme. In der Küche über der Spüle, im Esszimmer mittig auf dem Holztisch, natürlich im Wohnzimmer, und eben hier im Schlafzimmer. Sie hat geduscht, das französische Markenparfüm aufgetragen. Jetzt liegt sie da in ihrem Bademantel, die Haare schon trocken. Wäre das Fenster nicht offen, wäre der Geruch ihres wundervollen Parfüms überall, so mischt sich der teure Duft eben mit dem Aroma eines Schweinesteaks.
Aber was ist das? In einer Querstraße neben dem Mietshaus spielen zwei Jungs Fußball, zwei Cola-Büchsen als Pfosten, eine der Ball, der junge Peters im Rollstuhl gibt den Schiedsrichter. Sie rennen und toben und treten das hilflose Aluminiumgefäß durch die Gegend, kennen keinen Dosenpfand. Da kommt Herr Hintze vom Grill herüber, hebt drohend sein Wurstbrötchen, greift dann seine Gartenschere. Seine Tochter nennt ihn nur „Der Alte“, wenn sie ihrer besten, nie antwortenden Freundin von der Aufteilung des Erbes berichtet, macht sich über seinen hoffentlich kommenden Tod Gedanken. Mit freundlichen Grüßen.
„Hört auf, ihr Bälger! Das hier ist doch kein Bolzplatz!“ schreit er wahrscheinlich, doch der Briefträger kann hier hoch oben im dritten Stock nichts hören. Die Kinder beraten sich nun. Der kleine Tom, 12, bekommt von seiner Oma jedes Jahr 50 Mark, jetzt 100 Euro zum Geburtstag geschickt, Umrechnungskurse der Rentner. Die verwirrte Frau wohnt in der Stadt, Altbau, Altenheim – wird zum Muttertag alljährlich aus ihrer engen, wohl nach alter Frau riechenden Wohnung gezogen und hier her zu einem Familientreffen gekarrt.
„Wie geht es dir, Mutter?“
„Gut, mein Kind, gut. Wie lieb ich dich hab.“
Dann zurück, zurück in die Wohnung. Alle Jahre wieder. Den zweiten Jungen kennt er nicht, nicht aus der Siedlung, nicht aus seinem Zustellungsgebiet. Jetzt verschwindet das Duo, ergreift die Flucht, während Peter Peters zurück zum Fest rollt. Wie unglücklich er schaut – keine Freunde, kein Hüpfseil, kein rechter Unterschenkel. Jaja, das Leben.
Wieder zieht der Geruch des Schnitzels am lackierten Fensterrahmen, dann an der Nase des Briefträgers vorbei. Er dreht sich wieder zu seiner Frau, blickt auf ihre zarten Hände, mit denen sie so gefühlvoll seinen Nacken streicheln kann. Sie lieben sich so sehr.
Eigentlich merkwürdig, dass Herr Hintze so in Rage ist, sogar zur Gartenschere greift. Eigentlich scheint er Jungs doch zu mögen, der Herr Hintze. Die besten Jungs weit und breit, schaut sie euch an, was sie lecken und schlecken. Der Briefträger hat geschaut, das Videoband dauerte genau sechzig Minuten. Fünf dieser Jungs stehen da, alle nackt, alle zwischen zehn und zwölf – sie greifen sich gegenseitig an den Penis oder nehmen ihn in den Mund, werden vom Kameramann animiert. Das Paket war an Herr Hintze adressiert, jetzt liegen die Bänder in einem Geheimfach im Schuhschrank des Briefträgers. Seine Frau muss ja nichts davon wissen, er kann ja auch mal ein Geheimnis haben, es gibt viele Geheimnisse in der Siedlung. Der Ehrlichste ist eigentlich der fluchende Italiener, der keinen Hehl daraus macht, dass er die Köpfe seiner Liebsten gerne mal gegen einen Türrahmen, einen Küchenschrank oder sonstige harte Objekte rammt. Das ist verzeihlich, findet der Briefträger, schließlich laufen in Rom unzählige von der Sorte herum.
Mit einem lauten Brummen meldet sich Frau Schallmayer jetzt wieder zurück, ihr Fiat schießt die Auffahrt hoch, bleibt mit einem Ruck stehen, diesmal ist der junge Rollstuhlfahrer glücklicherweise nicht in der Nähe. Sie steigt aus, ein hastiger Sprung über das Rosenbeet, verschwindet dann hinter der Glaspforte, die ins Treppenhaus führt, rasch an den Briefkästen vorbei. Hat wohl etwas vergessen, wieder einmal, ist sehr vergesslich dieses Jahr. Keine Postkarte aus dem Urlaub an ihre große Liebe, den Herrn Kratz zwei Häuser weiter, auch keine Karte an ihren Ehemann. Der Zahnarzt hat auch schon zweimal gemahnt, sie hat das Geld für die Kronen noch immer nicht überwiesen. Vielleicht liegt es am Stress, sie macht jetzt ein Fernstudium, hat sich schon einige Broschüren schicken lassen. Fortbildung! Hoffentlich lohnt es sich, die Umschläge sind dick und schwer, jedes Mal Schweißperlen auf der Stirn des Briefträgers – kopiert hat er sich nichts, auch nicht alle Umschläge mit dem Stempel der Fernuniversität geöffnet. Sie bekommt die Briefe sofort, nicht einen Tag später, nicht in den schicken, neuen Umschlägen, die in den meisten Briefkästen in seinem Zustellungsgebiet liegen. Dann soll sie halt lernen. Er liest ihre Briefe nicht mehr, wird einfach gar keine Briefe mehr lesen – soll Herr Hintze doch seine Filme gucken, soll der kleine Peters doch vorm Fenster unter das Auto von Frau Schallmayer kommen – sollen doch alle machen, was sie wollen.
Spielt jetzt alles keine Rolle mehr. Er dreht sich wieder zum Ehebett, das Welt vorm Fenster nur noch nebensächlich. Er hasst diesen Bademantel, hasst seine Frau. Sie trägt ihn, weil er ihn liebt, deshalb. Er hat sie in seinem Auto gesehen, der Mercedes mit 72km/h, hat sie in seiner Wohnung gesehen. Ihre Hand streichelt langsam über den behaarten Nacken, kräuselt das Haar. Der arme, traumatisierte Herr Peters will nicht in das Bild des Briefträgers passen, er findet keinen Rahmen für ihn – nur seine Stimme ist zu hören, das Lachen als ein Schweinesteak ins trockene Gras fällt. Wie ruhig sie daliegt, still, bekommt von alledem nichts mit. Die zerbrochene Parfümflasche ragt zur Hälfte aus ihrem Hals heraus, daran angetrocknetes Blut. Die Augen geschlossen, für immer, der Kopf angewinkelt.
Er blickt ins Nirgendwo, hinaus auf das weiße Mietshaus. Die Augen geöffnet, hängt er an dem festen Seil, baumelt. Unter ihm der schon lange umgekippte Stuhl, irgendwo im Treppenhaus Kinder, die eine Wurst ergattert haben. Spielt keine Rolle mehr.
 

miholt

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Lieber Andreas!

Die Idee und das Ende gefällt mir ganz gut. Ich glaube aber, sprachlich gäbe es noch einiges zu tun. Der Anfang ist etwas holperig. Klingt zu platt formuliert für die gute Idee. Oft scheint die Sprache banal, liest sich wie etwas Triviales, obschon Du, glaube ich, keine triviale Geschichte schreiben wolltest und eigentlich auch nicht hast. Der Stil insgesamt dürfte m.E. dem Thema angemessen etwas ernsthafter, ruhiger sein. Könnte es auch sein, dass Du die Geschichte mit Einzelheiten überfrachtet hast, die eher vom Thema ablenken, um Kritik reinzupacken? Klingt jetzt von mir platt, ist aber ernst gemeint: Manchmal ist weniger mehr.

Ferner: Du erläuterst öfter mal den Text an Stellen, an denen er sich selbst erklärt. Mich als Leser stört das. Ich denke dann: Entweder der Autor traut mir nicht zu, ihn zu verstehen (hält mich also für doof, das nehme ich ihm übel) oder er traut seiner Ausdruckskraft nicht recht über den Weg. Beides finde ich nicht gut. Beispiel: „Diesmal hämmerte er den Kopf seiner Ältesten, wohl weil ihm einfach danach war, gegen einen Türrahmen, während ihr Freund gerade im Badezimmer ins Waschbecken onanierte. Bizarre Szene.“ Na ja, das diese Szene bizarr ist merkt man auch ohne Erklärung, oder? Überhaupt die Formulierungen, die den Intimbereich betreffen. Mein Geschmack ist solche Direktheit nicht. Jetzt fällt mir auch auf, was mich insgesamt etwas stört: Subtilerer Stil und Ausdrucksweise wäre m.E. für das Thema besser.

Oh weh, jetzt habe ich so viel gemeckert, ohne es besser zu können. Nein, das Thema wäre eine Überarbeitung wert.

Ganz zum Schluss noch was technisches: Es muss m.E. „Miethaus“ heißen und nicht „Mietshaus“. Wenn gegrillt wird (ich wohne jetzt in Thüringen, da ist das Volkssport) riecht es weder nach Wurst noch nach Schnitzel, sondern nach verbrennender Holzkohle und verdampfenden Fett (riecht super, wenn man dazu was trinkt und nicht drin schlafen muss, aber eben nicht nach Wurst).

LG miholt
 
Danke für die Kritik, miholt.

Ich muss einräumen, dass du vollkommen Recht hast. Sprachlich auf einem niedrigen Level - da der Text zwei Jahre alt ist und man sich ja (hoffentlich) weiter entwickelt, muss ich das heute auch sagen.

Ich habe versucht einen Stil zu verwenden, der an manchen Stellen zwar eine gewollte Komik erzeugt, insgesamt stört er aber den Lesefluss. Außerdem wirken einige Formulierungen stark aufgesetzt.

Ich werde mir den Text in den nächsten Wochen mal anschauen und versuchen ihn zu verbessern. Ihn kompakter gestalten, auf zwei drei Sachen verzichten, die Erzählstimme ändern.

Vielen Dank nochmal.
 



 
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