Das Handikap

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Raniero

Textablader
Das Handikap

Als Monika Grindeisen die Partnerschaftsanzeigen des Lokalteiles ihrer Tageszeitung durchblätterte, fiel stach ihr die nachfolgende Annonce quasi direkt in die Augen:

Vergnügter Witwer, 82 Jahre, nicht unstattlich, wünscht potenzielle Herzensdame, nicht unter 75, zwecks Aufbaues einer mittelfristigen Beziehung kennen zu lernen. die u. gegebenen Umständen in den Hafen einer Ehe münden könnte.
Liebe Leserin, wenn mein Herzenswunsch sich mit dem deinigen trifft, so melde Dich bitte umgehend, Du weiß ja, allzuviel Zeit bleibt uns wohl nicht mehr.

„Da hat er nicht ganz unrecht, der Gute“, lachte Monika.
Amüsiert wollte sie das Blatt aus der Hand legen, als ihr ein sehr klein gedruckter Zusatz auffiel, in der Art wie das Kleingedruckte, das bei zahllosen Dokumenten die großspurigen Versprechungen zu Versprechern mutieren lässt.
In erheblich kleineren Lettern las sie, nachdem sie vorher extra eine besonders starke Lesebrille ihrer verstorbenen Mutter herausgekramt hatte:

Liebe Unbekannte, bevor Du Dich mit dem Gedanken trägst, mir zu antworten, lass Dir noch ein kleines Geheimnis anvertrauen; ich lebe nicht ganz allein auf dem Erdenrund, ich habe noch einen leiblichen Sohn; diese Tatsache allein wäre vielleicht nicht unbedingt erwähnenswert, wirst Du vielleicht meinen, aber da gibt es noch ein kleines zusätzliches Handikap: Mein leiblicher Sohn ist älter als ich!

Verwirrt ließ Monika die Zeitung sinken.
‚Was soll das denn?’ dachte sie, ‚so etwas habe ich ja noch nie gehört!’

Es war nicht die erste dieser Partnerschaftsanzeigen, die Monika Grindeisen ausgiebig studierte, im Gegenteil. Seit dem Ableben ihres Ehemannes Friedhelm vor fünf Jahren hatte sie damit begonnen, zuerst zaghaft, als schäme sie sich ein wenig eingedenk der Möglichkeit, dass ihr dahingeschiedener, der sie bestimmt von oben beobachtete – oder von unten, da war sie sich nicht so ganz sicher – dieses gutheißen würde, kaum dass er den Löffel, wie man umgangssprachlich sagt, abgegeben hatte.
Dann aber sagte sie sich schließlich, davon werde er auch nicht mehr lebendig, der Gute, und so hatte Monika es sich nach und nach zur Gewohnheit gemacht, diese Annoncen zu lesen, und im Laufe der Zeit waren ihr nicht wenige an Stilblüten reiche Texte begegnet, mit denen männliche Zeitgenossen auf sich aufmerksam machen wollten.
Allerdings war ihr hierbei noch keine untergekommen, die sie ernsthaft in Erwägung gezogen, geschweige denn darauf geantwortet hätte.

Diese Annonce aber, die hatte nicht nur ihr Interesse erregt, sondern zog sie regelrecht in den Bann.
Erneut las sie die Anzeige durch. Sie konnte es nicht fassen.
‚Das gibt’s doch gar nicht’ sagte sie sich, und versuchte, den Text zu begreifen.
‚Also, da sucht ein vergnügter Witwer, wie er sich nennt, ein zweiundachtzigjähriger Mann eine Frau nicht unter fünfundsiebzig Jahren, soweit so gut. Ich bin zwar erst vierundsiebzig, doch über das eine Jahr wird er ja wohl noch hinwegkommen. Dann aber bringt der Alte auch noch einen Sohn mit in die Ehe, und, als wenn das nicht genug wäre, einen wie er schreibt, leiblichen Sohn, der älter ist, als er selbst.’

Monika legte ihre Stirn in Falten.
„Wie ist das zu verstehen?“ fragte sie sich verwirrt. „Einen Stiefsohn, das wäre möglich, aber nur unter der Vorraussetzung, dass er zuvor mit einer Frau verheiratet war, die einen so alten Sohn mitgebracht hat, aber wer nimmt denn eine solche Frau?“
„Ein Adoptivsohn?“ schoss es ihr durch den Kopf.
„Aber nein, das wäre schlichtweg unmöglich, denn wenn der Alte gemeinsam mit seiner Frau einen Sohn adoptiert hätten, dann heißt das doch, dass sie mindestens volljährig gewesen sein müssen, zu dem Zeitpunkt, und dann adoptieren sie einen Mann, der älter ist, als der Adoptierende selbst? Gut, sie hatte schon mal von der Möglichkeit gehört, dass kinderlose Adelige, um den Titel zu erhalten, selbst erwachsene Personen adoptiert hatten, aber die waren im Regelfall alle nicht älter als der Erblasser.“

Dann aber erinnerte sich Monika, dass in der Anzeige klar und deutlich von einem leiblichen Sohn die Rede war, und ihre Verwirrung nahm kein Ende.
‚So was ist ja gar nicht möglich, rein biologisch’, lautete ihr Fazit schließlich, und sie beschloss, diesen Alten kennen zu lernen, ‚diesen Alten und vor allem seinen leiblichen Sohn.’
Umgehend antwortete sie auf die chiffrierte Anzeige und bald schon erfolgte eine Reaktion des vergnügten Witwers; er und sein leiblicher Sohn könne es kaum erwarten, sie in die Arme zu schließen.
Monikas Herz raste regelrecht, als sie einige Tage später den vorgeschlagenen Treffpunkt, ein größeres Cafe in der Nachbarstadt, aufsuchte.
Als sie das Cafe betrat, traf sie fast der Schlag.
Zahlreiche Tische waren besetzt, jeweils von einer einzigen Dame; all diese Damen im Alter wie Monika trugen gelbe Rosen im Haar, wie sie selbst, offenbar hatte der Alte ein Massenmeeting anberaumt, vielleicht um Kosten zu sparen.
Zuerst wollte Monika auf dem Absatz kehrt machen, doch dann siegte die Neugierde; sie nahm Platz an einem freien Tisch und bestellte einen Cappuccino bei der Kellnerin.

Während sie aus dem Fenster blickte, traute sie ihren Augen nicht.
Ein Reisebus fuhr vor, und diesem entstiegen weitere Damen, ebenfalls in Monikas Alter, mit der obligatorischen Nelke im Haar.
Nach und nach betraten auch diese Damen das Cafe und nahmen an den noch freien Tischen, jeweils einzeln, versteht sich, Platz.
Monika begann sich zu fragen, was dass alles sollte, da plötzlich erschien ein Mann Anfang Achtzig mit einem großen Strauß gelber Nelken auf der Türschwelle.
‚Das muss er sein’, war Monika sich absolut sicher, stattliche Erscheinung, mit einem spitzbübischen Greisenlächeln.
‚Wer so etwas veranstaltet, der muss so aussehen’.

Er war es, in der Tat, und er stellte sich als Bruno Lösendrath vor, und er war nicht allein, ihm folgte im gemächlichen Abstand ein weiterer Mann, Bruno nicht unähnlich doch wesentlich älter, auf einen Stock gestützt, er hatte wohl die Hundert schon eine Weile hinter sich gelassen.
‚Ob er das ist, der Sohn?’ fragte sich Monika, doch dann kam ihr diese Frage doch allzu absurd vor.

Bruno Lösendrath nahm den Uralten nun an die Hand, führte ihn in die Mitte des Lokals, von allen Seiten gut sichtbar, und setzte zu einer kleinen Ansprache an:
„Meine sehr geschätzten Damen, ich begrüße Sie alle, die Sie so zahlreich meiner Einladung gefolgt sind, auf das herzlichste, in meinem und auch in seinem Namen“, wies er auf den Steinalten neben sich.
„Sie werden sicher verstehen“, fuhr er fort, „dass ich im Hinblick auf sein doch recht fortgeschrittenes Alter zu einer kleinen List greifen musste, der nämlich, Sie alle auf einmal einzuladen, denn, wissen Sie, sein Herz“, wies er erneut auf den Methusalem neben sich, „hätte einzelne Termine nicht überstanden, vor allem in dieser Anzahl.“

Ein Raunen ging durch das Cafe.
Dafür hatten die Damen Verständnis, und auch Monikas Entrüstung wandelte sich bei dieser Erklärung zu Mitleid für Brunos Sohn.
Trotzdem aber machte sich eine gewisse Unruhe breit, bei den Damen, offensichtlich wollten oder konnten sie sich es nicht erklären, wie Bruno zu einem solch alten Sohn gekommen sein sollte.
Rufe wurden laut.
Einige fragten nach dem genauen Alter, andere nach dem Vornamen.
„Wie alt ist denn dein Sohn, und wie heißt er?“

Im gleichen Moment betrat ein dritter Mann um die Fünfzig den Raum.
„Mein Sohn heißt Wilfried, da kommt er gerade herein, Sie können selbst mit ihm sprechen.“
Nun wurde es aber den Damen zu bunt.
„Und wer ist der da, der Uralte“, wollten sie wissen.
„Dieser Herr hier“, wies Bruno erneut auf den Mann neben sich, ist mein leiblicher Vater Rudolf, der Mann, den ich beabsichtige, in die Ehe mitzubringen, die Ehe mit einer von Ihnen, meine Damen, sozusagen als Mitgift.“

Nun brach ein mittelgroßer Tumult aus.
Die meisten Damen, die überwiegend nicht in der Absicht hergekommen waren, mit Bruno eine Beziehung einzugehen, sondern um der Aufklärung eines Naturwunders, wie ein leiblicher Sohn älter sein kann als dessen Erzeuger, beizuwohnen, fühlten sich rüde getäuscht und nahmen schmähliche Rache.
Auf der Stelle verließen sie das Cafe, ohne zu bezahlen; das hatte er verdient, der Betrüger.
Nicht alle aber brachen auf, einige mit Humor gesegnete Frauen ließen sich mit erlesenen Speisen und Getränken verwöhnen, auf Kosten des Hauses, selbstredend, unter diesen auch Monika Grindeisen.
Bruno aber machte mitsamt seinem Vater und Sohn Winfried, der sich als Inhaber des Cafes zu erkennen gab, die Runde bei den verbliebenen Damen, und hierbei stellte es sich heraus, dass es der Sohn war, der seinen Vater Bruno zu dieser außergewöhnlichen Partnerschaftsanzeige überredet hatte.
„Es werden viele kommen, überwiegend Neugierige, die sich so ein Schauspiel nicht entgehen lassen“, hatte er richtig vorausgesehen, „die kannst du alle vergessen, aber es werden auch andere kommen, andere, die den Humor haben, auf so eine Anzeige positiv zu reagieren, die sich sagen, wer so eine Anzeige in die Welt setzt, an dem muss irgendetwas Außergewöhnliches sein.“

Damit hatte er gar nicht so Unrecht, der clevere Sohn, und genauso sah dies auch Monika, die bei der öffentlichen Brautschau schließlich obsiegte.
Schnell gewöhnte sie sich auch an den Gedanken, den alten Vater ihres Zukünftigen als Mitgift in die Ehe mit auf den Weg zu bekommen, umgekehrt, gestand sie sich ein, wäre es wohl doch nicht so leicht zu ertragen gewesen.
Vorher aber hatte sie selbst nun für ihren Zukünftigen eine Überraschung bereit.
„Ich habe auch ein Handikap, Bruno“.
„Was ist es denn, Liebste? Meinst du, ich werde es ertragen?“
„Na, hör mal, bei dem Humor, den du bewiesen hast, bestimmt. Hör zu, ich bin eigentlich noch unberührt“.
„Wie bitte?“
Bruno verdrehte die die Augen.
„Sagtest du nicht, du wärest über vierzig Jahre verheiratet gewesen?“
„Das ja, aber in unserer Ehe hat sich nichts abgespielt.“
„Hat sich nichts abgespielt? Was soll das heißen? War er etwa vom anderen Ufer?“
„Nein, nein, das nicht. Betrachte es mal so; wir führten eine reine Versorgungsehe, ich bügelte seine Hemden und er sorgte für meinen
Lebensunterhalt; außerdem war er ja so viel älter als ich…“

Diese Nachricht war schon ein harter Schlag für Bruno; nun stand er da, mit seinen zweiundachtzig Jahren, vor der schweren, aber nicht unlösbaren Aufgabe, eine fünfundsiebzigjährige zu entjungfern. Vielleicht konnte sein Vater ihm ja beistehen, mit indirekter, nicht so sehr mit effektiver Hilfe…
 

Raniero

Textablader
Hallo Tante Oma,

freut mich, dass Dir die Story gefallen hat.
Ist einer meiner skurrilen Texte, die mir bei meiner Sicht nach dem Alltag auf Abwegen einfallen.:)

Herzliche Grüße

Raniero
 



 
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