Das Haus der wilden Schwäne

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Das Haus der wilden Schwäne





In einem von acht Schlafzimmern in der ersten Etage eines Frauenhauses kämpfte Otto Klamke ums nackte Überleben.
„Wir hatten noch nie einen von der Polizei, nicht wahr?“, fragte Rene Lacroix ihre Zimmernachbarin und goss ihr noch ein Glas Wein ein.
„Doch, letztes Jahr im Juni.“ Ihre Zimmernachbarin setzte sich neben Klamke auf das Bett und blies ihm kalten Rauch ins Gesicht.
„Es war ziemlich heiß im Juni, weißt du noch?“
Rene nickte. „Ja“, sagte sie, „und er hat geschwitzt wie ein Schwein.“
„Ja, wie ein Schwein“, antworte ihre Zimmernachbarin. Sie trug nichts weiter als ein schwarzes Seidennachthemd, dessen linker Träger ihr bis zum Ellenbogen hinabgerutscht war. Das schwarze, lange Haar hing ihr über die Schultern und bedeckte ihre linke Brust.
„Gib ihm noch was zu trinken“, sagte sie.
Rene nahm einen Schluck von dem Wein, setze sich zu dem Inspektor ans Bett und flösste ihm den Wein mit den Lippen in den Mund.
„Noch mehr?“, fragte sie. Klamke war zu betrunken, als dass er einen zusammenhängenden Satz herausgebracht hätte. Er versuchte den Kopf zu schütteln, aber der sackte ihm nur auf die Schulter.
„Wie ein kleines Baby“, sagte Rene Lacroix und lächelte. Sie nahm einen weiteren Mund voll Wein und beugte sich über Klamke.
Mit einem leidenschaftlichen Kuss füllte sie ihm den Wein in den Mund.

Auf dem Flur waren Frauenstimmen zu hören. Mal huschten diese Stimmen mit leisem Gekicher vorüber, mal im ernsten Gespräch verhaftet.
„Ja, das Schwein ist immer noch nicht tot!“, hörte man des Öfteren. Und auch; „Warum ist das Schwein noch nicht tot? Warum stirbt er nicht einfach? Warum macht er uns so schwer?“
„Weil er eben ein Schwein ist“, folgte als einfache logische Antwort. Und meistens wurde die Tür zu Klamkes Raum nur einen Spalt weit geöffnet und die Blicke der Frauen musterten Klamke, der nackt, stinkend und sterbend vor sich hin vegetierte.
„Seht euch das Schwein an!“, sagten die Frauen. „Seht euch an, wie er aussieht!“
Klamke röchelte und erbrach sich mindestens ein duzend Mal am Tag. Seine Handgelenke waren von den Handschellen gerötet, die schwarzen Stoppeln seines Bartes juckten und wucherten ihm im ganzen Gesicht herum. Das wenige Haar an den Seiten seiner Halbglatze stand wirr zu allen Seiten ab. Klamke musste tatsächlich wie ein Schwein aussehen, aber das wurde ihm in seinem benebelten Zustand nur allzu selten bewusst.

Die Frauen wechselten das Bettlaken jeden Tag. Sie hielten es ihm hin.
„Sieh dir an, was du gemacht hast, du Schwein“, sagten sie. Und natürlich forderten sie ihn immer wieder auf, zu sterben. Sie fütterten ihn mit Schweinsnacken, stopften ihm das Fett in den Mund, gossen Wein nach. Wenn Klamke zu ersticken drohte, richteten sie seinen aufgedunsenen und geschwächten Oberkörper auf und schlugen ihm wie einem Baby auf den Rücken. Und das alles nur, damit er weiter fressen konnte, saufen, damit er sich weiterhin jeden Tag besudelte, sich erbrach und langsam aber sicher vor sich hinverreckte.
Klamkes Verstand befand sich in ständiger Umnebelung. Anfangs hatte er versucht, sich gegen den Alkohol zu wehren. Auch hatte er in den ersten Wochen mehr vertragen, hatte sich nicht so oft erbrochen und der Durchfall war nur ein kleiner Vorgeschmack dessen gewesen, was ihn später ereilen sollte.
Klamke hatte nur noch einen Gedanken; er wollte leben.

Das Frauenhaus, zu dem weitläufige Gärten und ein kleiner See gehörten, lag etwas außerhalb der Stadt, aber nicht soweit außerhalb, dass man es als abgelegen bezeichnen konnte. Manchmal konnte man das Dröhnen der Lastwagen hören, die nicht weit entfernt auf einer Bundesstraße randalierten. Vögel zwitscherten ungerührt und eine goldbraune Katze scharrte in einem Blumenbeet.
Die junge Frau, die mit ihren Koffern die Einfahrt hinab kam, wirkte gefasst. Ihre Schritte knirschten im Kies und ihre breiten Absätze verhinderten das Einsinken.
Das Frauenhaus wirkte schon auf große Entfernung wie ein Ort der Stille, wie ein Zuhause, das weder Ansprüche stellte noch vereinnahmte. Man konnte gehen und kommen, so schien es. Die Frau blieb einen Augenblick stehen, die Arme glatt nach unten hängend, die schweren Koffer haltend und lies dieses wunderbare Bild auf sich wirken. Sie sah, wie sich die Gardinen in den Fenstern bewegten, wie in dem Haus geschaut wurde, nach ihr natürlich und sie lächelte, weil das ein vertrautes Gefühl war, ein warmes und angenehmes Gefühl; man wartete schon auf sie.
Ihr Blick glitt weiter, über die großen grünen Rasenflächen, die sich zu beiden Seiten des Hauses ausbreiteten, zu schweres, grünes Laub tragenden Ahornbäumen, in deren Schatten knorrige Sitzbänke zum Ausruhen einluden. Auf dem kleinen See, den man teilweise hinter dem Haus sehen konnte, schwamm ein einsamer Schwan.
Das war Sie, dachte die junge Frau etwas wehmütig. Und Erinnerungen wollten sich in ihr zusammenbrauen, wie dunkle, trübsinnige Gewitterwolken. Fast wäre sie, ohne dass sie es wollte, in Tränen ausgebrochen.
Dann aber sah sie, wie sich eine ganze Gruppe von Schwänen hinter dem Haus auf dem See zeigte, wie sie sich auf den einsamen Schwan zu bewegte und sich wie in einem Tanz um ihn versammelte.
Da war es wieder dieses Gefühl und die junge Frau blieb nicht länger stehen, ging weiter auf das Haus zu, im Kies knirschend und lächelte den sich bewegenden Gardinen zu und den Augen, die dahinter ihre Ankunft beobachteten.

„Sie ist schön, nicht wahr?“ Rene saß auf dem Bett, neben dem Inspektor und tippte mit ihrem Zeigefinger gegen den Kolben der Beruhigungsspritze.
„Aber sie ist traurig“, gab die Frau am Fenster zurück. Gedankenverloren schob die den Träger ihres Nachthemdes auf ihre Schulter und ließ die Gardine zurücksinken.
Rene ließ das Serum der Spritze wie eine Fontäne aus der feinen Kanüle schießen, senkte die Nadel hinab und stach in den dicken, aufgequollenen Unterarm des Polizisten.
„Möchtest du nicht hinuntergehen und sie begrüßen?“
Die Frau am Fenster zögerte. Es war warm, fast heiß in dem Zimmer. Trotzdem zeichnete sich auf der Schulter der Frau eine Gänsehaut ab, die einem Reibeisen ähnelte. Sie rieb sich die Schultern und drehte sich zu Rene um. Sie sah, wie sie eben das Serum gefühlskalt und hastig in Klamkes Venen pumpte.
Sie lächelte.
„Ach, wir werden sie schon wieder aufmuntern, nicht wahr, Rene?“
„Aber sicher doch!“, antwortete Rene. Sie löste dem Polizisten die Handfesseln und versteckte sie unter seinem Kopfkissen.
„Hilf mir!“, sagte sie, als sie den schweren Oberkörper des Polizisten aufrichten wollte.
Die beiden Frauen packten den ohnmächtigen Klamke beim Kopf und bei den Schultern und drückten ihn wortlos in eine aufrechte Position. Der Gestank, der sich so mit einem Mal ausbreitete, ließ sie zusammenfahren und stöhnen.
„Mein Gott, wie das stinkt!“, sagte Rene und schüttelte den Kopf.
Ihre Zimmernachbarin musste sich die Nase zuhalten; ihre Augen tränten.
„Bring mir das Nachtzeug!“, befahl Rene. „Und mach das Fenster auf.“
„Oh, ja“, sagte die Frau in dem Seidennachthemd,
„dieser Gestank ist einfach unerträglich.“

Das Frauenhaus glich in seinem Innern einem Opernfoyer. Wenn man die mit rotem Samt bespannten Treppen empor wandelte, denn hier war das menschliche Sein nicht mit gewöhnlichen Begriffen zu umschreiben, glaubte man jeden Moment und hinter der nächsten Tür in einen gewaltigen Opernsaal einzutreten. Man ging nicht, man wandelte; man stand nicht, man verweilte; und man lief auch nicht – die junge Frau in dem Seidennachthemd schloss die Tür zu Klamkes Zimmer und schwebte über den Flur, beugte sich über das dicke und stämmige Geländer aus Mahagoni, sah hinab und sah auch schon die anderen Frauen, die sich hastig im Eingangsbereich versammelten. Allesamt waren sie schön, jede auf ihre Art, allesamt liefen sie nicht, sondern schwebten, flogen und manche erschienen. Sie hörte ihre aufgeregten Stimmen, das fröhliche Gelächter und wurde ganz von dieser Euphorie gefangen genommen. Hastig flog sie die Treppen hinab und taumelte atemlos in die Arme der anderen.
Sie reckte ihren Kopf, versuchte auf die Neue einen ersten Blick zu erhaschen. Die Köpfe der Frauen vor ihr, waren ebenso neugierig emporgereckt, bewegten sich hin und her, so ähnlich wie ein Wald durch den der Wind bläst und ab und zu sah sie durch dieses Wogen hindurch eine Schulter, eine Haarsträhne und dann plötzlich ganz deutlich ein breites Lächeln, ein paar erschrocken, aber nicht verängstigt schauende Augen und schließlich das ganze Gesicht ihrer neuen Mitbewohnerin.
Ihre Verwirrung und ihre Freude waren trotz des Lärms und trotz der Überschwänglichkeit der übrigen Frauen ganz deutlich und auf einer ganz anderen Ebene wahrnehmbar. Sie war nicht laut und man konnte sie trotzdem sprechen hören. Sie stand versteckt und wurde doch plötzlich immer wieder und in ihrer ganzen Schönheit sichtbar. Sie schien überwältigt von der Freude, der ihr Entgegenstürmenden und doch schien ihre eigene, stille Freudigkeit jeden Winkel des Raumes auszufüllen und jedes der Frauenherzen mit ihrer unschuldigen Wärme zu erreichen.
Man kann diesen Augenblick des Kennenlernens, der ohne jede Scheu von statten ging, nur mit den schönsten und unschuldigsten Worten, die der menschliche Wortschatz hergibt beschreiben. Und selbst so schien es dem Augenblick nicht gerecht zu werden. Wie auch sollte man die Brührungen beschreiben, die die Frauen mit der Neuangekommenen austauschten? Das sanfte Ertasten an Schultern und Ellenbögen, wie das Lächeln, wenn sich ihre Gesichter so nah kamen, dass man fast einen Kuss erahnte? Wie sollte man die Blicke beschreiben, die flammten und wie ein bunter Ball hin und her sprangen, wie in einem lustigen Spiel, das keinen Sieger und keinen Verlierer kannte?
Die Frauen nahmen die Neuangekommene in ihre Mitte und wie die Schwäne auf dem kleinen See, schien es, als würden sie sie umtanzen und sie wie in einem Reigen von einer zur nächsten gereichen.
Unzählige Namen wurden genannt, Geschichten wurden erzählt, die nur einen halben Satz lang sein konnten und meistens von einem „später“ oder „wir sehen uns“ beendet wurden. Nicht nur die junge Frau, die eben gerade das Frauenhaus zum ersten Mal betreten hatte, fühlte sich durch dieses Stimmengewirr als würde sie auf einem Karussell fahren, nein alle taumelten wie elektrisiert und drehte sich, drehten sich, drehten sich.
Es dauerte eine wunderbare Ewigkeit, bis die Frau in dem Seidennachthemd, deren Träger wieder bis zu ihrem Ellebogen hinabgerutscht war, plötzlich vor der Neuangekommenen zum Stehen kam, sie bei den Hüften ergreifen wollte, lachte, dann mit der einen Hand ihren Unterarm hielt, mit der anderen – mit den Fingerspitzen der anderen Hand, eine Strähne ihres Haars.
„Ich bin Magda“, rief sie in das laute Durcheinander hinein.
„Hallo, ich bin Nicole, aber nenn mich Nicki!“ Beide lachten, zogen sich an sich und wollten sich durch beherzte Küsse auf die Wangen begrüßen. Die überschwängliche Freude aber, die sie ergriffen hatte, ließ sie sich bei dieser konventionellen Begrüßung schamhaft in die Augen blicken. Das Gelächter, das sie nun ergriff war das von Kindern, die mit einem Mal die falsche Welt der Erwachsenen durchschaut hatten. Von einer Stille und Zufriedenheit ergriffen, die unmöglich von hieraus nachzuvollziehen ist, sahen sie sich in die Augen, ihre Gesichter näherten sich, ihre Lippen …
„WIE ICH SEHE, HABEN WIR UNS SCHON BEKANNT GEMACHT!“
Beide Frauen und alle, die eben noch wie Schwäne umeinander getanzt hatten, blieben wie angewurzelt stehen und starrten hinauf zum dem Mahagonigeländer in der ersten Etage.
Da stand Rene, eine schwarzhaarige Frau, die in ihrer ganzen Schönheit und weiblichen Ausstrahlung nur mit einem Tier, einer Katze, wenn nicht einem Panther zu vergleichen war, lächelte und blickte mildtätig in den Empfangsraum hinab. Sie hatte ihre schönen, schmalen Händen auf dem Geländer abgelegt, stand diszipliniert und aufrecht da und doch konnte nichts von dieser Diszipliniertheit darüber hinwegtäuschen, dass sie ein Mensch voller wilder Gefühle, Mächte und Träume war. Sie war mehr Mensch, als alle hier im Haus.
Eine Stille trat ein, die fast religiösen Charakter hatte. Die Frauen starrten mehrere Augenblicke wie gebannt in die Höhe, bis sie die Neugierde überkam und sie einen Blick auf die Neue zu erhaschen versuchten, wie als wollten sie herausfinden, ob auch sie gebannt und wie angewurzelt in die Höhe und diesem ganz besonderen Menschen sah.
Ja, das tat sie. Und Magda, die den Träger ihres Seidennachthemdes wieder über die Schulter streifte, ließ ihren Blick zwischen beiden hin und herwandern, lächelte, dann wieder nicht und trat schließlich, als hätte sie etwas Falsches getan, einen Schritt von der Neuangekommenen zurück.
Rene lächelte Magda für einen unglaublich intimen aber auch unglaublich kurzen Augenblick zu.
„Magda, wie wäre es, wenn du Nicole ihr neues Zuhause zeigst?“, fragte Rene plötzlich streng und den Blick schon abgewendet. Alle anderen Frauen begannen fast im selben Augenblick vor Enttäuschung aufzustöhnen.
„Nein“, sagte Rene, wie um ihnen ihre Fragen vorwegzunehmen, „Nicole wird sich erst einmal ausruhen und sich ein wenig einrichten. Zu um Acht werden wir essen.“
Das entsprach nun gar nicht dem, was sich die Frauen erhofft hatten. Aber Rene war in solchen Fällen nicht zu widersprechen. Eine betretene Ruhe folgte.
„Warum bereiten die anderen in der Zwischenzeit nicht den Gemeinschaftssaal vor?“
Alle Blicke hellten sich mit einem Mal auf.
„Zu um Neun werden wir Nicole offiziell willkommen heißen. Je früher wir mit den Vorbreitungen beginnen, umso schönen wird das Fest.“
Rene schaute in alle Gesichter.
„Na los, meine Damen, ihr habt mich richtig verstanden.“
Und während die Frauen an der Neuangekommenen vorbei glitten, sich entschuldigten, lachten und ihre Namen in Erinnerung riefen, schaute Rene Lacroix mildtätig aber auch fordernd von oben herab und beaufsichtigte die rasche Aufnahme ihrer gegebenen Anweisungen. Bald hatte sich der Empfangsraum geleert, die Stimmen entfernten sich und Nicole und Magda blieben zurück, Nicole, noch immer zu der schönen Frau im ersten Stock aufschauend, Magda ebenfalls, bis Rene ihr einen Wink gab und sie Nicole bei der Hand nahm.
„Komm, ich zeige dir dein Zimmer“, sagte sie und zog die junge Frau fort.
Rene drehte sich lächelnd um und ging in Richtung von Klamkes Zimmer.

Der Inspektor, dessen Uniformjacke ihm als Windel um die Hüften gebunden war, sah wie die Ausgeburt eines Mannes aus, der eben erst den ersten Schritt von einer wilden Bestie zum Menschen vollzogen hatte. Er röchelte, grunzte und sein Atem stank widerlich nach Erbrochenem und halbverdauten Nahrungsresten. Dieser Gestank wurde bei weitem von seinen eigenen Exkrementen überlagert, der sich mit Wochen altem Schweiß vermischte und als dicke Schwade über seinem Bett hing, wie der Geruch eines langsam verfaulenden aber immer noch lebendigen Wesens, eines Tieres, eines Monsters. Um den Mund schichteten sich dicke Krusten von Nahrung und Speichel, die sich über das Kinn bis auf die dicht behaarte Brust ausbreiteten. Sein dunkler, dichter Bart gab ihm das Aussehen eines Affen, der kaum noch Ähnlichkeiten mit seinem hochintelligenten Nachfahren hatte.
Klamke war das, was man ohnehin schon ein vor Testosteron strotzendes Mannsbild nannte, die Schultern von dickem, gekräuseltem Haar überwuchert, die Unterarme, der Rücken und überhaupt breitete sich an ihm das dichte, schwarze Haar über den ganzen Körper aus, wurde nur lichter auf Bauch und Hüfte und war auf seinem Schädel fast gänzlich verschwunden. In seinem armseligen Zustand musste er auf jeden Zuschauer den Eindruck eines wilden Tieres machen, das weder in der Lage war, zu kommunizieren, noch zu irgendeinem Akt des Willens fähig war. Im Gegenteil, in seinem Zustand wirkte er auf jeden Betrachter nur mehr wie ein wildes Etwas, das vor allem eines war – gefährlich.
Rene Lacroix war, nachdem sie den Empfang der Neuangekommenen in geordnete Bahnen gelenkt hatte, an das Bett dieses Scheusals zurückgekehrt, hatte sich zu ihm gesetzt und eine neue Injektion zubereitet. Sie hatte die Spritze auf einem Teller mit einer weißen Stoffserviette abgelegt und kämmte sich nun, stillschweigend und mit geschlossenen Augen, das lange, schöne, fast schwarze Haar. Sie summte, wiegte sich und angesichts von Klamkes langsamen Sterbens wirkte sie wie eine Puppe, eine Marionette, die unfähig war zu einem Gefühl oder einer Sinneswahrnehmung. Sie hatte sich auf ein weißes Handtuch gesetzt, um nicht mit Klamkes widerlichem Körper und auch nicht mit seinen überall aus ihm ausfließenden Körpersäften in Berührung zu kommen. Ab und zu rutschte sie auf diesem Handtuch hin und her und vergewisserte sich, dass sie auch nirgendwo über dessen Rand kam. Sie lächelte.
„Wir haben eine neue Freundin gefunden“, sagte sie plötzlich freundlich zu Klamke, der sich in diesem Moment erbrach und zu ersticken drohte. Wie in Trance, summend und dabei lächelnd, drehte Rene ihm den Kopf auf die Seite und ließ das Erbrochene aus Klamkes Mund ausfließen.
„Sie ist wirklich hübsch, weißt du?“
Klamke röchelte und Rene versuchte in seinen bis ins Weiß verdrehten Augen irgendeine Form der Intelligenz zu erspähen. Aber da war nichts. Klamke war fort, weit fort und Rene strich über seine Stirn und schüttelte den Kopf.
„Sie könnte deine Tochter sein.“ Ihr Lächeln erstarb.
Mit einemmal drehte sie sich von Klamke fort und begann sich hastig abermals die Haare zu kämmen. Ihre Hände zitterten, die Pupillen unter ihren geschlossenen Augenlidern huschten wie im Remschlaf hin und her.

„BIST DU VERGEWALTIGT WORDEN?“
Nicole hatte gerade ihre Koffer auf dem Boden vor ihrem neuen Bett abgestellt und drehte sich erschrocken um.
„Was?“, fragte sie. Magda sah sie an, als wollte sie mit ihr übers Wäschewaschen reden. Nicole zögerte.
„Ich meine, ich weiß nicht, ob ich darüber reden möchte.“
Magda, die junge Frau in dem Seidennachthemd setzte sich auf Nicoles Bett und legte die Hände in den Schoss.
„Ich verstehe“, sagte sie.
Nicole sah sie unsicher an, sie biss sich auf die Lippen und fragte sich, was sie jetzt sagen sollte.
„Du fragst dich sicher, was du jetzt sagen sollst“, sagte Magda und lächelte.
Nicole entspannte sich.
„Ich weiß nicht, ob ich jetzt überhaupt irgendwas sagen will“, sagte sie. Sie setzte sich zu Magda auf das Bett, saß sehr aufrecht und sehr reserviert und schaute aus dem Fenster auf die blaue, glatte Oberfläche des Sees. Plötzlich spürte sie Magdas Hand an ihrem Hals und wie sie ihren Kopf nahm und ihn gegen ihre Schulter drückte.
„Ich bin auch vergewaltigt worden“, sagte sie.
Magda lächelte und starrte geistesabwesend ins Leere.
„Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst“, flüsterte sie.
„Nicht, wenn du nicht willst.“

Magda führte Nicole mit verbundenen Augen in den großen Festsaal, den man, wie bereits erwähnt, in diesem Haus schon erahnt hatte, ja erahnen musste, als wäre er unzweifelhaft da, auch wenn man das Frauenhaus nur von außen betrachtete, zum ersten Mal und aus sehr großer Entfernung. Nicole stolperte, wurde aber aufgefangen, sie hörte liebenswürdiges Gekicher, lachte selbst und ließ sich führen. Mit einem Mal wurde ihr die Augenbinde abgenommen und sie stand da, sah sich mit großen Augen um und ihr wurde schwindlig.
Alle waren sie gekommen, standen nur eine Armeslänge von ihr entfernt, lachten sie an, lachten einander an und hielten sich bei den Händen. Sie hatten sie eingekreist. Nicole stand in der Mitte des Raumes, in der Mitte dieser Frauen, neben ihr Magda, die sie geführt hatte und sie ergriff instinktiv, nicht ängstlich, sondern bis ins Innerste berührt, deren Hand und drückte sie und wollte nicht mehr aufhören.
„WILLKOMMEN IN UNSERER MITTE!“, hörte sie plötzlich laut die Stimme der Frau, die sie am Nachmittag am Geländer des ersten Stocks gesehen hatte. Der Kreis der Frauen öffnete sich und Rene, die schwarzen Haare zu einem Knoten gebunden, kam lächelnd auf sie zu und umarmte sie.
„Ich bin so froh, dass ich hier sein darf“, sagte Nicole.
Rene sah ihr lange in die Augen, nahm ihren Kopf in beide Hände und nickte.
„Wir auch“, sagte sie lächelnd, „wir sind froh, dass du hier bist.“
Dann ließ sie sie los und Nicole schlug das Herz bis zum Hals, als sich alle Frauen zu ihr drängten, sie umarmten, streichelten, küssten und ihr, jede auf eine etwas andere aber immer sehr besondere Art sagte, wie froh sie seien, dass sie da wäre:
“Ich bin so froh, dass du uns gefunden hast“, sagte die eine. Die nächste: „Schön, dass du bei uns bist.“; „Nicole, ich freue mich, dass du bei uns sein darfst.“; „Weißt du, wie froh ich bin, dass wir dich jetzt haben?“ Und so ging es fort und fort und das Gefühl des Schwindligwerdens wurde nicht weniger sondern mehr. Nicoles Augen begannen zu glänzen und schließlich, als alle sie geherzt und geküsst hatten, stand sie wieder vor Rene, der schönen starken Frau mit den schwarzen Haaren und sank erschöpft in ihre Arme.
„Ich bin so unheimlich glücklich, dass du hier bist“, flüsterte Rene.
Nicole konnte ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten und brach schluchzend in Tränen aus.
„Vor Freude“, brachte sie noch lächelnd hervor.
Rene nickte ihr zu.
„Ganz recht“, sagte sie und wischte ihr mit dem Zeigefinger die Tränen von den roten Wangen. Lange hielt sie sie fest, sah ihr in die Augen und Nicole fühlte sich mit jedem dieser Augenblicke beruhigter, atmete, biss sich auf die Lippen und lächelte.
„Fühlst du dich gut?“, fragte Rene schließlich und ließ ihren wankenden Körper langsam los.
Es wollte aus Nicole herausbrechen, aus ihr hervorsprudeln, dass sie sich noch nie so gut gefühlt hatte, dass sich alles an ihr und in ihr gut anfühlte, dass sie glaubte, gleichzeitig lachen und weinen zu können, dass sie sich stark fühlte und schwach, dass sie am liebsten los geschrieen hätte – aber Nicole nickte nur und schaute Rene mit großen erwartungsvollen Augen an.
„Dann ist es gut“, sagte Rene und sie klatschte plötzlich drei- viermal laut in die Hände.
„WER MUSIK SPIELEN WILL, DER SOLL MUSIK SPIELEN“, rief sie.
„UND WER ETWAS VORZUTRAGEN HAT, DER SOLL ES UNS VORTRAGEN,
NICHT NUR EIN PLATZ IN UNSEREM HAUS IST VON HEUTE NICHT MEHR LEER“,
und sie drehte sich zu Nicole, nahm sie bei den Händen und küsste sie,
„SONDERN AUCH EIN PLATZ IN UNSEREN HERZEN.“

Nicole konnte in dieser Nacht nicht einschlafen. Natürlich war das unmöglich, ihr Herz raste, ihre Gedanken flogen wie Sperlinge innerhalb und außerhalb ihres Verstandes umher. Das hatte sie nicht erwartet, das nicht und auch sonst nichts. Ihr Bauch hüpfte, ihr Rücken kribbelte und sie wälzte sich von einer Seite auf die andere. Manchmal sagte sie sich, dass sie endlich einschlafen müsse, weil Rene allen so deutlich gesagt hatte, dass am morgigen Tag wieder der Alltag auf sie wartete, Arbeit, Geschäftigkeit, LEBEN! Aber sie konnte einfach nicht einschlafen, dazu war der Empfang und die Feier und einfach alles, was sie erlebt hatte, viel zu überwältigend gewesen, hatte sie fortgerissen und so weit empor getragen, dass sie noch immer flog und so hoch und so weit entfernt über ihrem Bett schwebte, dass an eine Landung nicht zu denken war.
Sie stand auf, huschte ans Fenster und sah lächelnd auf den mondbeschienenen See hinab. Da, selbst die Schwäne schliefen in einem geschützten Röhrichthain! Nicole konnte ihr Glück nicht fassen. Sollte sie wirklich ein Teil von allem hier sein? Wie weit in der Vergangenheit lag ihr altes Leben plötzlich, auch wenn es doch nur eine Nacht und einen Tag entfernt war. Ihre Gefühle ließen diese Zeit endlos erscheinen, nein, sogar belanglos, unwichtig, als hätte es sie nie gegeben oder schon immer.
Irgendwo aus dem Inneren ihres Verstandes glaubte Nicole Musik zu hören, oder kam es aus dem Haus? Sie fühlte sich sosehr eins mit sich selbst und diesem Haus, dass es ihr für lange Augenblicke egal war. Sie sah auf den See hinab, in dem sich der Mond spiegelte, lauschte der seltsamen Musik und wiegte sich, sich bei den Schultern fassend, hin und her –
Ein seltsamer Stoss, dessen Vibration ihr unter die Zehennägel kroch und in ihre Oberschenkel wanderte, ließ Nicole sich erschrocken umdrehen. Dieses Gefühl jetzt passte so gar nicht zu der Zufriedenheit, in der sie noch eben in der Dunkelheit geschwelgt hatte. Ihr wurde bewusst, dass die Musik, der sie gedankenverloren gelauscht hatte, nicht aus ihrem Kopf gekommen war, ebenso wie die Vibration, die sie gespürt hatte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, der das ganze Haus, wie mit einem Mal, wie mit einem kalt übergegossenen Eimer Wasser, in einen unheimlichen Ort verwandelte. Sie drehte sich um und sah, dass die Schwäne, die noch vor wenigen Minuten schlafend an der Wasseroberfläche getrieben hatten, verschwunden waren. Der mondbeschienene See wirkte kalt und totenstill.

Rene stand neben Klamkes Bett und hielt seinen Kopf bei den wenigen Haaren, die um das Halbrund seines kahlen Schädels in alle Richtungen abstanden. Klamke grunzte und die Frauen, die sich alle in dem kleinen Raum versammelt hatten, wandten sich angewidert ab.
Der Polizist war jetzt soweit wach, dass sie ihm wieder die Handfesseln anlegen mussten. Das Beruhigungsmittel hatte aufgehört zu wirken und in das rot unterlaufene Weiß seiner Augen kehrten zuckend und in Tränenflüssigkeit schwimmend die graugrünen Pupillen zurück.
Klamke stand Schaum vor dem Mund.
„WER MUSIK MACHEN WILL, DER SOLL MUSIK MACHEN“, sagte Rene Lacroix,
“UND WER ETWAS VORZUTRAGEN HAT, DER SOLL ES UNS VORTRAGEN!“
Die Frauen brachten Stühle in das Zimmer und einige setzten sich, während andere stehen blieben und die Lehnen umklammert hielten. Drei Frauen an Bass, Klarinette und Geige spielten seit längerer Zeit ein und dieselbe traurige Kammermusik, die in der ersten halben Stunde an Brahms erinnerte, aber immer wieder interpretiert und so unmerklich verändert wurde, dass ihr bald kein Komponist mehr zugeordnet werden konnte.
Abwechselnd trat die eine oder die andere der übrigen Frauen vor und trug oft grimmig, manchmal zu Tränen gerührt einen Text vor, oft Tagebucheinträge, die gegen ein imaginäres männliches Wesen gerichtet waren, gegen das Untier Mann an sich, jeder hier und da mit den Eigenschaften ihrer eigenen Männererfahrungen behaftet, oft bis ins Groteske überzeichnet, nicht aber ohne abartige sexuelle Anspielungen, die vom Akt der Kastration über Selbstverstümmelung bis hin zur völligen Unterwerfung unter ein verzerrtes Bild männlicher Sexualfantasie reichten. Diese Frauen beendeten ihre Vorträge oft damit, dass sie an den ans Bett gefesselten Polizisten herantraten und ihm mit vor Tränen oder vor Wut entstelltem Antlitz ins Gesicht spuckten.
„ER IST EIN SCHWEIN!“, brachte ihnen Rene immer wieder ins Gedächtnis.
„DU SCHWEIN!“, riefen die Frauen und kamen zurück, blieben wie angewurzelt stehen und schlugen dann auf Klamke ein.
„WARUM VERRECKST DU SCHWEIN NICHT ENDLICH??“
Klamke brachte kein Wort hervor. In seinem von Muskeln, Fleisch und Fettrollen beschwerten Körper war er wie gefangen und fühlte sich von seinem eigenen Gewicht erdrückt. Für etwas wie Wut oder Hass gab es keinen Platz in seinem Kopf, denn alles, was er versuchte, war zu verstehen, warum diese Frauen um ihn herum standen, warum er Musik hörte. Sein Körper war so entkräftet und betäubt, dass er ihre Faustschläge und die Feuchte ihres Speichels in seinem Gesicht nicht einmal spürte.
„Seht ihn euch genau an“, hörte er die Frau sprechen, die ihm auf irgendeine entfernte Weise bekannt vorkam. Rene zerrte die Bettdecke von seinem massigen und behaarten Körper, zeigte ihnen sein ganzes elendes Aussehen, schlug die mit Kot beschmutzte Uniformjacken, die ihm um die Schenkel hing, auseinander, zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf das, was zum Vorschein kam und nahm es schließlich vor Ekel bis ins Innerste angewidert in die Hand.
„Das müssen wir töten!“, sagte sie und versuchte es nicht anzusehen, während sie es rieb.
„Alles an diesem Mann ist tot. Sein Verstand ist tot, sein Körper ist tot, aber das…“
Sie nahm ihre Hand fort und wischte sie sich das, was nun an ihrer Hand war, an einem Handtuch ab.
„Das lebt immer noch!“, sagte sie und sah Klamke ins Gesicht, der schwer atmete und hustete.
„Bringt mir den Wein!“, forderte Rene die Frauen auf. „Er will sich besaufen, sagt er und wieder fressen wie ein Schwein, bis er tot umfällt, das Schwein!“
Rene war atemlos, war so atemlos wie der Polizist, dessen Lunge wie ein riesiger Blasebalg pumpte.
Magda kam mit der Weinflasche angerannt, goss hastig in ein Glas ein und reichte es Rene.
„Trink!“, sagte Rene und nahm einen riesigen Schluck Wein in den Mund und spuckte Klamke die rote Flüssigkeit ins Gesicht. Sie riss Magda die Flasche aus der Hand und kippte sie auf seinem prustenden Gesicht aus.
„TRINK DOCH!“, kreischte sie. „WARUM TRINKST DU NICHT ENDLICH????“

Nicole stand wie angewurzelt mitten im Raum. Die Frauen sahen sie entgeistert an und Rene, die die leere Weinflasche über ihren Kopf hielt, um damit im nächsten Augenblick auf den Mann in dem Bett einzuschlagen, lies die Flasche sinken und stellte sie ruhig auf dem Beistelltisch ab.
„Nicole, hatte ich dir nicht gesagt, dass du schlafen gehen sollst?“, fragte Rene ruhig und strich sich die aufgewühlten, schwarzen Haare zurück.
„WAS MACHT IHR DA?“, fragte Nicole und ging einen Schritt vor, so als könne sie nicht richtig sehen. Natürlich aber konnte sie ganz genau sehen, was sie da taten.
„WAS“, fragte sie stockend, „macht ihr?“
Rene war von einem Augenblick zum anderen wieder die ruhige und gefasste Frau, wie sie sie kennen gelernt hatte. Sie lächelte mildtätig, als hätte sie es bei Nicole mit einem Kind zu tun.
„Das verstehst du noch nicht“, sagte sie wie nebenbei, nahm die vorbereitete Beruhigungsspritze von dem Tablett mit der Stoffserviette, umschlang den schweren, muskulösen Arm des Mannes mit einem Gummischlauch, zog ihn mit den Zähnen fest und spritzte ihm ohne jede Gefühlsregung das Beruhigungsmittel.
Die Frauen waren unmerklich hinter Nicole getreten, sahen zu Rene und waren unsicher, was nun zu tun war. Würde Nicole das alles falsch verstehen? War sie noch nicht so weit und würde vielleicht versuchen zu fliehen?
Vorsichtig und nicht ohne Neugier, die sich mit Verwirrung und Ekel aber auch mit Mitleid mischte, trat Nicole vor und betrachtete den Mann, der eben wieder ganz in der Besinnungslosigkeit versank.
„Na, wie sieht das für dich aus?“, fragte Rene und kniff die Augen zusammen, als wollte sie die junge Frau mit einem einzigen durchdringenden Blick auf die Probe stellen.
Nicole schwieg einen Augenblick, betrachtete das Wesen, das da vor ihr lag, kaute auf ihrer Oberlippe, bis ihr ganzes Gesicht auf einmal ein eisiges Antlitz annahm.
„ES SIEHT AUS WIE EIN SCHWEIN!“
Rene begann zu lächeln.
„Dann behandle ihn auch wie ein Schwein“, sagte sie.
Nicole ging um das Bett herum, gelangte am Kopfende an und betrachtete lange das schmutzige und unrasierte Gesicht des schlafenden Mannes.
Dann spuckte sie ihm ins Gesicht.

Ein nebliger Morgen hielt den kleinen See hinter dem Frauenhaus in eisiger Umklammerung. Frauengelächter war auf den Fluren zu hören, während sich die Damen des Hauses auf nackten Füssen zurück in ihre Zimmer begaben. Die beiden Frauen, die um Nicoles Bett herum standen, lächelten ihr zu, setzten sich und hielten Nicoles Hände, die vor Aufregung noch immer zitterten.
„Ich bin so unheimlich stolz auf dich“, flüsterte Rene und strich Nicole das Haar aus dem Gesicht. Magda zwinkerte ihr aufmunternd zu und nickte.
„Ich habe Wochen gebraucht, um das alles zu verstehen.“
Die Augen der jungen Frau wurden unheimlich groß und wanderten wie parallel geschaltete Scheinwerfer zwischen Nicole und Rene hin und her.
„In uns gibt’s es so vieles, was es noch zu sagen gibt.“ Sie nickte, als wolle sie nicht mehr damit aufhören.
„Wir müssen nicht SIE verstehen“, flüsterte Rene und nickte ebenfalls.
„Sondern Sie uns!“ Magda lächelte lange und schloss die Augen.
„Wenn sie zuhören, dann ist es so, als könnte ich es einen Augenblick vergessen.“
Rene schloss Magda in die Arme.
„Vielleicht“, sagte sie tröstend.
„Ja“, sagte Magda und begann am ganzen Leib zu zittern.
Sie umklammerte Nicoles Hände und gemeinsam zitterten sie.
„Vielleicht“, sagte Magda.

Klamke saß in dem Rollstuhl, als hätte ihn jemand daran festgebunden und doch fesselten ihn nur Drogen an das Gefährt. Holpernd ging es über die Wiese zum See. Sie liefen den Schwänen hinterher, die auf dem Grün ihre Flügel in der Herbstsonne getrocknet hatten.
Bevor sie sich zischend und das Wasser kräuselnd in den See flüchteten, stoppte Nicole atemlos den fahrenden Stuhl. Klamkes Oberkörper sackte auf seine Knie und seine großen Hände gerieten wie Bremsklötze unter die Reifen. Sein Röcheln klang wie das gepresste Seufzen einer gewaltigen Hydraulikanlage.
„Hilf mir, ihn aufzurichten“, sagte Magda und machte sich an dem schweren Oberkörper zu schaffen. Nicole packte den Mann bei den Schultern, während Magda sich mit ausgestreckten Armen gegen den Kopf stemmte. Mit den Handballen drückte sie gegen seine Stirn, so dass die hochgezogenen Augenlider das schimmlige Weiß seiner Augäpfel preisgaben.
Als der massige männliche Leib in die Lehne fiel, verlor Magda das Gleichgewicht und stürzte mit dem Kopf voran in seinen Schoss. Sie kicherte und Nicole lachte. Magda schaute auf und zeigte ihr zerwühltes Haar. Sie stützte sich auf den Oberschenkeln des Mannes ab und setzte sich erschöpft auf seine Knie.
„Sie waren schon immer schwierig“, keuchte sie und legte dem leblosen Körper die Arme um den Hals. Fast als wäre sie bis ins Innerste zufrieden, legte sie lächelnd ihren Kopf auf seine Schultern und schloss für einen Augenblick die Augen.
„So sind sie mir am liebsten“, seufzte sie und sie nahm jeweils einen seiner schweren Arme und legte sie sich selbst nacheinander um die Schultern.
Nicole bekam eine Gänsehaut.
„Geh da besser weg“, sagte sie, als sie sah, wie sich Klamkes Kopf unmerklich bewegte. Magda kuschelte sich aber noch weiter ein und man konnte sehen, wie die warme Herbstsonne ihre Wangen aufblühen ließen.
„GEH DA WEG!“, sagte Nicole lauter und kam auf die beiden zu. Die schweren Arme des Mannes schlossen sich langsam um Magdas Hals und hielten sie für einen Augenblick liebevoll umschlungen. Magda seufzte, stöhnte dann und plötzlich riss sie die Augen auf, als sie spürte, wie die muskulösen Arme sich um ihren Hals immer mehr zusammenzogen. Sie spürte einen Druck, dann einen Schmerz und plötzlich kreischte Magda, versuchte sich loszureißen.
„LASS SIE IN FRIEDEN“, schrie Nicole und hämmerte mit den Fäusten ohnmächtig auf das gewaltige Monster ein.

Klamkes Gesicht loderte. Schweigend hob er den Kopf und spie der Frau seinen fauligen Atem ins Gesicht.

„Rene?“ Nicole sah sich hilfesuchend um. Vom Haus her hörte sie aufgeregte Schreie. Dann kamen sie und sie sah, dass eine der Frauen einen Spaten in der Hand hielt. Die Schneide spiegelte das heiße Weiß der Sonne wider.
„RENEEEE!“
Klamkes zu Krallen verkrampfte Hände wanderten dabei immer näher auf Magdas zierlichen Nacken zu.
Er packte sie und mit hochrotem Kopf drückte er mit aller Kraft zu.

„WER MUSIK MACHEN WILL…“, begann Rene, aber die Stimme brach ihr vor den Frauen, die auf ihren Stühlen wie in einem Unterrichtsraum saßen und auf den Boden starrten.
Keine der Frauen hatte ein Instrument dabei und alle Tagebücher lagen auf den Zimmern. Ihre Hände waren offen und leer.
Auf dem Nachttisch neben Klamkes Bett lag auf einem Teller mit weißer Serviette eine vorbereitete Beruhigungsspritze. Rene nahm sie wortlos in die Hand, legte sie aber zitternd wieder zurück und drehte sich zu den Frauen um.
„Er ist doch nur ein Tier“, sagte sie. Aber diese nur, das klang in den Ohren der Frauen eher wie ein nur noch und einige von ihnen standen auf und ballten die schmalen Hände zu Fäusten.
Mitten unter ihnen stand Nicole, einsam, starrend und mit ihren Händen hielt sie ihren Hals, als wolle sie fühlen, was Magda gefühlt hatte, als sie mit dem Tier gerungen hatte. Sie drückte zu und die Frauen sahen, wie ihr Gesicht anschwoll und blau wurde. Sie umringten sie, rissen an ihren Armen, die unbeweglich schienen; sie beschworen sie.
Nicole ließ die Hände sinken.
„Warum hat er das getan?“, fragte sie.
„Weil er ein Tier ist“, antwortete eine der Frauen, die sie umringt hatten. Sofort fielen ihr die anderen ins Wort.
„Ja, er ist ein Tier!“
„EIN SCHWEIN!“, schrie eine andere.
„Er ist ein wildes Tier, das in den Sack und in den Fluss gehört!“

Rene Lacroix stand plötzlich mitten unter ihnen, ihre Lippen zitterten, ihre Schultern, bis sie mit einem Mal ganz ruhig wurde und Nicole mit aller Kraft ins Gesicht schlug.
„Warum er das getan hat?“, fragte sie und sie packte Nicole am Nacken und zerrte sie zu dem Bett.
„Hast du etwa geglaubt, er würde sich um dich kümmern? Hast du etwa geglaubt, er würde dich lieben? Er will dich vergewaltigen, will dich prügeln, will dich hinter den Herd stellen und verrotten lassen. Das Schwein denkt doch in jedem Augenblick nur daran“ – und ihre Stimme brach in diesem Augenblick und hörte sich plötzlich an, als würde jemand mit einem Eisennagel über eine Schultafel kreischen:
„WIE ER DICH BIS AUF DEN GRUND DER SEELE VERLETZTEN KANN!“

„Er ist ein Tier“, sagte Nicole.
„EIN SCHWEIN“,
„JA, EIN SCHWEIN!“ Die Frauen schrieen dieses Wort, keiften es und spuckten es in den Raum, in die Luft und ihre Herzen.

„Warum bringen wir ihn dann nicht einfach um?“, fragte Nicole.
Rene nahm ihren Kopf und presste ihn gegen ihre Brust.

„Das tun wir, mein Kind“, flüsterte sie.
„DAS TUN WIR!“

Die Frauen verließen, sich in den Armen haltend, den Raum und Otto Klamke, der Polizist, der Inspektor, das wilde Tier, lag regungslos und schwer atmend in dem Bett, in dem er nun bereits seit fünf Wochen ums Überleben kämpfte. Als die Tür sich schloss, öffneten sich seine Augen und in das Weiß seiner Augäpfel senkten sich langsam die graugrünen Pupillen hinab.
Er drehte den Kopf, sah zu dem kleinen Nachtschrank und sah die Beruhigungsspritze, die auf einem kleinen Teller auf einer weißen Serviette lag.
Sie hatten sie vergessen. Was auch immer geschehen war, seit fünf Wochen hatten sie zum ersten Mal vergessen, ihm das Beruhigungsmittel zu verabreichen.
Noch war er zu schwach, um diese Spritze, diese Waffe in seine Gewalt zu bringen. Seine Arme lagen ihm kraftlos neben dem unbeweglichen Körper.
Klamke starrte auf die Uhr, die an der Wand hing, seine Augen verfolgten jede Bewegung des Sekundenzeigers –
die Zeit würde ab jetzt das Gift aus seinen Adern waschen.

Rene hielt Nicole liebevoll und zärtlich in ihren Armen und küsste ihre Haare und ihre Stirn. Sie küsste sie lange und sprach kein Wort dabei, während Nicole sich von ihr wiegen ließ und aus dem Fenster in den Herbsthimmel sah. So absurd ihr der Gedanke auch schien, so fragte sie sich doch, ob die Schwäne, die auf dem See lebten, nun bald in den Süden fliegen würden. Dahin, wo sie Nahrung finden und Wärme, vielleicht einen Ort, wo sie die Kälte des Winters niemals kennen lernen würden. Sie versuchte zu lächeln und doch gelang es ihr nicht.
Sie sah einen der Schwäne in mühevollem Flug aufsteigen und über den Ahornbäumen schweben. Fühlte er vielleicht die gleiche Sehnsucht nach Wärme, wie sie?
Nicole ließ sich von Rene zudecken. Schweigend ging das vonstatten. Es war helllichter Tag und Magda war erst seit einigen Stunden nicht mehr bei ihnen. Nicole konnte ihr Gesicht noch sehen, konnte ihre Hände noch immer spüren und mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie gesagt hatte, dass sie reden würden, darüber, was ihnen geschehen war und dass es nun dafür zu spät war.
„Ich möchte mit dir darüber reden, warum ich hier bin“, sagte Nicole aus diesem Wissen heraus hastig zu Rene. Die Frau sah ihr in die Augen und lächelte.
„Dafür haben wir noch genug Zeit“, antwortete sie.
„Nein“, forderte Nicole, „das haben wir nicht!“
Rene stand auf und rieb sich fröstelnd die Oberarme.
„Wir haben noch das ganze Leben“, sagte sie und Nicoles Mund stand offen, als wollte sie schreien – lautlos – denn ihr Herz krampfte sich in diesem Moment zusammen, weil sie wusste, weil sie an diesem Tag erlebt und verstanden hatte, wie kurz und schmerzvoll dieses unbarmherzige Leben sein konnte.
Rene sah das in ihren Augen und sie ging zu ihr und schloss ihr den weit aufgerissenen Mund. Sie küsste sie.
„Schscht“, machte sie und streichelte ihr die Wange.
„Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.“

Die Nacht kam wie eine schreckliche Erinnerung über die junge Frau, die sich doch hierher geflüchtet hatte, um all den Schrecknissen der Vergangenheit zu entkommen und die sie nun in kürzester Zeit und mit aller Gewalt einholten. Der Traum, der sie mitten in der Nacht auffahren ließ, war einer der schrecklichsten der letzten Monate, weil er die Vergangenheit mit der Gegenwart verband.
Ihre eigenen Schreie ließen Nicole schweißgebadet auffahren. Das Bettlaken war durchnässt und sie fror von kaltem Schweiß, der ihr Bett in einen See verwandelt hatte, einen See, der vor Kälte zuzufrieren drohte. Und nicht umsonst glaubte sie, sie hätte geträumt, sie wäre ein Schwan, dessen schlanke Fesseln im Eis gefangen waren und der verzweifelt und kreischend mit den Flügeln schlug und doch den See nicht mit sich nehmen konnte.
In ihren Ohren hallte der Fangschuss eines Jägers wieder.
Ihre Füße wirkten wie erfroren, als sie sie auf den glatten Fußboden setzte. Nicht ganz träumend und auch nicht ganz wach, nicht ganz schuldlos und nicht ganz Opfer. Ihr Verstand taumelte zwischen diesen beiden Seinszuständen hin und her. Sie ging ans Fenster, schaute in die Dunkelheit hinaus und konnte in der Fensterscheibe ihr Spiegelbild sehen, das in allem war – im Mondbeschienenen See, in den düsteren Schatten der Bäume, im Funkeln der Sterne – egal, wohin sie sah,
sie sah immer auch sich selbst, unentrinnbar den schmerzvollen Fragen ausgeliefert, dem eigenen unsicheren Blick, den Antworten, den tausenden von Antworten, die alle weder gut noch böse und doch beides gleichzeitig waren.
Dieses Hin und Her, dieses unermüdliche Auf und Ab ließen sie mit einem Mal unheimlich ruhig werden. Ja, unheimlich, denn eben noch war der Blick, den sie in der Fensterscheibe gesehen hatte, der eines gehetzten, verängstigten Tieres gewesen. Ja, eines Tieres, dachte sie und es war eigentlich unvermeidlich, dass sich ihr Verstand plötzlich leerte und sie sich ehrlich und offen in die Augen sah.
Sie war kein Tier.
Sie ging zu ihrem Kleiderschrank, öffnete die Tür und fühlte unter einem Berg von sauber einsortierten Kleidungsstücken nach etwas Kaltem, das so kalt war, wie ihr Blick, den sie eben noch gesehen hatte. Sie zog die Pistole hervor und ihr war, als hätte sie eben damit abgedrückt, als fühlte sie ihren Unterleib noch immer heftig schmerzen, die Übelkeit, der Geschmack von Erbrochenem auf den Lippen.
Nein, sie war nicht vergewaltigt worden, sondern geliebt – auf die innigste und unschuldigste Weise, wie ein Vater seine Tochter nur lieben konnte. Sie sah jetzt sein Bild vor ihrem inneren Auge, wie er vor ihr stand und sie mit seinem alten traurigen Blick ansah und sie fuhr erschrocken zusammen, als diese traute Zweisamkeit vom Knall eines Schusses hinweggefegt wurde. Ein kleines Loch zeichnete sich zwischen Nase und Oberlippe ihres Vaters ab. Dieser traurige Blick war nicht aus seinen Augen gegangen, bis er still und leise in ihre Arme gesunken war.

Stille. Zwei nackte Füße schwebten über den Hausflur. Ein weißes Nachthemd flatterte, von einem kalten Nachtwind aufgewirbelt, der durch ein offenes Fenster in das Haus gedrungen war und der verzweifelt versuchte, daraus einen Ausweg zu finden.
Es gab keinen Ausweg.
Nicole öffnete die Tür und sah den regungslosen Mann auf dem Bett liegen. In ihrer linken Hand hielt sie die Pistole und nahm sie in die Rechte, als sie die Tür hinter sich schloss. Nein, sie war nicht hier, um diesen Mann zu erschießen, ihn kaltblütig zu ermorden, aber sie war auch nicht hier, weil sie nach Antworten suchte. Nichts von alledem war ein Beweggrund für sie.
Es gab keine Antworten. Alles was es gab, waren Fragen; deshalb ging sie auf sein Bett zu, hörte ihn atmen, dieses beruhigende, schwere Atmen, das ihr so vertraut war und sie setzte sich zu ihm, ganz zwanglos und nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch.
Dieser Mann war nicht derjenige, der ihr wehgetan hatte.
„Warum hast du mir wehgetan?“, fragte sie.
Dieser Mann war auch nicht derjenige, der ihr Vertrauen so verletzt hatte.
„Warum hast du mein Vertrauen so verletzt?“, fragte sie.
Und dieser Mann war letztendlich nicht der Mann, der sie geliebt hatte.
Sie strich Klamke mit den Fingerspitzen führsorglich über die glatte, hohe Stirn.
„Warum hast du mich nur so geliebt?“, fragte sie.

„WARUM?“

Klamke erwachte und sein Kopf war heiß, sein Herz hämmerte und sein Verstand war wie ein brennendes Haus, in dem er zu ersticken drohte. Er riss die Augen auf, fühlte nicht, dass jemand seine Stirn streichelte, hörte nicht, wie eine liebevolle Stimme sprach und spürte nichts; Klamke spürte jetzt gar nichts mehr.
Als erstes fiel sein gieriger Blick auf die Waffe, die die junge Frau in Händen hielt. Er riss seine Hand von ihrem warmen Bauch los und entwand ihr mühelos das Mordinstrument.
„ICH BRING DICH UM!“, schrie er und packte die Frau bei den Haaren, die sich ihm ohne jede Gegenwehr ergab. Klamke fühlte die Kraft in seinen Armen, fühlte den Hass und fühlte, wie sich alles in ihm auf eines konzentrierte:
dem unbändigen Willen zu überleben, zu leben und wenn es wie ein Tier war, wenn er sich mit Krallen und Zähnen wehren musste –
Er musste!
Er richtete den Lauf der Waffe auf das Gesicht der jungen Frau, stützte sich auf sie und ließ die Waffe wieder sinken.
„HILF MIR HOCH!“, befahl er, legte seinen Arme um ihre Schulter und stützte sich so gewalttätig auf sie, dass sie unter ihm zu zerbrechen drohte. Er kam aus dem Bett, fühlte seine Beine, versuchte zu gehen – GING! Sie kamen zur Tür und er nahm irgendwo ganz fern in seinem immer noch umnebelten Verstand wahr, dass die junge Frau, auf die er sich mit wilder, animalischer Ungeduld stützte, ihn fragte, warum er sie so liebe.
Nichts davon erreichte sein Herz.
„Halts Maul!“, fuhr er sie an und schleppte sich an ihr auf den Flur hinaus. Dabei grunzte er wie ein Schwein, brüllte, schrie – so laut, dass die Frauen aus dem Schlaf gerissen wurden und trunken vor Müdigkeit auf den Flur stolperten.
Sie kreischten, als sie Klamke sahen, eine kam auf ihn zugerannt, mit einem Feuerhaken in den Händen. Klamke schoss und traf die Frau mitten in die Brust.
Klamke stand da, auf die junge Frau gestützt und dicke, weiße Speichelfäden hingen ihm um die Mundwinkel.
Die Frauen starrten auf den leblosen Körper, unter dem sich ein großes Rund von Blut ausbreitete. Eine Tür ganz hinten am Ende des Flurs wurde aufgerissen und Rene kam auf den Flür gestürzt; wild, schön und atemlos.
Sie starrte den langen Flur hinab, sah Klamke und spie ihm mit jedem Blick mehr von ihrem unbändigen Hass entgegen.

„SEHT EUCH DAS SCHWEIN AN; WAS ES GETAN HAT“, rief die schöne Frau von dort hinten und zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Klamke. Die Waffe in Klamkes Hand schwankte hin und her.
„Du Hure“, stöhnte Klamke, zielte und ein ohrenbetäubender Knall lies alle in dem Flur stehenden Frauen atemlos zusammenzucken.
Hinter Rene war eine Vase im Fensterbrett zerschellt. Die Kugel musste sie nur um wenige Zentimeter verfehlt haben. Noch immer stand sie da – regungslos und den ausgestreckten Zeigefinger auf Klamke gerichtet.
Dann hustete sie und die kreischenden Frauen mussten erkennen, dass die Kugel nicht an ihr vorbei, sondern mitten durch ihren Hals gegangen war. Rene fasste sich ungläubig an den Kehlkopf, der ganz zerschlagen war; das Blut troff ihr zwischen den Fingern hervor.
Die Frauen kamen schreiend auf sie zu gerannt.
„WEG DA!“, schrie Klamke vom anderen Ende des Flurs und schoss in die mit weißem Marmorgips verzierte Decke, so dass vor ihm dicker weißer Bruch auf den roten Flurteppich niederknallte.
Klamke zielte noch einmal auf die schöne Frau am Ende des Flurs, doch sie brach lautlos zusammen, bevor er die Waffe ein zweites Mal auf sie abfeuern konnte.
Nicole, die junge Frau, die Klamke stützte, sah, von den Geschehnissen ähnlich betäubt, wie der Polizist, die anderen Frauen mit schmerzverzerrten Blicken in Klamkes Richtung blicken.
Ihre Fäuste ballten sich. Ihre Lippen wurden schmal und beinahe unsichtbar und ihre Brüste wurden schlaff und hingen nach unten, als sie ihre Schultern wie angreifende Boxer nach vorne stemmten.
„Ich habe noch sechs Kugeln“, sagte Klamke. Das Mädchen auf das er sich stützte, sah aus, als wäre sie jenseits jeder Sinneswahrnehmung.
Klamke sah sich um, nur einige Schritte von ihm entfernt lag der über den Boden geschlitterte Feuerhaken.
Er musste ihn erreichen, bevor der letzte Schuss abgegeben war.

„KOMM“; sagte er und schoss kaltblütig die erste Frau nieder, die ihm kreischend entgegenstürzte.
Nicole stützte ihn und so gelangten sie mit zu dem gusseisernen Mordwerkzeug genau in dem Moment, als Klamke den letzten Schuss aus der Pistole abgegeben hatte.

Er hob den Feuerhaken auf und schlug damit der nächsten Frau den Schädel ein.

Die Schwäne wollten nicht fortfliegen.
Der Blick, den Nicole durch Sirenengeheul auf den kleinen See hinter dem Haus warf, glich dem gequälten Lidaufschlag eines Mondsüchtigen. Zitternd stand sie da, gebeugt von der Last schwerer, warmer Wolldecken, die ihr ein Arzt um die Schultern gelegt hatte und die ihr bis zu den Knien reichten. Die kräftigen Arme eines Seelsorgers hielten sie umklammert, bis eine junge Frau sie an der Hand fortführte.
„Wir nehmen Sie jetzt gleich mit“, sagte sie und zog sie zu einem Krankenwagen. Durch die offene Tür sah Nicole Klamke zusammengesunken und schweigend auf einer Trage sitzen.
Sie hatten ihm das Blut aus dem Gesicht gewischt und auch von den Händen.
„Warum fliegen die Schwäne erst so spät in den Süden?“, fragte Nicole und sah sich wieder nach dem kleinen See um.
Die Polizistin folgte ihrem Blick und schüttelte den Kopf.
„Die fliegen nicht in den Süden“, sagte sie, „die bleiben immer da, denen geht es gut, glaub ich.“
Nicole ließ sich von ihr in den Krankenwagen führen, wo sie sich mit gesenktem Blick neben Klamke setzte.
„Das verstehe ich nicht“, dachte Nicole laut nach, „sie könnten doch weg fliegen, wenn sie es wollten.“
„Wer sagt denn, dass sie es wollen?“, fragte die Polizistin, „und wer sagt, dass sie es können?“
Nicole runzelte die Stirn und zuckte unmerklich zusammen, als die großen Türen des Transporters zugeschlagen worden.
„Wie heißen Sie?“, fragte sie Klamke, dessen Gesicht wie ein Totenschädel wirkte, aus dem die Augäpfel herauszufallen drohten.
Klamke hob den auf den Boden starrenden Blick mühsam in die Höhe. Er sah das Mädchen lange an und schwieg, bis er schließlich fragte:
“Und du?“
Niole ließ die Beine baumeln und sah aus dem Fenster auf das Frauenhaus, von dem sie sich rüttelnd immer weiter entfernten.

„Nenn mich Nicki“, sagte sie.
 



 
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