Das Kaninchen

Rodolfo

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Der Hunger trieb ihn immer weiter. Seit Stunden hatte er kein jagdbares Wild gesehen. Schliesslich war er nicht der einzige, der Hunger litt. Als er auf einen kleinen Bach traf, liess er sich in das Moospolster am Ufer fallen, um zu trinken und Ausschau nach Forellen zu halten. Er nahm einen langen, gierigen Schluck vom kühlen Nass. Als er sich aufrichtete, nahm er im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Aus einem kleinen Gestrüpp hoppelte ein Hase arglos auf die Lichtung und blieb bei einem besonders kräftigen Grasbüschel stehen, um ihn zu beschnüffeln. Sachte griff er nach seinem Bogen und hangelte einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken. Ganz langsam hob er den Bogen und spannte ihn zugleich. Als der Pfeil von der Sehne schoss und dem kleinen Hasen das Lebenslicht ausblies, hörte er hinter dem Gesträuch die Stimmen mehrerer Kinder. Rasch erhob er sich und eilte zum Hasen, um den – vermutlich ausgehungerten - Kindern zuvor zu kommen. Er packte den Hasen und drehte sich nach den Kindern um, die mittlerweile herangekommen waren. Sie machten überhaupt keinen ausgehungerten und verwahrlosten, eher einen erschrockenen und ziemlich zornigen Eindruck auf ihn.
„Das ist unser Kaninchen“, rief der Vorderste: „Warum hast du es getötet?“
Erschrocken blickte es auf das Fellbündel in seinen Händen. Ja, es schien wirklich ein Stallkaninchen und kein Wildhase zu sein. Die langen Ohren und das graubraune Fell hatten ihn getäuscht, aber die Läufe waren eindeutig kürzen und der Kopf kleiner als bei einem Hasen.
„Tut mir leid Kinder, ich glaubte, es sei ein Hase. Natürlich könnt ihr es haben.“ Sagte er, obwohl der Hunger ihm die Eingeweide verdrehte.
„Wir wollen kein totes Kaninchen, das ohnehin uns gehört. Wir wollen dich!“ Kam es da vom Sprecher der Kinder.
„Wie bitte?“ Er glaubte sich verhört zu haben.
„Du hast getötet, jetzt musst auch du sterben!“ Der Ingrimm, mit dem der Kleine dies herausschrie, zusammen mit der Tatsache, dass die Kinder alle ihre kleinen Bogen spannten und die tödlichen Pfeile auf ihn richteten, liess ihn versteinern. Das konnte doch nicht wahr, das konnte höchstens ein ganz schlechter Traum sein?
Die können – die werden doch nicht… ging ihm durch den Kopf, als sieben kleine Pfeile von sieben kleinen Bogen auf ihn zuschossen.
 



 
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