Das Leben der Sarah X

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Das Leben der Sarah X
Sarah X wird am 19.7.1983 im städtischen Krankenhaus, weiß der Teufel wo geboren. Bei der Geburt ist Vater Bernhard nicht anwesend, weil er mit den Fingern im Kaffeeautomaten des Krankenhauses im Keller steckenbleibt und sich die Hand verbrüht. Erst dreieinhalb Stunden später kann er mit verbundener Hand das Ergebnis zahlreicher nächtlicher Bemühungen bewundern: 3000 Gramm schwer, 53 cm groß, und schreit unaufhörlich, bis eine beherzte Hebamme ihr eine Zigarette in den Mund steckt, die sie unten im Schwesternzimmer am Zigarettenautomaten gezogen hat. Alle Menschen freuen sich über die problemlose Geburt, außer Opa und Oma. Die wissen nämlich nichts von ihrem Glück und verbringen vergnügte Wochen im Seniorenerholungheim in Sibirien. Ein nettes Geschenk von ihrem Sohn Bernhard. Auf Nimmerwiedersehen hat er bei ihrer Abführung gesagt. Sarah X kommt schon bald nach Hause und wackelt immer mit den Beinen, wenn Mama X WDR 4 im Radio hört. Wahrscheinlich möchte sie wegrennen. Mit elf Monaten macht sie ihre ersten Schritte und stellt Papa X ein Beinchen, als er die teure Porzellansammlung aus dem Hause seiner vermutlich erfrorenen Eltern ins Wohnzimmer trägt. Sarah X weint, als Papa X sie schlägt. Bald hat Papa X alle Wertgegenstände aus dem Hause seiner Eltern entwendet und ist nun ein reicher Mann, seine Eltern, Sarah Xs Großeltern sind Tiefkühlkost. Eine Berufslücke. Mit dreizehn Monaten spricht Sarah X ihre ersten Worte: „Papa, Arschloch.“ Mit zwei Jahren nimmt Sarah X das erste Mal bewußt eine Droge. Sie hält eine Salzstange in eine Kerze und bewegt sich alsbald in anderen Sphären. Als Sarah drei Jahre alt ist, wird ihr Vater wegen zweifachen Mordes an seinen Eltern verhaftet und zu zwanzig Jahren Bettsitzen hinter Gittern verurteilt. Mutter X heult immer, Sarah X lacht, denn wenn Mama X heult, hört sie kein WDR 4. Mit fünf Jahren geht Sarah X zum ersten Mal auf eine richtige Kinderparty. Dort lernt sie Paul kennen, dem sie völlig hingerissen einen Schmatzer aufdrückt und ihn heiraten will. Paul aber rennt entsetzt auf die Toilette. Ein Jahr später kommt Sarah X in die Schule. Jungen, die zwei Klassen über ihr sind, pfeifen ihr hinterher. Sie ist die einzige, die schon Mama Xs Lippenstift benutzen darf. Zu hause ist Sarah X nur noch Abends, Nachmittags trifft sie sich mit Dietmar aus der dritten Klasse. Mit dem guckt sie immer Kinderstunde oder steckt mit ihm seinen Hamster in die Friteuse, weil das echt Spaß macht. Mit acht Jahren meckert Sarah X zum ersten Mal ihre Lehrerin an, weil sie ihr eine Fünf gegeben hat. Sarah X bringt am nächsten Tag das große Küchenmesser mit, das normalerweise nicht für die Lehrerin gedacht ist. Um zwei Zentimeter verfehlt sie die Lehrerin mit ihrem Wurf. Der Vorfall wird unter der Sparte „Sonstiges“ abgehakt. Mit neun hat Sarah X ihren ersten richtigen Freund: Fred, zwei Jahre älter und Besitzer eines eigenen Fernsehers. Oft schauen sie fiese Filme an, die recht anschaulich zeigen, auf wie viele Arten man denn so zugrunde gehen kann. Sie rennt weg, als er ihr ein Schmuddelheft von seinem großen Bruder zeigt. Mit zehn Jahren trennt sie sich von Fred, als er ihr seine Zunge in den Hals steckt. Das mag Sarah X nämlich gar nicht. Bei Siegfried ist das anders. Er ist zwölf und kann küssen wie die Männer aus den Filmen, die Mum X immer guckt und dabei weint. Sarah X kommt nun immer später nach Hause, oft sitzt sie noch lange bei ihrem Freund, der ihr immer Nudeln mit Soße aus der Dose kocht. Er ist ein richtiger Gentleman. Sarah X raucht mit elf ihre erste Zigarette, mit zwölf klaut sie ihre erste Dose Bier und trinkt sie mit Manfred, vierzehn Jahre alt. Mum X weint immer häufiger, Sarah lacht, wegen WDR 4? Bald will Manfred mehr als Küssen, Sarah X hat sich mit „Super“ aufgeklärt. Die sagen auch, daß der Rock kurz sein muß und das Lächeln aufgesetzt. Mit Vierzehn passiert es. „Super“ hat nicht gesagt, daß es weh tut. Bei Franz und Hans ist es schon besser, Ralf ist spitze. „Super“ ist jetzt out, „Young Lady“ ist angesagt. Papa X wird vorzeitig entlassen, Sarah X scheißt drauf. Bald streiten sich Mum X und Papa X. Sarah reißt aus und zieht zu Andreas, ihr zwölfter Freund. Er ist achtzehn, sie ist fünfzehn. Kokain durchzieht mit fünfzehn zum ersten Mal ihre Nase. „Ich bin frei.“ Ein Wrack ist sie nur ein Jahr später. Niemand ist da, keine Mum X, kein Papa X nur Sarah X. GAME OVER


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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