Das Leuchten

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Cynthia

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Das Leuchten
Sie zog Schuhe und Jacke an, ging zur Garage und fuhr das Auto heraus. Ganz plötzlich hatte sie an diesem Nachmittag den Wunsch verspürt den Platz am See aufzusuchen, an dem sie als Kind jeden Tag im Sommer gespielt hatte.
Sie startete den Motor, legte den Gang ein und fuhr los.
Vorbei an Häuserreihen, die sie jeden Morgen auf dem Weg zu Arbeit sah, aber doch nicht sah. Wie sollte das auch gelingen, denn erstens hatte sie auf den Verkehr zu achten und zweitens waren die Häuser uninteressant für sie. Sie wusste nicht und wollte nicht wissen, wer dort hinter der Gardine stand und was hinter den noch zugezogenen Vorhängen gerade passierte.
Sie fuhr weiter die Hauptstrasse entlang, vorbei an der Tankstelle, dem Getränkemarkt, der Kneipe aus der es immer nach abgestandenem Zigarettenrauch und Bier roch und vorbei an der Stelle, an der vor acht Wochen ein junger Mann einen tödlichen Verkehrsunfall gehabt hatte. Ein Holzkreuz und Vasen mit Blumen markierten die Stelle.
Sie fuhr den Berg hinab und bog links in den kleinen Feldweg ein, an dessen Ende ein Streifen zum Parken ausgezeichnet war. Den Rest des Weges musste sie zu Fuß zurücklegen. Ein Pfad führte in das Wäldchen. Steinige und morastige Abschnitte wechselten einander ab. An manchen Stellen war der Weg so schlammig, dass sie die Steine als rettende Inseln nutzte und von einem zum anderen sprang. Am Ende dieses Weges gelangte sie auf ein mit Moos bewachsenes freies Waldstück, an dessen Fuß der kleine See lag. Der Steg, auf dem sie als Kind schon gesessen hatte, war immer noch dort. Man konnte ihm die vergangenen Jahre ansehen. Sie ging bis ans Ende des Stegs, setzte sich und blickte auf die Wasseroberfläche.
Sie atmete tief ein.
Der Geruch der Luft erinnerte sie an Sommerabende ihrer Kindertage ebenso wie die Gräusche um sie herum denen sie lange mit ganzer Aufmerksamkeit lauschte.
Das Vogelgezwitscher, das leise Anschlagen des Wassers ans Ufer, das Zirpen der Grillen... Alles war wie damals. Ein Schmetterling flog vorbei, setzte sich neben sie auf das Holz und flog fort. Das klare Wasser des Sees ließ sie die Fische darin erkennen. Das Bild der Bäume am Ufer spiegelte sich auf der glatten Oberfläche.
Sie fühlte Unruhe und Schwere der letzten Wochen weichen. Es fühlte sich an, als würden sie geradewegs von unsichtbarer Hand fortgenommen und daraufhin in Nichts aufgelöst. Sie spürte in diesem Moment keine Angst, Trauer, Neid, Hass, Unruhe, Wut mehr, sondern eine tiefe Zufriedenheit. Nein... Es war Glückseeligkeit!!!
So saß sie, bis zum Sonnenuntergang. Dann trat sie den Rückweg zum Auto an. Auf dem Parkplatz begegnete sie einer Mutter, die mit ihrem Sohn und ihrer Tochter Pilze gesammelt hatte. „Schau mal, was wir gefunden haben!“ rief der Junge ihr zu. „Ja, hier unter den Birken habe ich früher auch mit meinen Eltern Pilze gesammelt“...
Als die drei ins Auto stiegen hörte sie wie der kleine Junge zur Mutter sagte. „Mami... wieso hat die Frau so geleuchtet?“
 

Josie

Mitglied
Hallo Cynthia

Ein schöner, flüssig geschriebener Text ! Lässt sich sehr gut lesen.
Du könntest ihn noch verbessern, wenn du das Erzähltempo im Mittelteil verlangsamst, und zwar von der Stelle an, als sich deine Protagonistin an den Steg setzt.

*...Sie ging bis ans Ende des Stegs, setzte sich und blickte auf die Wasseroberfläche...*

Wenn du nach diesem Satz einen Absatz einschiebst oder zumindest eine neue Zeile beginnst, verlangsamt sich das Erzähltempo etwas. Wenn du dann die folgenden Gedanken anstatt in vielen kurzatmigen Sätzen zu einigen längeren Sätzen zusammenfasst, wird der Moment der Kindheitserinnerungen dadurch gedehnt und wirkt besinnlicher.
Und so wirkt letztendlich das "Leuchten" auch sehr viel glaubhafter.

LG Josie
 



 
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