Das Licht am Ende des Tunnels

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Estrella

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Das Licht am Ende des Tunnels
Kälte umgibt sie, feuchte, unangenehme Kälte, die sich über ihren Körper ausbreitet. Es ist dunkel. Sie öffnet die Augen, doch es bleibt schwarz. Langsam steht sie auf, streckt ihre Arme aus und berührt kühlen, feuchten Felsen. Als sie laut ruft, hallt das Echo dumpf von den Steinwänden zurück. Vorsichtig bewegt sie sich vorwärts, macht Schritt für Schritt auf diesem Weg durch die Dunkelheit, von dem sie nicht weiss, wohin er sie führt und wann er enden wird.

Gleich ist es soweit. Die drei Wochen sind schon wieder vorüber. Es kommt ihr so vor, als ob die Abstände immer kürzer würden. Ist es nicht erst ein paar Tage her, dass sie hier bereits zum zweiten Mal gesessen hat? Nervös rutscht sie auf ihrem Stuhl hin und her, starrt auf die gegenüberliegende weisse Wand, deren Eintönigkeit nur ab und zu durch ein eingerahmtes Poster unterbrochen wird. Der saubere, glänzende Fussboden des langen Gangs unterstützt noch das Bild dieser vollkommenen Sterilität.
Rechts neben ihr gibt ein Fenster den Blick auf ein parkähnliches Gelände frei.
Blattlose Baumgerippe ragen in den grauen, wolkenverhangenen Herbsthimmel. Ein brauner Blätterteppich bedeckt den Boden. Hier und da sitzt eine einsame Krähe auf einem kahlen Ast – eine trostlose, wenn nicht sogar gespenstische Szene. Die Melodie des Filmes „ Spiel mir das Lied vom Tod“ kommt ihr in den Sinn. Passt ja prima der Titel, denkt sie sarkastisch und verflucht jedoch im selben Augenblick ihre Gedanken. Sie will doch nur noch positiv denken. Obwohl ihr das oft sehr schwer fällt, besonders morgens, wenn sie vor dem Badezimmerspiegel steht, und sie dieses blasse Gesicht mit den grossen, von dunklen Schatten umrandeten Augen entgegenschaut. Dort, wo sonst kastanienbraune Locken bis auf ihre Schultern fielen, glänzt nun kahlrasierte Kopfhaut. Ihr Blick wandert weiter nach unten, bleibt an ihrem Busen haften. Rechts wölbt sich eine wohlgeformte und trotz Schwangerschaft und Stillzeit noch straffe Brust. Links ist alles flach, nur eine lange, gerötete Narbe verläuft quer hinüber bis unter die Achselhöhle.
„ Machen Sie sich keine Sorgen“, hatte ihr Arzt sie beruhigt, „ in ca. zwei Jahren können Sie sich ihre Brust wieder aufbauen lassen.“
Man würde fast keinen Unterschied bemerken, hatte er gesagt. Sogar eine neue Brustwarze würde geformt werden. Dazu würde man Haut von ihren Schamlippen entfernen, da diese dem empfindlichen Warzengewebe am nächsten käme. Eigenartiger Gedanke.

Sie schaut nach draussen, es hat angefangen zu regnen. Der Wind treibt die Tropfen gegen die Fensterscheibe, wo sie langsam herunterlaufen. Die Krähen sind verschwunden, wahrscheinlich haben sie sich einen trockenen Unterschlupf gesucht.
Sie denkt an die Zukunft, wird die Krankheit irgendwann wieder ausbrechen? Sie will und darf sich nicht fallenlassen, sie muss nach vorne schauen. Das ist sie ihrer Familie und ihren Freunden schuldig. Sie haben sich so süss verhalten und geben ihr soviel Halt. Ihre Freundin ruft jeden Tag an und versucht sie mit Einkaufsbummeln und Kinobesuchen abzulenken. Ihr Mann nimmt sie oft in den Arm, streichelt ihr über das Gesicht und flüstert: „Vergiss nicht, mein Schatz, ich liebe dich und nicht deinen Busen.“ Ihre kleine Tochter hatte sich mit erhobenem Zeigefinger vor sie hingestellt und mit ernster Miene gesagt:
„Mami, du musst jetzt ganz viel essen, dann wächst dir schnell eine neue Brust.“
In solchen Momenten kann sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie versucht es aber auch gar nicht, sondern lässt ihnen einfach freien Lauf. Hinterher fühlt sie sich dann viel leichter.

Die Tür neben ihr geht auf, und eine Krankenschwester schaut heraus.
„Sie können jetzt hereinkommen, wir sind soweit“,sagt sie.
Schweren Herzens erhebt sie sich und folgt ihr in den Raum. Auch hier ist alles weiss und steril. Sie legt sich auf die Liege und hofft nur, dass die Schwester diesmal sofort ihre Vene trifft, um die Kanüle für den Tropf zu befestigen. Beim letzten Mal hat sie drei Versuche gebraucht. Doch Gott sei Dank klappt es diesmal ohne Probleme und schon bald rinnt das Medikament tropfenweise in ihren Blutkreislauf, wo es den Kampf mit den eventuell noch vorhandenen Krebszellen aufnimmt, sie an ihrer Teilung hindert und schliesslich vernichtet.
Obwohl ihr Tumor zum Glück noch keine Metastasen gebildet hatte, musste sie trotzdem eine Chemotherapie machen. Die Ärzte wollen ganz sicher gehen, dass keine bösartigen Zellen mehr zurückbleiben. Leider werden durch das Medikament auch gesunde Zellen zerstört, deshalb ist ihr Imunsystem zur Zeit sehr geschwächt. Sie ist ständig erkältet und müde. Ungefähr zwei Stunden nach der Therapie beginnt die Übelkeit und nur wenig später schmerzen ihr sämtliche Glieder, als ob sie eine schwere Grippe hätte. Ausserdem hatt sie ständig einen ekelhaften, metallischen Geschmack im Mund. Sie schaut auf die Glasflasche und beginnt die Tropfen zu zählen: eins, zwei, drei.... bei fünfzig schliesst sie die Augen und blickt in die Dunkelheit des nicht endenwollenden Tunnels. Unermüdlich bewegt sie sich vorwärts, ohne zu wissen, wann sie ankommen wird. Eine sanfte Bewegung an ihrer Schulter lässt sie zusammenzucken, sie öffnet die Augen und sieht die Schwester, die sich über sie gebeugt hat. Ihr dichtes, blondes Haar ist zu einem dicken Zopf geflochten und reicht bis auf ihren kräftigen Busen herunter.
„Fertig?“ fragt sie die Schwester mit leiser Stimme. Diese nickt ihr lächelnd zu, während sie bereits die Kanüle entfernt. Benommen richtet sie sich auf und bleibt noch einen kurzen Augenblick auf dem Rand der Liege sitzen, bevor sie nach ihrer Tasche greift und auf den Flur hinausgeht. Ihr Herz krampft sich zusammen, als sie das kleine, blasse Mädchen sieht, das eng angekuschelt auf dem Schoss seiner Mutter sitzt, ein buntes Tuch mit lustigen Disney-Figuren um den zarten Kopf geknotet. Auf einmal ist sie unendlich froh, dass es nicht ihre kleine Tochter ist, die hier sitzt, sondern, dass sie selbst es sein darf, die den Raum verlässt. Noch dreimal muss sie diese Prozedur über sich ergehen lassen, dann kann sie hoffentlich wieder ein einigermassen normales Leben führen.
Doch ein Dämon wohnt tief in ihrem Innersten. Sein Name ist Angst, und er lauert nur darauf, herauszukommen und über sie herzufallen. Oft tut er dies abends, wenn sie im Bett liegt und dann ist sie einfach nur unendlich froh, dass jemand neben ihr liegt, der sie ganz fest in den Arm nimmt und ihr hilft, den hässlichen Dämon zurück in seine Höhle zu treiben.

Sie weiss, dass sie bald am Ende des dunklen Tunnels angelangt ist, und das Licht nicht mehr fern ist. Wenn sie genau hinschaut, kann sie bereits einen ersten schwachen Schimmer erahnen.
 

strumpfkuh

Mitglied
Liebe Estrella,
ich finde das ist ein ganz besonderer Text. Nicht nur, dass man sich sehr gut in deine Protagonistin hineinversetzen kann, er macht auch noch Mut, sich mit Krankheit auseinander zu setzen und sie zu akzeptieren.
Besonders unter die Haut gehend fand ich die Stelle, an der die Tochter sagt, sie solle jetzt ganz viel essen, damit die Brust bald nachwachsen würde. Da hatte ich mit den Tränen zu kämpfen.
Etwas gestolpert bin ich nur über folgenden Satz: "Sie will nicht mehr negativ sein" Das finde ich nicht sehr gut ausgedrückt, negativ sein kann so vieles bedeuten.
LG
Doro
 

think twice

Mitglied
Hallo Estrella,

Wunderbar erzählt. Für mich fühlt sich die Geschichte beim Lesen so echt an, dass ich kaum glauben kann, dass sie nicht autobiographisch sein soll. Ist sie wirklich nur erdacht, dann hast du ein ausgezeichnetes Gefühl dafür, dich in das Denken und Fühlen einer anderen Person mit all ihren Problemen hineinzuversetzen.

Liebe Grüße
think twice
 

Estrella

Mitglied
Hallo strumpf kuh (hehe,was für ein Name) und think twice,

vielen Dank fürs Lesen und eure positive Kritik.
Ich bin zu dieser Geschichte durch eine sehr gute Freundin inspiriert worden, bei der Ende letzten Jahres die Diagnose Brustkrebs gestellt wurde. Wahrscheinlich war dies meine Art, mich damit auseinanderzusetzen. Gott sei Dank hat sie jetzt das Licht am Ende des Tunnels erreicht.

Liebe Grüsse
Estrella

P.S. @ Strumpf kuh: Habe den Satzteil mit dem negativ einfach rausgestrichen.
 

Rainer

Mitglied
hallo estrella,

ich schließe mich meinen vorkommentatoren hinsichtlich der qualität an.

einen punkt habe ich zu beanstanden:

es soll ja eine kurzgeschichte sein, und die leben nun mal von der überraschung bzw. der miniatur.
wenn ich einen solchen text schreiben könnte, hätte ich den satz mit dem krebskranken kind als ende genommen.
vieles danach noch folgende gießt, bitte verzeih den ausdruck, betroffenheitssoße und noch mehr, und noch mehr "verständnis" darüber.

grüße

rainer (dessen lieblingsgemecker den schluß von texten betrifft)
 

Estrella

Mitglied
Hallo Rainer,

auch Dir vielen Dank fürs Lesen.
Freut mich, dass Dir meine Schreibweise gefallen hat.
Allerdings bin ich , was den Schluss betrifft, nicht Deiner Meinung. Ich will ja mit meinem Text auch ein bisschen Hoffnung vermitteln und mit dem Schlusssatz (habe leider kein "scharfes S" auf meiner Tastatur) stelle ich nochmal einen Bezug zum Titel her. Aber das ist wohl Geschmacksache.

Grüsse
Estrella
 
D

Daktari

Gast
Prima

Liebe Estrella!

Ich bin zwar keine Frau und habe auch keinen brustkrebs, aber ich kann es gut nach voll ziehen. Ich selbst bin HIV+ und kann die Angst der Frau gut verstehen. Der innere Zweifel - werde ich den Kampf gewinnen, trübe Gedanken, die einem beim Anblick selbst harmloser Dinge kommen, aber auch die immer wieder kehrende Hoffnung, die Unterstützung von Freunden etc. All das hast Du toll wieder gegeben.


Auch der Anfang ist gut gelungen. Der leser ist zuerst etwas irritiert, findet sich nicht sofort zurecht, muß und will weiter lesen, um sich über die Einzelheiten klar zu werden.

Very good.

Ciao Tim
 



 
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