Das Loch

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Frieda

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Da war es wieder, dieses seltsame, unerklärliche Gefühl. Jedesmal wenn Motzki auf seinem Weg zur Arbeit an der Baustelle vorbeikam, packte es ihn mit unerwarteter Wucht. Angst, Schwindel, Luftnot verbunden mit ungeheurer Euphorie und Allmachtsgefühlen überwältigten ihn und machten ihn bewegungsunfähig. Die Zeit schien einen Sprung in die Zukunft zu machen, um dann rückwärts abzulaufen, zuerst schnell, dann immer langsamer, bis sie wieder in der Gegenwart angekommen war.

Endlich gehorchte sein Körper ihm wieder und es gelang ihm, aus der magischen Zone zu entkommen. Er brauchte seine ganze Konzentrationskraft, um sich aus diesem Zustand loszureißen.
„Hier weg muß ich“, dachte er verzweifelt. Er fühlte wie der Angstschweiß aus seinen Kleidern Tröpfchen für Tröpfchen in seine Poren zurückfloß. Dann verdrängte ein mächtiges Gefühl von Allwissenheit die Angst.

Sein Blick fiel auf einen Baum in der Nähe. Das Nest darin war leer, aber schon flogen ein paar junge Amseln herbei und setzten sich hinein. Sofort kamen die Altvögel und zogen eifrig Würmer aus den Schnäbeln der Jungen, um sie irgendwo weiter weg in die Erde zu stecken. Die jungen Amseln schrumpften zusehends. Die Altvögel brachten die Eierschalen und halfen den Jungen, sie sich anzulegen. Dann setzte sich das Weibchen aufs Nest und sog die Eier in ihren Körper, bevor sie auf den Bauzaun flog und sich mit dem Männchen paarte.

Amüsiert betrachtete Motzki die Härchen auf seinem Arm, er sah wie sie von irgendwo angeflogen kamen, sich in ihn einwurzelten und sich dann in den Körper zurückzogen. "Klatsch" machte es. Mit einer heftigen Bewegung nahm er die Hand von seinem Arm. Eine Mücke kam zum Vorschein, sie war gerade dabei, ihren Stachel aus seinem Fleisch zu ziehen. "Vieh verdammtes, autsch!", fluchte Motzki.

„Sollte sehen Mensch kein die Dinge sehe ich“, dachte er. Dann gewann die Angst wieder die Überhand. Ein dünner Schrei wurde durch die kristallklare Luft herangetragen und drang in seinen weit geöffneten Mund. Seine Lungen brannten. Panisch schnappte er nach Luft. Motzki stand wie erstarrt.


Immer geschah es an der selben Stelle, nämlich dort, wo im Bauzaun etwa auf Augenhöhe ein kleines Guckloch ausgespart war. War es das Fenster zu einer anderen Welt? Motzki hatte noch nie hindurchgesehen. Trotzdem, irgendetwas in ihm wußte, was sich dahinter verbarg. Er wußte es und wußte es wieder nicht, es war etwas unerklärliches, das ihm Angst machte und ihn gleichzeitg anzog. Jeden Tag nahm er sich vor, beim nächsten Mal bestimmt durch das Loch zu sehen, aber er wagte es nie.
 
Hallo Frieda,

eine schöne Grundideee mit wirklich guter Ausführung.

Nur eine Kleinigkeit:Warum schreit dein Prot, wenn ihn ein Gefühl von Allwissenheit durchflutet? Ist es ein Triumpfschrei? Sieht er etwas, das so schrecklich ist, dass ihn das Grauen packt?

Grüße
Marlene
 

Frieda

Mitglied
Hallo Marlene,

danke für deine Rückmeldung, ich war mir gar nicht so sicher, ob die Idee auch außerhalb meines Hirns lebensfähig ist.
Zu deiner Frage: Der Prot schreit bevor das Gefühl von Allwissenheit seine Angst verdrängt. Da die Zeit rückwärts läuft, fühlt er die Allwissenheit bevor der Schrei in ihn zurückkehrt. Hmm, wie könnte ich es besser ausdrücken, daß es keine Mißverständnisse gibt?

@MDSpinoza, was meinst du mit "Grammatik des Protagonisten"? Ich stehe wohl auf der Leitung, hilf mir doch mal auf die Sprünge.

Viele Grüße
von Frieda
 

dragazul

Mitglied
Sehr schön!

Tolle Idee und gut lesbar sobald man sich daran erinnert, das die Zeit rückwärts läuft. Und hier scheint ein kleiner Fehler zu sein. Die Angst sollte die Allwissenheit verdrängen und nicht andersherum, oder? Dann macht das mit dem Schrei auch wieder Sinn.
 



 
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