Das Mädchen

Kandrina

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Sie war einsam, sehr einsam. So fühlte sie sich zumindest, wenn sie alleine in ihrem Geheimversteck saß, und sich Gedanken über ihre Vergangenheit machte. Ihr Vater hatte sie verlassen, ihre Mutter war nie für sie da. Freunde hatte sie keine, zumindest nicht in der realen Welt. Wenn die Einsamkeit unerträglich wurde, flüchtete sie sich in ihre eigene Traumwelt, dort war alles perfekt. Sie hatte eine glückliche Familie, jeder mochte sie und sie hatte viele Verehrer.
Ihre Traumwelt war das genaue Gegenteil von der realen Welt, fand sie.

Tage vergingen und sie machte sich immer mehr Gedanken über ihren Vater, der vor über einem Jahr erneut geheiratet und bereits einen Sohn mit seiner neuen Frau gezeugt hatte.
Sie fühlte sich immer mehr vernachlässigt und ungeliebt, sie dachte ihr Vater würde jeden mehr lieben als sie. Zu ihrem Geburtstag hatte er sich erst nach drei Wochen gemeldet, und sie konnte an diesem Tag nicht einmal bis zum Abendessen bei ihm bleiben, weil ihr Halbbruder früh schlafen gehen muss. Das verstärkte den Hass des Mädchens auf ihren Vater. Nachdem er ihr nur durch ihre Schwester mitgeteilt hatte, dass sie seit einer Woche einen kleinen Bruder hatte, war sie schon enttäuscht gewesen. Alles Überschlug sich dann im August desselben Jahres, als ihre Schwester Geburtstag hatte. Ihr Vater meldete sich gleich am selben Tag und gratulierte ihr, machte ein Treffen zwei Tage später aus und die Feier ging bis 23 Uhr. Das Mädchen war wütend über die rasche Reaktion ihres Vaters und beschloss, nicht mit auf diese Feier zu gehen. Als ihre Schwester dann um halb 12 nach Hause kam, war sie so wütend dass sie sich in ihrem Zimmer einschloss und erst gegen Mittag des nächsten Tages wieder heraus kam. Weder ihre Mutter noch ihre Schwester wussten warum sie das tat.

Als sie schließlich ihrer Mutter im Vertrauen sagte, dass sie sehr wütend und enttäuscht von ihrem Vater sei, sagte die Mutter, dass sie das Mädchen verstünde, aber sie dennoch mit ihrem Vater darüber reden sollte. Das Mädchen weigerte sich und entschied sich nicht mehr mit ihrer Mutter darüber zu reden.

An einem Tag in den nächsten zwei Wochen kam ihre Schwester zu dem Mädchen und sagte, dass auch sie das Mädchen verstünde. Das Mädchen konnte nicht glauben, dass ihre Mutter ihr Vertrauen so missbraucht hatte. Bestürzt darüber und zur gleichen Zeit wütend auf ihre Mutter und ihre Schwester konnte sie nicht glauben, dass sie verstehen könnten, wie sie sich fühlte.

Durch die Gedanken an ihren Vater und die Angst nicht verstanden zu werden, schweifte sie immer mehr von ihren Tätigkeiten ab und verpasste dadurch schon manchmal die Straßenbahn, fuhr zu weit oder bekam schlechte Noten in der Schule. Es schien sich nicht zu bessern je mehr Zeit verging, im Gegenteil, es wurde immer schlimmer, sie vergaß den Herd auszuschalten und stellte die Mikrowelle viel zu lange ein, so dass diese schon einmal in Flammen aufging.

Am 22. Dezember desselben Jahres, in dem das alles passierte, kam es dann zu einem Schicksalsschlag. Das Mädchen war wieder einmal mit den Gedanken ganz wo anders und auf dem Weg zum Einkaufszentrum, um ein Geschenk für ihre beste und einzige Freundin zu kaufen. An einer Ampel, an der jede Menge Menschen standen, dachte sie wieder an ihren Vater, sie ließ sich einfach mit der Menge über die Straße schieben, allerdings passierte etwas Unerwartetes. Plötzlich verlor das Mädchen das Gleichgewicht und rutschte auf der eisigen Straße aus, aber niemand schien es zu bemerken. Dadurch kam sie auf den Gedanken, sie wäre unsichtbar und es würde sie niemand bemerken, schließlich blieb sie einfach liegen.
Um ihre Gedanken zu bestätigen eilte ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene immer näher, es war anscheinend ein Notfall und der Fahrer hatte deswegen nicht auf die Straße gesehen, als er über die immer noch rote Ampel fuhr.
 



 
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