Das Mädchen auf dem Einrad

Die Naturbühne steht nicht in der Natur sondern mitten im Zentrum der Fußgängerzone von Willenstedt. Das rankende Efeu an den vier Pfeilern, auf denen das hölzerne Dach ruht, hat ihr wohl kaum den Namen eingebracht. Eher die Natursteine, aus denen einst die Stadtväter sie erbauen ließen. Die kleine runde Bühne stammt aus den Nachkriegsjahrenjahren, als ein musikliebender Bürgermeister namens Strauss seine Parteifreunde im Rat der Stadt überzeugen konnte, dass Willenstedt eine friedliebenende Musikstadt sei, in der Musikkapellen und Chöre jahrhunderetalte Traditionen pflegen. Selbst die Opposition soll damals zugestimmt haben. Der kleine Bau wurde mit einem großen Musikfest eingeweiht. Bürgermeister Strauss lud aus Nachbar-Städten und Kreisen Musiker und Sänger ein. Sogar eine Feuerwehrkapelle aus der belgischen Partnerstadt kam. Die bronzene Gedenktafel an einem der Pfeiler erinnert an den verstorbenen Bürgermeister und das fast 50 Jahre zurückliegende Friedensmusikfest.
Ralf Kanitz sieht seine Welt nur noch durch zusammengekniffen Lider. Damals auf dem Fest wollte er mit seiner Gitarre auftreten. Ein paar Stücke konnte er spielen. Die Titel aus dem Gitarrenübungsheft für Fortgeschrittene hat er längst vergessen. Er passe leider nicht zu
dem eher gehobenen Bühnenprogramm, teilte ihm Bürgermeister Strauss mit.
Ralf hatte bald danach seine tägliche Gitarrenübungsstunde aufgegeben.
Seine Gitarre liegt noch auf dem Dachboden. Neulich hat er dort aufgeräumt. Sie lag in einer Ecke hinter einem Regal mit alten Einmachgläsern. In einem verstaubten Sack. Nur noch mit einer Darm-Saite bespannt. Er zupfte vorsichtig. Widerwillig gab sie einen dumpfen Ton von sich. Danach verging ihm die Lust, den Dachboden, auf dem er seit Monikas Tod nicht mehr gewesen war, weiter aufzuräumen.
Rund um die Naturbühne findet seit Jahren an jedem Freitag ein Wochenmarkt statt. Marktschreier, die lautstark möglichen Käufern Blumen, Würste, Fische, ausgesprochen praktische Haushaltgeräte oder Wunderputzmittel anpreisen, nutzen sie als Podest für ihre Verkaufsshows. An anderen Tagen spielen dort oben Straßenmusikanten.
In den warmen Monaten des Jahres sitzt Ralf Kanitz häufig abends vor der Bühne auf einer der von der Kreissparkasse gestifteten Holzbänke.
Gestern standen Jugendliche auf der Bühne, rauchten Zigaretten, tranken Bier aus Flaschen. Im Hintergrund umschlang sich ein Liebespaar. Die blonde langhaarige Schöne lehnte mit dem Rücken am rechten der beiden hinteren Pfeiler. Er, ein kurzhaariger Muskelmann, drückte sie an sich, küsste ihr hastig Mund, Hals und Brustansatz, drängte mit seinem Bein zwischen ihre Oberschenkel und massierte ihr den in die enge Jeans gezwängten Hintern.
Leute in Ralfs Alter saßen offenbar lieber auf den Bänken rundum, tuschelten, lachten oder sahen schweigend zu.
Kanitz war ein Schweiger. Er wollte raus, unbemerkt und vor allem aus sich. Doch auch er blieb, saß und wartete.
Seine Monika, gerade einmal 58 Jahre alt, starb vor zwei Jahren. Lungenkrebs. Judith, ihre gemeinsame Tochter lebt seit acht Jahren mit ihrem Mann in Neuseeland.
Bei Monikas Beerdigung sah er seine zweijährige Enkelin Luna zum ersten Mal. Als er sie kurz auf dem Arm trug, begann sie zu weinen und rief nach ihrem Papa.
Schulter zuckend nahm sein Schwiegersohn ihm die Enkelin ab und lächelte. „Sie hat Angst vor alten Männern! Mein Vater hat bei ihr auch keine Chance.“
Letztes Jahr zu seinem siebzigsten Geburtstag schickte Judith ihm aus Neuseeland ein Bild. Luna hatte es gemalt. Auf einem karrierten Blatt – offenbar aus ihrem Schulrechenheft.
„Das bist du Opa!“ stand unter dem Männerkopf mit Schlitzaugen, drei aufrechten und zwei waagerechten Stirnfalten und einem schmallippig verschlossenen Mund.
Kanitz trug das Bild in der Innentasche seiner Jacke. Saß er an der Naturbühne, nahm er es häufig heraus, versuchte, auf es einzureden. „Ruhig bleiben, Mann, ganz ruhig…!
Luna geht inzwischen seit ein paar Monaten in Neuseeland zur Schule.

Das Mädchen auf dem Einrad ist vermutich auch so alt wie Luna. Äußerst geschickt, balanciert es auf der Bühne mit seinem wackeligen Gefährt. Kanitz hat Angst, es könne stürzen, wünscht aber gleichzeitig, es möge umkippen.
Er würde auf die Bühne steigen. Ihm helfen, es trösten, falls es weinen sollte. Es würde bestimmt weinen.
Trägt nicht mal Knieschützer an den nackten dünnen Beinen, die aus kurzen, viel zu weiten Jeans ragen.
Eigentlich müsste Ralf ihm das Einrad sofort wegnehmen. Aber Kinder brauchen kleine Gefahren gegen die Langeweile.
Die braunen kurzen Locken des Mädchens wippen. Es hält die Balance, selbst jetzt, da es auf der Stelle hin- und herfährt.
Ralf sieht einen älteren Jungen kommen, einen Fußball unter dem Arm. Der Junge schaut eine Zeit lang zu, holt plötzlich mit dem Ball aus und wirft. Das Mädchen springt ab, kurz bevor das Rad vom Ball getroffen wird. Der Junge läuft dem von der Bühne rollenden Fußball hinterher. Kaum hält er ihn in beiden Händen, rennt er an Ralf vorbei zur Bühne zurück. Kanitz greift nach dem Ball. Grinsend weicht der Junge aus, steigt hinauf, wirft und trifft.
Das Mädchen stürzt auf die grauen Steinplatten. Der Junge lacht auf und springt von der Bühne.
Ruckartig erhebt Ralf sich von der Bank, klettert auf die Bühne und beugt sich über das Mädchen. Beide Knie bluten. Die Kleine sieht Ralf aus tränengefüllten Augen an. Er will ihr tröstend über die braunen Locken streicheln.
Sie schreit. Schrill. Wortlos. Springt auf, greift nach ihrem Rad. Der Junge mit dem Fußball taucht neben der Bühne wieder auf. Ralf greift sich die Kleine. Hält sie fest. Sie schlägt um sich, beißt ihn in die Hand. Der Junge zerrt an ihr. „Lass sie los, Alter. Lass sie sofort los.“
Eine Frau mit strähnig grauem Haar baut sich neben Kanitz auf. „Lassen Sie das Kind los…! Oder ist das ihre Enkelin?“
Ralf schüttelt den Kopf. „Die darf ich auch nicht anfassen.“
Er lässt den Arm des Mädchens los. Der Junge und die Kleine fallen auf den Rücken.
„Dass alte Männer immer so ungeschickt sein müssen!“ Die Grauhaarige bückt sich und hilft dem Mädchen auf die Beine. „Deine Knie bluten ja:“ Das Kind nickt und beginnt lauter zu weinen. „Komm, ich nehme dich eben mit nach Hause, da verbinde ich dir die Knie.“
Der Junge mit dem Fußball folgt ihnen.

Die Bühne ist leer. Allein Ralf Kanitz steht noch genau in der Mitte. Nur ein älteres Paar sitzt unten auf einer der Bänke. Ralf streift den Riemen seiner Gitarre über die Schulter und beginnt zu spielen. Langsam. Dann hastiger. Dabei dreht er sich um sich selbst. Immer schneller. Vor seinen Augen seinen Augen. Danach wird es dunkel.
 
Die Naturbühne steht nicht in der Natur sondern mitten im Zentrum der Fußgängerzone von Willenstedt. Das rankende Efeu an den vier Pfeilern, auf denen das hölzerne Dach ruht, hat ihr wohl kaum den Namen eingebracht. Eher die Natursteine, aus denen einst die Stadtväter sie erbauen ließen. Die kleine runde Bühne stammt aus den Nachkriegsjahrenjahren, als ein musikliebender Bürgermeister namens Strauss seine Parteifreunde im Rat der Stadt überzeugen konnte, dass Willenstedt eine friedliebenende Musikstadt sei, in der Musikkapellen und Chöre jahrhunderetalte Traditionen pflegen. Selbst die Opposition soll damals zugestimmt haben. Der kleine Bau wurde mit einem großen Musikfest eingeweiht. Bürgermeister Strauss lud aus Nachbar-Städten und Kreisen Musiker und Sänger ein. Sogar eine Feuerwehrkapelle aus der belgischen Partnerstadt kam. Die bronzene Gedenktafel an einem der Pfeiler erinnert an den verstorbenen Bürgermeister und das fast 50 Jahre zurückliegende Friedensmusikfest.
Ralf Kanitz sieht seine Welt nur noch durch zusammengekniffen Lider. Damals auf dem Fest wollte er mit seiner Gitarre auftreten. Ein paar Stücke konnte er spielen. Die Titel aus dem Gitarrenübungsheft für Fortgeschrittene hat er längst vergessen. Er passe leider nicht zu
dem eher gehobenen Bühnenprogramm, teilte ihm Bürgermeister Strauss mit.
Ralf hatte bald danach seine tägliche Gitarrenübungsstunde aufgegeben.
Seine Gitarre liegt noch auf dem Dachboden. Neulich hat er dort aufgeräumt. Sie lag in einer Ecke hinter einem Regal mit alten Einmachgläsern. In einem verstaubten Sack. Nur noch mit einer Darm-Saite bespannt. Er zupfte vorsichtig. Widerwillig gab sie einen dumpfen Ton von sich. Danach verging ihm die Lust, den Dachboden, auf dem er seit Monikas Tod nicht mehr gewesen war, weiter aufzuräumen.
Rund um die Naturbühne findet seit Jahren an jedem Freitag ein Wochenmarkt statt. Marktschreier, die lautstark möglichen Käufern Blumen, Würste, Fische, ausgesprochen praktische Haushaltgeräte oder Wunderputzmittel anpreisen, nutzen sie als Podest für ihre Verkaufsshows. An anderen Tagen spielen dort oben Straßenmusikanten.
In den warmen Monaten des Jahres sitzt Ralf Kanitz häufig abends vor der Bühne auf einer der von der Kreissparkasse gestifteten Holzbänke.
Gestern standen Jugendliche auf der Bühne, rauchten Zigaretten, tranken Bier aus Flaschen. Im Hintergrund umschlang sich ein Liebespaar. Die blonde langhaarige Schöne lehnte mit dem Rücken am rechten der beiden hinteren Pfeiler. Er, ein kurzhaariger Muskelmann, drückte sie an sich, küsste ihr hastig Mund, Hals und Brustansatz, drängte mit seinem Bein zwischen ihre Oberschenkel und massierte ihr den in die enge Jeans gezwängten Hintern.
Leute in Ralfs Alter saßen offenbar lieber auf den Bänken rundum, tuschelten, lachten oder sahen schweigend zu.
Kanitz war ein Schweiger. Er wollte raus, unbemerkt und vor allem aus sich. Doch auch er blieb, saß und wartete.
Seine Monika, gerade einmal 58 Jahre alt, starb vor zwei Jahren. Lungenkrebs. Judith, ihre gemeinsame Tochter lebt seit acht Jahren mit ihrem Mann in Neuseeland.
Bei Monikas Beerdigung sah er seine zweijährige Enkelin Luna zum ersten Mal. Als er sie kurz auf dem Arm trug, begann sie zu weinen und rief nach ihrem Papa.
Schulter zuckend nahm sein Schwiegersohn ihm die Enkelin ab und lächelte. „Sie hat Angst vor alten Männern! Mein Vater hat bei ihr auch keine Chance.“
Letztes Jahr zu seinem siebzigsten Geburtstag schickte Judith ihm aus Neuseeland ein Bild. Luna hatte es gemalt. Auf einem karrierten Blatt – offenbar aus ihrem Schulrechenheft.
„Das bist du Opa!“ stand unter dem Männerkopf mit Schlitzaugen, drei aufrechten und zwei waagerechten Stirnfalten und einem schmallippig verschlossenen Mund.
Kanitz trug das Bild in der Innentasche seiner Jacke. Saß er an der Naturbühne, nahm er es häufig heraus, versuchte, auf es einzureden. „Ruhig bleiben, Mann, ganz ruhig…!
Luna geht inzwischen seit ein paar Monaten in Neuseeland zur Schule.

Das Mädchen auf dem Einrad ist vermutlich auch so alt wie Luna. Äußerst geschickt, balanciert es auf der Bühne mit seinem wackeligen Gefährt. Kanitz hat Angst, es könne stürzen, wünscht aber gleichzeitig, es möge umkippen.
Er würde auf die Bühne steigen. Ihm helfen, es trösten, falls es weinen sollte. Es würde bestimmt weinen.
Trägt nicht mal Knieschützer an den nackten dünnen Beinen, die aus kurzen, viel zu weiten Jeans ragen.
Eigentlich müsste Ralf ihm das Einrad sofort wegnehmen. Aber Kinder brauchen kleine Gefahren gegen die Langeweile.
Die braunen kurzen Locken des Mädchens wippen. Es hält die Balance, selbst jetzt, da es auf der Stelle hin- und herfährt.
Ralf sieht einen älteren Jungen kommen, einen Fußball unter dem Arm. Der Junge schaut eine Zeit lang zu, holt plötzlich mit dem Ball aus und wirft. Das Mädchen springt ab, kurz bevor das Rad vom Ball getroffen wird. Der Junge läuft dem von der Bühne rollenden Fußball hinterher. Kaum hält er ihn in beiden Händen, rennt er an Ralf vorbei zur Bühne zurück. Kanitz greift nach dem Ball. Grinsend weicht der Junge aus, steigt hinauf, wirft und trifft.
Das Mädchen stürzt auf die grauen Steinplatten. Der Junge lacht auf und springt von der Bühne.
Ruckartig erhebt Ralf sich von der Bank, klettert auf die Bühne und beugt sich über das Mädchen. Beide Knie bluten. Die Kleine sieht Ralf aus tränengefüllten Augen an. Er will ihr tröstend über die braunen Locken streicheln.
Sie schreit. Schrill. Wortlos. Springt auf, greift nach ihrem Rad. Der Junge mit dem Fußball taucht neben der Bühne wieder auf. Ralf greift sich die Kleine. Hält sie fest. Sie schlägt um sich, beißt ihn in die Hand. Der Junge zerrt an ihr. „Lass sie los, Alter. Lass sie sofort los.“
Eine Frau mit strähnig grauem Haar baut sich neben Kanitz auf. „Lassen Sie das Kind los…! Oder ist das ihre Enkelin?“
Ralf schüttelt den Kopf. „Die darf ich auch nicht anfassen.“
Er lässt den Arm des Mädchens los. Der Junge und die Kleine fallen auf den Rücken.
„Dass alte Männer immer so ungeschickt sein müssen!“ Die Grauhaarige bückt sich und hilft dem Mädchen auf die Beine. „Deine Knie bluten ja:“ Das Kind nickt und beginnt lauter zu weinen. „Komm, ich nehme dich eben mit nach Hause, da verbinde ich dir die Knie.“
Der Junge mit dem Fußball folgt ihnen.

Die Bühne ist leer. Allein Ralf Kanitz steht noch genau in der Mitte. Nur ein älteres Paar sitzt unten auf einer der Bänke. Ralf streift den Riemen seiner Gitarre über die Schulter und beginnt zu spielen. Langsam. Dann hastiger. Dabei dreht er sich um sich selbst. Immer schneller. Dann wird es dunkel.
 

Clara

Mitglied
ja, aber so, das die Frau die hinzukommt, wer weiss was denkt, wenn sich ein älterer Herr ums Kind kümmert?
Klar - würde auch genau hinschauen.



"am Spieß", schreien wie am Spiess, grins.
 
Die Naturbühne steht nicht in der Natur sondern mitten im Zentrum der Fußgängerzone von Willenstedt. Das rankende Efeu an den vier Pfeilern, auf denen das hölzerne Dach ruht, hat ihr wohl kaum den Namen eingebracht. Eher die Natursteine, aus denen einst die Stadtväter sie erbauen ließen. Die kleine runde Bühne stammt aus den Nachkriegsjahrenjahren, als ein musikliebender Bürgermeister namens Strauss seine Parteifreunde im Rat der Stadt überzeugen konnte, dass Willenstedt eine friedliebenende Musikstadt sei, in der Musikkapellen und Chöre Jahrhunderte alte Traditionen pflegen. Selbst die Opposition soll damals zugestimmt haben. Der kleine Bau wurde mit einem großen Musikfest eingeweiht. Bürgermeister Strauss lud aus Nachbar-Städten und Kreisen Musiker und Sänger ein. Sogar eine Feuerwehrkapelle aus der belgischen Partnerstadt kam. Die bronzene Gedenktafel an einem der Pfeiler erinnert an den verstorbenen Bürgermeister und das fast 50 Jahre zurückliegende Friedensmusikfest.
Ralf Kanitz sieht seine Welt nur durch zusammengekniffen Lider. Damals auf dem Fest wollte er mit seiner Gitarre auftreten. Ein paar einfache Stücke konnte er spielen. Die Titel aus dem Gitarrenübungsheft für Fortgeschrittene hatte er längst vergessen. Er passe leider nicht zu dem gehobenen Bühnenprogramm, teilte ihm der Bürgermeister mit.
Ralf hatte bald danach die tägliche Gitarrenübungsstunde aufgegeben.
Neulich hat er den Dachboden aufgeräumt. Die Gitarre lag in einer Ecke hinter einem Regal mit alten Einmachgläsern. In einem verstaubten Sack. Nur noch mit einer Darm-Saite bespannt. Er zupfte vorsichtig. Widerwillig gab sie einen dumpfen Ton von sich.
Rund um die Naturbühne findet seit Jahren freitags ein Wochenmarkt statt. Marktschreier, die lautstark Blumen, Würste, Fische, ausgesprochen praktische Haushaltgeräte oder Wunderputzmittel anpreisen, nutzen die Bühne als Podest. An anderen Tagen spielen dort oben Straßenmusikanten.
In den warmen Monaten des Jahres sitzt Ralf Kanitz häufig abends vor der Bühne auf einer der von der Kreissparkasse gestifteten Holzbänke.
Gestern standen Jugendliche auf der Bühne, rauchten Zigaretten, tranken Bier aus Flaschen. Im Hintergrund umschlang sich ein Liebespaar. Die blonde langhaarige Schöne lehnte mit dem Rücken am rechten der beiden hinteren Pfeiler. Er, ein kurzhaariger Muskelmann, drückte sie an sich, küsste ihr hastig Mund, Hals und Brustansatz, drängte mit seinem Bein zwischen ihre Oberschenkel und massierte ihr den in die enge Jeans gezwängten Hintern.
Leute in Ralfs Alter saßen offenbar lieber auf den Bänken rundum, tuschelten, lachten oder sahen schweigend zu.
Kanitz war ein Schweiger. Er wollte raus, unbemerkt und vor allem aus sich. Doch auch er blieb, saß und wartete.
Seine Monika, gerade einmal 58 Jahre alt, starb vor zwei Jahren. Lungenkrebs. Judith, ihre gemeinsame Tochter lebt seit acht Jahren mit ihrem Mann in Neuseeland.
Bei Monikas Beerdigung sah er seine zweijährige Enkelin Luna zum ersten Mal. Als er sie kurz auf dem Arm trug, begann sie zu weinen und rief nach ihrem Papa.
Schulter zuckend nahm sein Schwiegersohn ihm die Enkelin ab. „Sie hat Angst vor alten Männern! Mein Vater hat bei ihr auch keine Chance.“
Letztes Jahr zu seinem siebzigsten Geburtstag schickte Judith ihm aus Neuseeland ein Bild. Luna hatte es gemalt. Auf einem karrierten Blatt – offenbar aus ihrem Schulrechenheft.
„Opa!“ stand unter dem Männerkopf mit Schlitzaugen, drei aufrechten und zwei waagerechten Stirnfalten und einem schmallippig verschlossenen Mund.
Kanitz trug das Bild in der Innentasche seiner Jacke. Saß er an der Naturbühne, nahm er es häufig heraus, versuchte, auf es einzureden. „Ruhig bleiben, Mann, ganz ruhig…!

Das Mädchen auf dem Einrad ist vermutich so alt wie Luna. Äußerst geschickt, balanciert es auf der Bühne mit seinem wackeligen Gefährt. Kanitz hat Angst, es könne stürzen, wünscht aber gleichzeitig, es möge umkippen.
Auf die Bühne würde er steigen. Ihm helfen, es trösten, falls es weinen sollte. Es würde bestimmt weinen.
Trägt nicht mal Knieschützer an den nackten dünnen Beinen, die aus kurzen, viel zu weiten Jeans ragen.
Eigentlich müsste Ralf ihm das Einrad wegnehmen. Aber Kinder brauchen kleine Gefahren gegen die Langeweile.
Die braunen kurzen Locken des Mädchens wippen. Es hält die Balance, selbst jetzt, da es auf der Stelle hin- und herfährt.
Ein älterer Jung kommt, einen Fußball unter dem Arm. Er schaut eine Zeit lang zu, holt plötzlich mit dem Ball aus und wirft. Das Mädchen springt ab, bevor das Rad vom Ball getroffen wird. Der Junge läuft dem von der Bühne rollenden Fußball hinterher. Kaum hält er ihn in beiden Händen, rennt er an Ralf vorbei zur Bühne zurück. Kanitz greift nach dem Ball. Grinsend weicht der Junge aus, steigt hinauf, wirft und trifft.
Das Mädchen stürzt auf die grauen Steinplatten.
Ruckartig erhebt Ralf sich von der Bank, klettert auf die Bühne und beugt sich über das Mädchen. Beide Knie bluten. Die Kleine sieht Ralf aus tränengefüllten Augen an. Er will ihr tröstend über die braunen Locken streicheln.
Sie schreit. Schrill. Wortlos. Ralf greift sich die Kleine. Hält sie fest. Sie schlägt um sich, beißt ihn in die Hand. Der Junge zerrt an ihr. „Lass sie los, Alter. Lass sie sofort los.“
Eine Frau mit strähnig grauem Haar baut sich neben Kanitz auf. „Lassen Sie das Kind los…! Oder ist das ihre Enkelin?“
Ralf schüttelt den Kopf. „Die darf ich auch nicht anfassen.“
Er lässt den Arm des Mädchens los. Der Junge und die Kleine fallen auf den Rücken.
„Dass alte Männer immer so ungeschickt sein müssen!“ Die Grauhaarige bückt sich und hilft dem Mädchen auf die Beine. „Deine Knie bluten ja:“ Das Kind nickt und beginnt lauter zu weinen. „Komm, ich nehme dich eben mit nach Hause, da verbinde ich dir die Knie.“
Der Junge mit dem Fußball folgt ihnen.

Die Bühne ist leer. Allein Ralf Kanitz steht in deren Mitte. Nur ein älteres Paar sitzt unten auf einer der Bänke. Ralf streift den unsichtbaren Riemen seiner unsichtbaren Gitarre über die Schulter und beginnt zu spielen. Langsam. Hastiger. Dabei dreht er sich um sich selbst. Immer schneller.
 



 
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