Das Märchen von Pepe, der bei den Fischen lebte

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knychen

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Das Märchen von Pepe, der bei den Fischen lebte

Wer sagt denn, dass Märchen nur in grauen Vorzeiten spielen. Wo unentwegt Prinzen durch tiefe Wälder reiten, allenthalben Drachen töten, Einhörner ausrotten und die Wildsau auf die Lanze gespießt vor sich hertragen. Nur um am Ende die heruntergekommendste Hälfte des schwiegerelterlichen Grund und Bodens nebst einer zickigen Prinzessin zu bekommen, die wahrscheinlich alles dreimal täglich will.
Nein, Märchen geschehen auch heute noch und ich habe eins erlebt, vor GAR NICHT allzu langer Zeit.
Es war im Sommer vor einigen Jahren.
Ich fuhr an einem späten und heißen Samstagnachmittag auf Madrid zu, war circa hundertfünfzig Kilometer vor dem Zielort, also schon fast da, und ich musste erst am Montagmorgen ausladen. Ein schöner Abend und ein freier Sonntag standen mir bevor.
Ich war in Hochstimmung.
An einem der wenigen Stauseen vorbeifahrend, entdeckte ich einen schattigen Parkplatz - doch, so was gibt’s - und ließ den Lkw ausrollen. Als die Staubwolke sich gesetzt hatte, öffnete ich die Fahrertür und ein Schwall heißer Sommerluft strömte in die klimatisierte Hütte. Aber nicht nur Hitze war da.
Es roch trotz der Wärme frisch vom See her.
Eine gute halbe Stunde verging noch mit dem Schreibkram der Woche, dann stieg ich das erste Mal aus und lief, die Hände in den tiefen Taschen der kurzen Bundeswehrhosen vergraben und den Strohhut auf dem Kopf, zum Wasser.
‚Baden würde wohl nichts bringen in der Brühe’ dachte ich bedauernd. ‚Aber die Füße ins Nasse baumeln lassen ist ja auch ganz schön’.
Ich drehte mir ein Zigarettchen, setzte mich unter einen Uferbaum und ließ die vergangene Woche am umgedrehten Spieß an mir vorbeifahren. Nach einer langen Weile schlenderte ich zum Auto und holte mir eine Flasche Rotwein; einen Village aus dem Rhonetal, rechtes Ufer, wo die sanfte Landschaft schneller in die unwirtliche Garrique übergleitet als auf der provenzalischen Seite. Ist meine bevorzugte Gegend.
Auf dem Weg zurück zu meinem Baum zog ich kurz und schmerzlos den Korken aus der Flasche, begutachtete ihn, schnupperte daran und freute mich.
Eine weitere lange Weile versüßte ich mir mit einem Zigarillo, dann nahm ich den ersten Schluck direkt aus der Flasche.
Inzwischen war die Sonne irgendwo hinter mir am Versinken. Es wurde schnell dunkel und ein nicht ganz voller Mond eierte aus dem Schattenriss über der anderen Seeseite.
Das metallische Geräusch der Zikaden begann gerade abzuschwellen, als plötzlich eine dunkle, etwas heisere Stimme aus wenigen Metern Entfernung sagte: „Schöner Abend heute.“
„Si, si!“ antwortete ich verwirrt, denn ich hatte niemanden kommen hören.
Da saß wer weiß Woher ein alter Mann gleich mir im Gras und ließ die Füße ins Wasser hängen.
„Das war nicht immer ein See hier“ meinte er, „sah früher ganz anders aus.“
Sein Kopf nickte in Richtung Mond. „Kennen Sie die Geschichte dieses Tales?“
„No, no, Senor, ich kenne die Geschichte nicht, aber ich liebe Geschichten. Schluck Wein gefällig?“
Ein verächtliches Grunzen. „Ist ja eh bloß französisches Agua. Riech ich doch. Danke, ich habe alles, was ich brauche.“
Er setzte sich zurecht und im Mondlicht konnte ich nun erkennen, dass er eine grobfleckige Haut hatte, kahl war und ein eigenartiger zotteliger Bart sein Gesicht rahmte. Und hervorstehende Basedowaugen schien er zu haben, aber das konnte auch am Zwielicht der noch jungen Nacht liegen.
Mit der Hand schöpfte er ein bisschen Kühle aus dem See und ließ es über seine Stirn rieseln.
„Vor vielen Jahren gab es hier noch keinen See. Ich weiß nicht wie lange es her ist, ich habe aufgehört, die Jahre zu zählen, aber ein Fluss schob sich gemächlich durch das Tal.
Das Besondere daran war: er führte ganzjährig Wasser.
Gerade hier, ein paar hundert Meter Richtung Seemitte wohnte ein Fischer mit seiner Frau.“ Mit einer Handbewegung wollte ich ihn bremsen, aber er redete einfach weiter.
„No, no, nicht was Sie jetzt denken, das wäre ja ein Märchen von der deutschen Ostseeküste, Hab selbst Verwandtschaft da oben. Ich will ihnen auch gar kein Märchen erzählen, die Geschichte ist wirklich passiert.
Der Fischer wohnte also da unten, seine Frau, seine paar Ziegen und vor allem sein vor wenigen Wochen geborener Sohn Pedro, den sie beide zärtlich Pepe nannten.
Mit dem täglichen Fang hatten sie ihr Auskommen, konnten ganz gut davon leben.
Sie waren nicht mehr die Jüngsten. Lange Zeit hatten sie auf ein Kind gewartet, umso mehr liebten sie ihr spätes Glück.
Nun gehörte das Land aber einem König und der hatte bei anderen Königen in Europa gesehen, dass die alle schon elektrisches Licht bei Hofe hatten, nur er noch nicht.
Er wies seine Minister an, ihm elektrischen Strom zu beschaffen, Basta.
Die Minister berieten sich und kamen zu dem Schluss, ausländische Ingenieure mit dem Bau eines Staudammes zu beauftragen.
Als die Mauer fertig war, stieg das Wasser schnell und jetzt erst fiel den Ministern ein, dass auf dem künftigen Gewässergrund noch Leute wohnten.
So wurden eines Morgens der Fischer und seine Frau von den Soldaten des Königs brutal aus dem Schlaf gerissen. Zu schnell verflog die Schrecksekunde, um noch das Bündel Leben aus der Wiege zu reißen. Mit rohen Worten verhöhnten die Landsknechte das Paar und sie zerrten es mit sich fort. Noch lange Zeit hallten die Schreie der Mutter durch die Gegend.
Pepe blieb allein, aber unbeschadet in der Hütte.
Das Kind begann irgendwann zu schreien, schlief wohl wieder ein, schrie erneut und am nächsten Morgen weichte das erste Nass den harten Lehmboden.
Am Abend sah man den Boden schon nicht mehr, stattdessen schwappte eine trübe Brühe durch die Hütte. Hier und da schwammen ein paar Kleintiere um ihr Leben. und Pepe zappelte immer noch.
In dem Fluss, der sich so rasant zu einem See anstaute, lebte neben vielen anderen Fischen ein kleiner Barsch namens Percy. Der war überaus neugierig und schwamm als Erster in das Menschenhaus. Alles wollte er wissen, gar nicht schnell genug konnte ihm das Wasser steigen. Als das Wasser so weit gestiegen war, dass die Seile, mit denen die Wiege im Gebälk festgezurrt war, ein wenig durchhingen, hörte Percy ein seltsames Geräusch. Es klang wie ein Heulen und Jammern. Er schwamm dem Ursprung entgegen und befand sich bald unter einem braunen Ding, das aussah wie eine riesige Muschelschale. Das war das Bett des kleinen Pepe und von dort kam das Geräusch.
Die Neugier trieb den kleinen Naseweis zum Äußersten. Er schwamm ein Stück zurück und nahm reichlich Anschwimm.
„Ich muss wissen, was das ist, uuuunnndd huppp………“
Percy gab Alles. Er flog durch die Luft und landete bäuchlings mitten in der Muschelschale auf etwas Trockenem. Das war eklig, aber auch aufregend, denn direkt vor ihm und unter ihm bewegte sich ein kleiner Mensch, kleiner als er je einen Menschen gesehen hatte. Schnell wurde Percy die Luft knapp. Er spannte seinen grünlichen Körper wie eine Zandergräte, schnellte empor und landete tatsächlich wieder im Wasser.
Er war klug, der kleine Percy. Er dachte sich, wenn ich dort keine Luft bekomme, bekommt das kleine Menschlein hier unten keine und dass der Kleine bald bei uns liegt, das sieht doch wohl Jeder.
Percy wollte helfen.
So schnell ihn seine Flossen trugen, schwamm er zu Großvater Silur.
„Abuelo, Abuelo!“ rief er, „ein Menschlein wird sterben. Wir müssen ihm helfen.“
Abuelo Silur, der alte Wels, wohnte ganz unten in der alten Flussmitte. Er war damals schon ein Greis und er wusste viel. Da er sich futtermässig aus Jungfischen nichts machte, lagen sie ihm die ganze Zeit auf der Haut und erbettelten Geschichten. Er war sozusagen die Vertrauensperson aller Halbwüchsigen.
Der alte dicke Wels ließ sich alles erklären, stellte ein paar Fragen und um sich vom Wahrheitsgehalt zu überzeugen, entschied dann, sich die Sache selbst anzusehen.
Tatsächlich, ein lebendes Menschenkind lag in einer Art Wanne. Silur besah es sich genau und erkannte, das dem Menschlein eigentlich nur ein paar Kiemen fehlten, dann sollte es wohl im Wasser leben können
Mit der Eitelkeit alter Leute redete er das Problem klein und sagte zu Percy: „Wenn du mir die Kiemen eines jungen Karpfen besorgst, mach ich, dass es atmen kann. Aber du hast nicht viel Zeit, bald ist das Haus voll Wasser.“
Percy überlegte und überlegte, aber wie er es auch drehte und wendete, es schien kein Weg an Don Lucius vorbei zu führen. Und davor hatte der kleine Barsch Angst.
Don Lucius war ein Hecht in den besten Jahren, aggressiv und voller Fresslust. Er lebte überall im Fluss und konnte jederzeit aus dem grünlichen Halbdunkel schießen. Sein mit vielen scharfen Zähnen besetztes schnabelartiges Maul war gefürchtet von der Quelle bis zum Meer.
Am frühen Morgen hatte Percy die Schmerzensschreie eines Karpfens gehört, das konnte eine Spur sein. So vorsichtig er konnte schwamm er zu der Stelle, hielt sich im Hellen und rief immer wieder laut: „Don Lucius, Don Lucius!!“
Und wirklich, ganz dicht neben ihm schob sich langsam der perfekt getarnte Körper des grausamen Räubers aus den Pflanzen. Er kaute gelangweilt auf einer langen Gräte herum.
„Ich habe nichts zu Essen bestellt, warum störst du mein Schläfchen?“
„Ich wollte Euch nicht stören, Don Lucius, Abuelo Silur schickt mich“ log er ein bisschen. „er braucht die Kiemen von einem jungen kräftigen Karpfen und er meinte, dass Ihr der Einzige wäret, der so etwas besorgen kann.“
„Soso, ein paar Kiemen, wozu soll das gut sein?“
Percy sah die Größe des Hechtes und dachte an das kleine Menschlein, er dachte an die Gefräßigkeit des Räubers und an das rosige Fleisch des zappelnden Bündels in dem Menschenhaus.
„Ich soll dem Großvater einen Rückenkratzer basteln“ antwortete er schnell.
Don Lucius lachte. „Na, mir soll es gleich sein. Da hinten an der Muschelbank liegt der Kopf meines Frühstücks, nimm dir, was du brauchst. Dann aber ab mit dir, bevor ich wieder Hunger kriege.“ Langsam, wie er erschienen, verschwand der große Hecht wieder rückwärts im Blätterversteck.
Der kleine Barsch bedankte sich und schwamm zur Muschelbank. Dort besah er sich den Karpfenkopf, holte flink ein paar Freunde und gemeinsam legten sie den Kopf auf ein großes Blatt. Das Blatt mit den Vorderflossen haltend, schleppten sie es zu der Menschenhütte.
Abuelo Silur war inzwischen etwas eingenickt. Sie weckten ihn und zeigten stolz auf die schönen und unbeschädigten Kiemen. Silur, der nicht damit gerechnet hatte, dass Percy in der zur Verfügung stehenden Zeit das Geforderte beschaffen kann, hatte nun ein schwieriges Stück Arbeit vor sich.
Wenn das Wasser tief genug wäre, dass man sich unter dem Kinderbettchen problemlos bewegen konnte, so erklärte er den Jungfischen, musste das Bett umgedreht werden. Dem Kind wollte er dann so schnell als möglich zwei Schnitte mit einer geschliffenen Muschelschale unterhalb des Kiefers versetzen und dort die Kiemen anbringen. Dann würde sich zeigen, ob das Menschlein lernfähig genug wäre, mit diesen Hilfsmitteln im Wasser zu atmen.
Im entscheidenden Moment klappte alles wie am Schnürchen. Hochkonzentriert halfen Percy und seine Freunde, selbst Großvater Silur zitterte nicht ein bisschen, als er mit seinen Bartgrannen die Muschelscherbe führte. Er schmierte noch ein Gemisch aus Fischschleim und Tonerde über die Wundränder und nach wenigen Augenblicken hatte der kleine Menschenkörper begriffen, wozu die Kiemen gut waren. Einige Unregelmäßigkeiten gab es zu Beginn, doch bald hoben und senkten sich die neuen Körperteile in einem gleichmäßigen Takt.
Schwimmen schien der Kleine schon zu können, wenn auch etwas unbeholfen. Aber er lernte schnell dazu.
Am Anfang verschluckte er noch viel Wasser, darum nannten sie ihn „Bebedor“, woraus dann irgendwann „Bebe“ wurde. Und weil Barsche kein weiches „B“ aussprechen können, hatte der Kleine durch Zufall den gleichen Namen wie vorher, nämlich Pepe.
Pepe wuchs schnell. Er schwamm bald selbst wie die kleinen Barsche, die natürlich seine besten Spielkameraden wurden. Gemeinsam lernten sie das Jagen und Sichverstecken. Wenn doch einmal einer von den größeren Räubern gefressen wurde, so war das eben der Lauf der Dinge. Pepe drohte eigentlich nur von Don Lucius Gefahr, doch ab einer gewissen Größe hatte auch dieser kein Interesse mehr an ihm.
Eines Tages fand Pepe auf dem Gewässergrund ein verrostetes Messer. Er erkannte sofort den Sinn des Gerätes und band es sich mit einem Binsengürtel um die Hüfte. Von nun an brauchte keiner seiner Freunde mehr befürchten, in einem Fischernetz gefangen zu werden. Kein Hilferuf, der Pepe erreichte, verhallte ungehört. Seine Befreiungsaktionen machten ihn im ganzen Fluss beliebt und bei den Fischern, die sich schon lange wieder an den Ufern des Stausees angesiedelt hatten, entstand langsam das Gerücht eines unsichtbaren Wassergeistes.
Als Pepe ungefähr fünfzehn Jahre alt war, seine ersten Spielkameraden hatten schon lange den Weg aller Fische genommen, saß er eines Tages müde bei Silur.
„Was ist mit dir, Hijo?“ fragte der Alte. „Was treibst du nachts, dass du am Tage beim Schwimmen fast einschläfst?“
Pepe druckste erst ein wenig herum, merkte dann aber, dass es ihm gut tat, von seinem Kummer zu erzählen.
„Ich habe doch schon lange gemerkt, dass ich keiner von euch bin und als ich vor einigen Nächten rücklings über den See trieb und die Sterne nach meinen Eltern befragen wollte, hörte ich einen Ton, wie ich noch keinen gehört hatte. Ohne zu Plätschern näherte ich mich diesem Klang und kam so ganz dicht an das linke Ufer. Dort stand eine Menschin mit langen schwarzen Haaren und einem weißen Gewand. Das Mondlicht schimmerte so silbern auf ihrem Gesicht, das Haar wallte so herrlich über ihre ebenmäßige Gestalt, das ein seltsames Gefühl in meiner Brust emporstieg.
Sie sang.
Sie sang so klar und rein, dass ich unwillkürlich an die Quelle dieses Flusses denken musste, von der du mir einmal erzählt hast.
Dann wusch sie ihr Haar und dann kämmte sie es.
Und die ganze Zeit sang sie.
Ich hätte mitsingen mögen, aber mit dem Maul über dem Wasser bekam ich keinen Ton heraus.
Als sie sich umdrehte und langsam aus dem hüfttiefen Wasser stieg, dachte ich, mein Hals müsste platzen, so mühte ich mich, ihr ein ‚Bleib!’ nachzurufen.
Plötzlich ging es.
Unbeholfen versuchte ich, ihre letzte Melodie nachzusingen. Poseidon sei es gedankt drehte sie sich um und rief: ‚Wer ist da?’
Ich verstand die Sprache, weiß der Krebs woher. Erinnerungen schossen mir durch den Kopf, Erinnerungen an eine Frau, die genauso schön war wie dieses Mädchen und ebenso herrlich gesungen hatte.
Das Mädchen kam nah an das Ufer und auch ich näherte mich auf drei Körperlängen.
‚Wer bist du? fragte sie. Ich antwortete ihr, mein Name sei Pepe und das ich hier lebe.
‚Du musst der Geist sein, welcher den Fischern immer wieder ihre Netze zerschneidet’ rief sie: ‚Sie verfluchen dich Alle.’
Ich versuchte mich zu verteidigen. ‚Sie fangen mehr als sie essen können, das ist verboten’ erklärte ich ihr.
‚Aber sie verkaufen den Fisch und leben davon’ meinte sie.
Das verstand ich nicht.
Ich fragte sie, ob sie das letzte Lied noch einmal für mich singen würde, es käme mir bekannt vor.
‚Meine Amme hat es mir immer vorgesungen’ sagte sie und erzählte weiter, dass dieser Amme wohl in sehr früher Zeit ein eigenes Kind gestorben sei, zur gleichen Zeit wie die Mutter des Mädchens; dass die Amme sich ihrer angenommen habe und ihr die gleichen Lieder vorsang, die sie vordem für ihren Sohn hatte.
Sag mir; Großvater, was ist es, dass ich hier nicht verstehe; dass ich gleichzeitig traurig und glücklich bin?“
Abuelo Silur war natürlich längst im Bilde.
„Triffst du dich wieder mit ihr?“
Pepe nickte. „Immer wenn Halbmond ist sind wir verabredet.“
„Sag ihr, dass du der kleine Sohn der Amme bist, dass ihr mit der gleichen Milch genährt seid.
Und wenn dein Herz es will, frag, ob sie einen weisen Menschen kennt, der dich wieder bereit machen kann für ein Leben auf der anderen Seite des Wassers.
Ich habe dir damals die Kiemen eingesetzt, aber nun sind meine Augen nicht mehr so gut und meine Barteln nicht mehr so sicher, ich getraue mich nicht, es rückgängig zu machen.“
Pepe berichtete all dies dem Mädchen, sie hieß glaube ich Maria, und Maria, die vom ersten Augenblick an in Pepe die Liebe ihres Lebens sah, dachte sofort an ihre alte Amme. Das war ein Wiedersehen nach fünfzehn Jahren. Nie hatte die Alte die Hoffnung aufgegeben, dass jemand ihren Sohn gerettet hätte und all ihr Wissen über Kräuter und Gebrechen nutzend, entnahm sie dem jungen Manne die Kiemen, strich heilkräftige Salben darüber, murmelte Beschwörungen und nach weniger als einem Mond konnte Pepe atmen wie jeder andere Mensch auch.
Ab und an kam er noch an den See, steckte den Kopf ins Wasser und rief nach Abuelo Silur.
Dann berichtete er vom Leben bei den Menschen, unterwies den Großvater in der Menschensprache und eines Tages sagte er, er werde lange Zeit nicht wieder kommen. Er lerne viel und gut und wollte das erworbene Wissen seiner Mutter und das des Großvaters vertiefen und nutzen. Dazu müsse er an einen Ort reisen, der weit entfernt liege.
Das war die letzte Begegnung von Silur und Pepe, der sich nun, weil er ja zwei Namen brauchte, Pepe Pescado nannte.“

Mit den letzten Worten des Alten erstarb jedes Geräusch und nur ein unbestimmbares Raunen war noch zu hören, vielleicht das des eigenen Blutes.
Nach einer kurzen Weile, ich dachte, der Alte wollte nur verschnaufen, schaute ich zu ihm hinüber.
Aber da war niemand mehr.
Ich hatte rücklings im Gras gelegen, durchaus möglich, dass ich auch eingeschlafen war. Der Alte saß jedenfalls nicht mehr dort.
Zurück im Lkw kroch ich ins Bett und schlief bis die Vormittagssonnenstrahlen mich weckten.
Am Montagmorgen fuhr ich die restlichen Kilometer, wurde bei dem Kunden entladen und als ich die Plane verschnüren wollte, rutschte die Leiter weg und ich stürzte ab. Ist ja eigentlich nicht hoch, aber instinktiv versuchte ich mich mit einer Hand abzufangen und das macht kein Handwurzelknochen mit. Dafür ist er einfach nicht ausgelegt.
Innerhalb von Minuten wurde der Handrücken groß wie ein Boxhandschuh, erst weinrot, dann lila. Der Schmerz, der erst einen Augenblick später einsetzte, ließ meinen Magen Karussell fahren und meine Knie weich werden.
Der Lagermeister reagierte sofort. Er rannte zum Telefon. Dann zog er seinen Kittel aus, holte ein Auto, fragte immer wieder in meine Richtung etwas von „Seguro“ und fuhr mich endlich zu einem Arzt.
Wenn ich einen alten spanischen Granden beschreiben müsste, würde ich sagen, er sieht aus wie der alte Arzt damals in diesem kleinen Madrider Vorort.
Schneeweißes, streng nach hinten gekämmtes schulterlanges Haar, eine hohe Stirn, eine kühn geschwungene Nase und einen geraden Mund, der, umgeben von einem ebenfalls weißen Vollbart das Gesicht nach unten hin zu einem spitzen Abschluss brachte. Es fehlte nur noch die gefältelte Halskrause. Der Arzt war mittelgroß und hielt sich sehr gerade.
Die Praxis schien für einen kleinen Patientenkreis eingerichtet zu sein, der Doktor war wohl nicht mehr auf die Einnahmen angewiesen.
Er besah sich meine Hand, massierte den schmerzenden Handrücken, tastete die einzelnen Knochen ab und seltsamerweise ließ der Schmerz schon bei dieser ruhig und bedachtsam ausgeführten Behandlung deutlich nach. Von meinem Begleiter ließ er sich schildern, wie es zu der Verletzung gekommen war, strich noch eine kühlende Salbe auf und stellte die Finger mit einem straffen Verband ruhig.
Beim Notieren meiner Angaben- Name, Wohnort, usw.- bemerkte er beiläufig: „Ach, Sie kommen aus Deutschland. Ich habe einige Jahre in Heidelberg studiert. kennen sie Heidelberg?“
„Nur dort, wo Industrie ist, ansonsten ist die Stadt für mich mit meinem Lkw nicht geeignet. Zu enge Straßen. Aber irgendwann werde ich mir auch Heidelberg genauer anschauen.“
Er fragte dann noch nach Lebensgewohnheiten wie Alkoholkonsum, ob Raucher oder nicht und ähnliches. Ich erzählte ihm, dass ich am vergangenen Samstagabend zwei Flaschen Rotwein getrunken hätte, dass so etwas aber die Ausnahme wäre.
Und dann, ich weiß nicht warum, fragte ich, ob er den Stausee kenne. Er sah mir gerade ins Gesicht und meinte, ja, er kenne den See ganz gut. Er habe einige Zeit dort gelebt.
Darauf berichtete ich ihm von der seltsamen Begegnung mit dem alten Mann am Ufer und dass ich bis jetzt noch nicht wüsste: Traum oder Wirklichkeit.
Er wollte die ganze Geschichte hören und danach sagte er: „Es spielt keine Rolle, ob es ein Traum oder eine wahre Geschichte ist. Warum sollte Geträumtes weniger wahr sein, als das, was wir im wachen Zustand zu sehen meinen.“
Er stand auf. „Ihre Hand ist nur gestaucht. Drei Tage kühlende Salbe, danach immer einen frischen Verband schön straff, dann sollte es überstanden sein. Meinen sie, dass sie damit ihren Camion fahren können?
„Ist ein Automatik. Ich sehe da kein Problem.“
„Ja dann, gute Besserung und gute Reise.“
Ich verabschiedete mich ebenfalls und als ich mich an der Haustür noch einmal umdrehte, las ich auf dem kleinen Marmorschild rechts neben dem Eingang
Cirujano
Pedro Pescado
während der Doktor mit kräftiger Stimme im Hausflur rief: „Vamos, Maria, pack ein paar Sachen zusammen. Wir fahren an den See. Ich glaube, der Großvater lebt noch!“
 

strumpfkuh

Mitglied
Lieber Knychen,
ich bin vollkommen begeistert von Idee und Ausführung dieser wunderschönen Erzählung.
Gratulation
L.G.
Doro
 

pink_elb

Mitglied
aw

hi kny,
mir ist was echt nettes beim lesen deiner geschichte passiert, dachte das solltest du wissen :) - bin so in das geschehen mit Pedro Pescado reingekippt, dass ich ganz vergessen habe, dass es ja um einen lkw fahrer geht der am strand liegt - richtig rausgerissen aus der geschichte hat´s mich - das mein ich aber eher positiv - passiert ja nicht oft, dass man so richtig "mitlebt" -
lg,
 

knychen

Mitglied
da bin ich aber beruhugt

hallo ihr beiden,
meine befürchtungen, die einleitung könnte deutlich zu lang sein, scheint sich nicht zu bewahrheiten. ich bin mir nicht mal sicher, welche geschichte der hauptteil ist; pepe oder die erlebnisse eines lkw-fahrers. aber keine anmerkungen darüber, wo es hakt oder nicht fließt, daß macht mich schon etwas mißtrauisch. also her mit der kritik, ich bin hart im nehmen. gruß aus berlin von knychen
 

knychen

Mitglied
das ist es doch

aber genau da liegt doch der unterschied zwischen geschichte und märchen. ein märchen wurde es erst durch das kennenlernen des arztes, die seltene situation, das eine fantasievolle, eigentlich unglaubhafte geschichte, durch das eigene erleben des happyends zu einem märchen wird.
um diese situation herauszustellen hab ich das "GAR NICHT" hervorgehoben. (siehe "EIN DICKES EI")
OK, vielleicht zu persönlich gedacht. war auch kein spontanes schreiben, sondern ein langer weg.
knychen
 

strumpfkuh

Mitglied
OK

ja, das kann ich nachvollziehen, aber große Teile des Märchens fanden ja schon ohne ihn statt. Vielleicht passt ein "miterlebt"?
Sehr nett auch das "Ein dickes Ei"!
L.G.
Doro
 



 
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