Das Märchen von Prinzessin Flocke

Tomatto

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Bevor die Strahlen der Sonne unsere Gärten und Wiesen
verzaubern, erreichen sie das Königreich Himmelblau. Sie
singen und lachen mit den Wolkenprinzessinnen und bald
tanzen sie mit den Wetterfeen hinab zur Erde.

„Genug!“
Prinzessin Flocke wackelte mit dem Zeigefinger und Humpel
spuckte ein Häufchen Hagelkörner auf den Himmelsboden. Es
donnerte leise im Bauch ihrer Lieblingshauswolke.
„Du frisst wie ein Elefant!“
„Töröö!“, trötete er fröhlich zurück.
Die beiden trainierten Humpels doppelte Seitwärtsrolle und
er verdiente seine Belohnung.
„Komm, wir gehen zurück ins Schloss.“
Ihr Vater schritt neben seiner Arbeitswolke auf und ab. Er
hielt einen Brief in den Händen, presste seine
eisblumenblauen Lippen fest aneinander und starrte auf
das Papier. Eine dunkel gemalte Regenwolke überdeckte eine
hellgelbe Sonne.
„Was ist los, Papa?“, fragte Prinzessin Flocke.
„Ich weiß es nicht.“, sagte dieser. „Ständig schreiben mir
Menschenkinder Briefe, weil es seit Tagen regnet. Alle
spielen nurmehr in ihren Zimmern, weil draußen alles nass
ist.“
„Frag doch die Wetterfeen um Rat.“, schlug Flocke vor.
Ihr Vater streichelte mit einer Hand über seinen
Wolkenbart und murmelte: „Eine Versammlung ... daran hat
auch deine Mutter schon gedacht.“
„Oh ja, eine Versammlung! Darf ich mitmachen? Ich liebe
es, wenn die Feen von der Welt erzählen.“ Flocke klatschte
in die Hände und Humpel zog wilde Kreise über ihrem Kopf.
„Ein Kind würde sich bei so einer ernsten Angelegenheit
doch nur langweilen.“
Rote Flecken huschten über das Gesicht der Prinzessin, sie
stellte sich auf die Zehenspitzen und sagte: „Ich bin
schon fast so groß wie Humpel! ... wenn er schläft.“
Sie spitzte ihre Lippen zu ihrem süßesten Flüstern. „Und
Mama hat bestimmt nichts dagegen.“
Mit ihren hundertneunundsechzig Jahren bekam sie von ihrem
Vater so ziemlich alles, was sie wollte.
Das Abenteuer ging los.
Der Mond ragte den ganzen Tag wie ein silberner Spiegel
halb über den Horizont, über ihm strahlte die Sonne.
Flocke sah aus dem Fenster in ihrem Turm. Mit einem
Lächeln erinnerte sie sich an ihren letzten Badeurlaub auf
der Mondrückseite.
Die Feen flatterten in einem bunten Schauspiel aus allen
Windrichtungen auf das Schloss zu. Die Ältesten ritten auf
Schäfchenwolken, so sparten sie Kraft für die Versammlung.
Sie entschloss, nichts zu versäumen und lief hinunter in
den großen Saal. Ihr Vater erhob sich von seinem mächtigen
Thron, Mutter stand an seiner Seite. Flocke lehnte sich
mit der Schulter leicht gegen ihr Knie, als die Wetterfeen
in hellster Aufregung ihre Geschichten erzählten. Sie
handelten von Wolken in allen Ecken der Welt, die alle
vollkommen durch den Wind waren. Sie flögen hin und her
und hörten einfach nicht auf zu regnen. Alle rätselten,
woran es ihnen wohl fehlte.
„Vielleicht liegts am Wetter!“ rief eine (nicht besonders
kluge) Wolkenfee,
„Das ständige Schweben bekommt ihnen nicht!“, eine andere.
Flocke erinnerte sich an den Tag, an dem Humpel sich im
Schloss verlaufen hatte. Als sie ihn in den Gängen fand,
rollten dicke Wassertropfen aus seinem Bauch. Er weinte.
Flocke hielt ihr Versprechen, während der Versammlung zu
schweigen. Sie entschied, den Wolken zu helfen und ging
nachdenklich in ihr Zimmer. Dort rief sie einen
Sonnenstrahl zu sich und schickte ihn nach Humpel. Schon
bald holperte er durch die Tür.
„Warum sind die Wolken traurig?“, fragte sie ihn.
„Töröö!“, trompetete er, zerschmolz zu einer Regenwolke
und schwebte im Zimmer herum. Dabei schwang er seinen
Rüssel von links nach rechts und wieder nach links.
„Ich verstehe dich nicht. Zeig es mir!“
Humpel verwandelte sich zurück in das strahlend weiße
Wolkentier und schob Flocke zur Zimmertür. Wenn sie es
schafften, das Geheimnis zu lösen, würde Vater ihr
bestimmt endlich die Macht über das Wetter verleihen.
Sie schlich in die Küche und holte ein dickes Stück Käse
für die Reise. Dann schwang sie sich auf Humpels Rücken.
Das Gesetz sagte, Prinzessinnen dürften ihre Flügel nicht
benutzen. Es gehörte sich nicht. Und Humpel kannte den
Weg. Sie schwebten bis an die Grenzen des Königreichs
Himmelblau. Sie würden es heute zum ersten Mal verlassen,
ohne zu ahnen, wie viel Neues dort draußen auf sie
wartete.
Tief unter ihnen lag nun das Wolkenreich. Die Wetterfeen
erzählten, man sei dort so leicht wie eine Feder. Flocke
liebte die Vorstellung. Humpel ging ganz nahe an den Rand
und beugte seine Knie. Er deutete mit seinem wolkigen
Rüssel nach unten und flötete ein ermutigendes „Töröö!“
Prinzessin Flocke stockte der Atem. Sie schaute über den
Rand und der Boden drehte sich unter ihren Füßen. Mit
einem Satz sprang sie zurück: „Das ist nicht dein Ernst!“
Humpel drehte seinen Kopf zur Seite und tat, als hörte er
sie nicht.
Flocke knurrte: „Hrmmm ...“
Sie stellte sich an den Rand Himmelblaus. Unter ihren
Füßen lagen eine dünne Schicht Himmelsboden und viele
Meter Nichts. Irgendwo unten waberten Wolken. Ein
rüsseliges Etwas gab ihr einen Schubs.
„Du alte Socke!“ rief sie und sank hinab.
Sie drehte ihren Kopf und sah nach Humpel. Er lächelte
schief, während sie langsam tiefer glitt. Sie brauchte
bloß eine Hand auszustrecken, um sich zurück ins
Königreich Himmelblau zu ziehen. Flocke freute sich über
das tolle Gefühl, ohne Boden unter den Füßen sachte
dahinzuschweben. Ihre strahlendweißen Haare funkelten in
der Sonne und standen aufrecht auf ihrem Kopf. Es sah aus
wie eine echte Prinzessinnenkrone.
Humpel schwebte hinter ihr her. Am Wolkendach angekommen
hielt sie ihren Bauch vor Lachen und sprang wieder hoch
Richtung Sonne. Es war ein einziger Spaß. Ihr
Wolkenelefant übernahm die Führung. Wie in einer Welt aus
Watte brauchte man nirgends zu fürchten, sich anzustoßen.
Sie sprangen und sprangen bis sie merkten, dass es dunkel
wurde. Ein stückweit vor ihnen ragte ein einsamer
Berggipfel aus der Wolkendecke. Prinzessin Flocke wünschte
sich nachts festen Boden unter den Füßen und so landeten
sie auf seiner Spitze.
An einer Stelle wuchsen dichte Büschel von weichem,
braunem Gras. Flocke begann, daraus einen Schlafplatz zu
bauen. Sie zog mit beiden Händen und all ihrer Kraft an
einem davon, als eine Stimme losdonnerte: „Aua! Was zum
Einhorn fällt euch ein??“
Sie ließ los und ging einen Schritt zurück. Zwei riesige
Finger packten sie an den Flügeln und schon pendelte sie
vor einem fenstergroßen, kreisrunden Auge. Eine schwarze
Pupille, wie ein tiefer Brunnen, starrte sie daraus an.
Der einäugige Riese sagte mit tiefer, ruhiger Stimme:
„Erst kommt ihr hierher und stört mich beim Einschlafen,
und jetzt reißt ihr mir noch meine Haare aus? Das ist
nicht nett!“
„T ... Tut mir Leid ... ich dachte, das wären vertrocknete
Grashalme.“
„Grashalme? Auf meinem Kopf?! Frechheit!“, sagte der
Riese.
 



 
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