Das Meisterwerk

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Rainer Lieser

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Das Meisterwerk

Die Straßen waren leer an diesem Sonntag Nachmittag. Ein kühler Wind trieb eine Zeitung vor sich her. Der alte Rummelgut saß mit zufriedenem Lächeln auf dem Stühlchen vor seinem Trödelladen. Wie an jedem Tag im Jahr, ganz gleich ob Wochenende oder Feiertag, so hatte er auch heute sein Geschäft geöffnet, immer in der Hoffnung, es könne einmal wieder ein Kunde herein kommen. Doch Kunden kamen nur noch selten.
Am Himmel zogen sich die Wolken zusammen. Es fing an zu regnen. Ein Fremder kam die Straße herunter. Die Zeitung wehte direkt auf ihn zu. Der Regen wurde heftiger. Rummelgut wollte gerade in den Laden hinein gehen, als er aus dem Augenwinkel sah, wie der Fremde die Zeitung auffing und daraus mit wenigen Handgriffen, einen äußerst kunstvollen Regenschutz baute. Rummelgut traute seinen Augen kaum. Nie zuvor hatte der alte Mann so ein Geschick bei einem Menschen gesehen. Er rief den Fremden heran und lud ihn ein, mit in den Trödelladen zu kommen. Der Fremde trat näher. Er mochte vielleicht Mitte 20 sein, schätzte Rummelgut. Drinnen stellten sich die beiden einander vor. Marschik war der Name des Fremden.
„Nun, Marschik“ sprach Rummelgut „was führt Dich hierher?“
„Ich bin auf der Suche nach Arbeit.“
„Was kannst Du denn?“
„Ich kann Dinge schön aussehen lassen.“
Rummelgut erstaunte diese Antwort. „Kann man davon gut leben?“
„Meist kommt man damit aus. Ihr habt nicht zufällig bedarf an einem wie mir? Es gefällt mir hier sehr. Viele der Stoffe, Bänder und Metalle hier drin, sehe ich in dieser Art zum ersten Mal.“ Sagte Marschik voller Bewunderung.
„Meine Frau und ich sind früher viel gereist und haben die Dinge aus allen Herren Ländern zusammen getragen. Dann liessen wir uns in diesem Städtchen nieder und eröffneten den Laden. Vor sechs Jahren starb meine Frau. Von da an lief es mit dem Geschäft immer schlechter. Heute gibt es hier kaum noch etwas zu tun und einen Lohn könnte ich Dir schon gleich gar nicht zahlen. Nein, ich kann Dir keine Arbeit geben.“
Doch Marschik ließ das NEIN nicht einfach so gelten. „Wenn Ihr mir nur für ein paar Tage ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen und zu trinken gebt, soll mir das genügen. Seit Ihr am Ende der Woche immer noch der Ansicht, ich solle mich besser nach einer anderen Anstellung umsehen, dann werde ich das tun.“
Vielleicht würde durch den jungen Burschen ja frischer Wind in den Trödelladen Einzug halten, der am Ende gar ein paar Kunden in das Geschäft zurück brachte, dachte sich Rummelgut. Und gegen etwas Gesellschaft hatte er auch nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil. So willigte er nach dem anfänglichen Zögern nun doch noch ein.

Am nächsten Nachmittag betrat Frau Windrich den Trödelladen, in der Hoffnung, darin ein Geschenk für ihre Tochter, zu deren Hochzeit, zu finden. Rummelgut war Kundschaft kaum noch gewohnt. Voller Aufregung, benötigte er eine ganze Weile, bevor er eine kleine Auswahl an möglichen Geschenken zusammengestellt hatte. Eines unpassender als das andere, wie Frau Windrich stumm befand. Exakt um derartige Situationen zu vermeiden, hatte sie seit Jahren einen großen Bogen um den Trödelladen gemacht. Der Teufel musste sie geritten haben, ausgerechnet heute hier rein zu kommen, ärgerte sie sich. Wie der alte Mann sie nun mit großen Augen erwartungsvoll ansah, da konnte sie den Laden natürlich nicht gleich wieder verlassen, auch wenn sie das am liebsten getan hätte. Also deutete Frau Windrich auf eine verrostete Brosche, von der sie hoffte, dass sie nicht allzu teuer sei. Zu Gesicht bekommen würde ihre Tochter dieses hässliche Ding selbstverständlich nie, nahm sich Frau Windrich vor. „Eine feine Wahl“ bestätigte Rummelgut die Käuferin, die dabei kaum merklich den Kopf schüttelte. „Ich werde das gute Stück unverzüglich meinem neuen Assistenten geben, auf das er es für Ihre Tochter, dem Anlass angemessen, verpackt.“ Der alte Trödelhändler rief nach Marschik. Marschik kam mit etwas Papier, Stoff, ein paar Federn und einigen bunten Fäden in den Händen und zauberte daraus ein Kunstwerk um die Brosche herum. Frau Windrich und dem alten Rummelgut verschlug es schier die Sprache. Nie zuvor hatten die beiden etwas derart Schönes gesehen. Freudestrahlend ging Frau Windrich aus dem Geschäft.
Auf der Hochzeitsfeier staunten die Gäste über das so wunderbar verpackte Geschenk. In keiner einzigen Sekunde ihres weiteren Lebens, kam die Tochter von Frau Windrich je auf den Gedanken, die Verpackung zu zerstören, um das eigentliche Geschenk darin anzusehen.

Einen Tag später statteten die meisten Gäste der Hochzeitsfeier dem Trödelladen einen Besuch ab, um herauszufinden, was es mit der außergewöhnlichen Kunstfertigkeit des Assistenten vom alten Rummelgut tatsächlich auf sich hatte. Sie wollten sich von dem Assistenten ebenfalls Verpackungen anfertigen lassen.
Marschik schuf an jenem Tag die herrlichsten Kreationen aus allerlei nur erdenklichen Materialen. Es entstanden Arrangements aus Tierhäuten, Pflanzenblüten und Kieselsteinen, die in ihrer Anmut den Spiegelungen des Sonnenlichts in einem Bächlein glichen und aus Baumwurzeln, getrocknetem Bienenhonig und Spinnenfäden wurde ein Atemhauch in einer frostigen Winterlandschaft. Alles was er schuf wirkte so echt, als wäre es eine zu neuem Leben erweckte Erinnerung.
Von nun an war das Geschäft des alten Trödelhändlers an jedem Tag, von Morgens bis Abends, mit Kunden überfüllt – und jeden einzelnen davon machte Marschik mit seinem Können glücklich.

Rummelgut zahlte seinem jungen Assistenten schon bald ein fürstliches Gehalt.
Eines Abends, kurz nachdem er den Laden geschlossen hatte, sprach Rummelgut Marschik an. „Du hast das Leben zurück in mein Geschäft gebracht. Dafür danke ich Dir. Es gefiele mir gut, wenn Du noch sehr lange hier arbeiten würdest. Deshalb möchte ich Dir anbieten, mein Geschäftspartner zu werden. Was hältst Du von dem Vorschlag?“ Marschik sah den Alten strahlend an und nickte mit dem Kopf. „Schön“ sagte Rummelgut „also ist es abgemacht. Eine Frage möchte ich Dir aber noch stellen. Wie kommt es, dass Du mit diesem außerordentlichen Talent nicht schon anderenorts zu Wohlstand gekommen bist?“
„Oh, ich hatte schon an vielen Orten ein gutes Auskommen. Doch ist es nicht das, wonach ich in meinem Leben strebe.“
„Wonach dann?“
„Ich möchte etwas besonderes schaffen. Etwas ganz und gar unvergleichliches.“
Rummelgut runzelte die Stirn. „Aber das gelingt Dir doch tagtäglich. Jede Deiner Verpackungen ist ein Meisterwerk!“
Marschik wehrte ab. „Nicht in meinen Augen. Es sind nur schöne Hüllen für mehr oder weniger belanglose Dinge. Ein wahres Meisterwerk ist mehr. Dort ergänzt sich das Innere mit dem Äußeren zu einem Werk von vollendeter Reinheit. So etwas zu erschaffen, ist mir bisher noch nie gelungen. Dazu mangelt es mir entweder an dem notwendigen Talent oder ich habe das dazu notwendige Material noch nicht entdeckt. Doch zu Beginn einer jeden neuen Arbeit, hoffe ich darauf, dass ich mein Ziel dieses Mal erreiche.“
Von jenem Tag an, wurde das Herz des alten Rummelgut mit jeder Stunde schwerer. Er wusste nun, dass Marschik schon viele Orte und Menschen hinter sich gelassen hatte und also auch von hier fortgehen würde, wenn ihm der Sinn danach stand. Und nichts würde Rummelgut dagegen tun können. Es wäre dann wieder wie vorher. Niemand käme mehr in das Geschäft herein. Nur eine weitere Erinnerung an eine bessere Zeit würde dem alten Trödelhändler bleiben. Eine weitere Erinnerung, die ihm einen weiteren Verlust ständig vor Augen führen würde. Wie die Erinnerung an die vergangene Zeit mit seiner Frau. Diese Gedanken machten Rummelgut schließlich krank. Doch er verbarg es nach außen hin, mit aller Kraft.
An einem Morgen blieb der Platz des alten Rummelgut hinter dem Tresen leer. Marschik liess die Tür des Geschäfts verschlossen und lief hinauf zur Schlafkammer des alten Mannes, um nach ihm zu sehen. Dort fand er den Leichnam von Rummelgut. Er lag mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Bett.
Wie Marschik den Trödelhändler so sah, kam ihm eine Idee.

Am kommenden Morgen stand die Tür zu dem kleinen Trödelladen offen, als ob es den gestrigen Tag nicht gegeben hätte. Viele der Kunden, die am Vortag vergeblich darauf gewartet hatten, dass die Tür geöffnet wurde, statteten dem Geschäft erneut einen Besuch ab. Wie er es meist tat, sass der alte Rummelgut auch heute in seinem Stühlchen hinter der Kasse und grüsste freundlich jeden, der den Laden betrat. „Marschik ist nicht mehr hier“ antwortete der alte Trödelhändler, als ein Mann eine kaputte Fahrradklingel eingepackt haben wollte. „Aber ich kann sie zu Ihrer Wahl nur beglückwünschen. Wenn Sie es möchten, packe ich Ihnen das gute Stück gerne in ein Leinentüchlein“ bot Rummelgut an, als er sich von seinem Platz erhob. Doch der Mann winkte sogleich ab und legte die Klingel dorthin zurück, wo er sie gefunden hatte. Anschließend begab er sich auf gradem Weg aus dem Geschäft. Die anderen Anwesenden taten es ihm binnen kürzester Zeit gleich. Das wiederholte sich in ähnlicher Weise mehrfach in den kommenden Tagen und Wochen. Schließlich gingen nur noch sehr wenige Kunden in den Trödelladen und irgendwann kam niemand mehr.

An einem Sonntag Nachmittag trieb ein kühler Wind eine Zeitung vor sich her. Der alte Rummelgut beobachtete sie von seinem Stühlchen aus. Am Himmel zogen sich die Wolken zusammen. Es fing an zu regnen. Rummelgut stand auf und es gelang ihm die Zeitung aufzufangen. Mit wenigen Handgriffen baute er daraus einen äußerst kunstvollen Regenschutz. Dann betrachtete er sich eine Weile den Trödelladen von außen. War nicht auch der Trödelladen NUR eine Verpackung, gemacht um das was drinnen war, vor dem zu schützen, was draussen war? Und verhielt es sich mit einem Körper nicht ebenso? Doch bei manchen Menschen schien diese Art von Schutz in die falsche Richtung zu weisen. Sie waren nicht durch Gefahren von außen bedroht, sondern durch Gefahren von innen, durch die eigenen Gedanken. Darin waren er und Rummelgut womöglich eins gewesen, dachte Marschik. Vielleicht hatte das Schicksal sie deshalb zusammen geführt.

Bleibt nur zu sagen, dass am Ende beide nun doch Erlösung gefunden hatten. Rummelgut durch den Tod und Marschik, indem er in der Haut des alten Trödelhändlers weiterlebte, was er als seine größte Schöpfung betrachtete.
 



 
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