Das Orakel

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Andrea

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Das Orakel.

Der Tempel der Weitsicht stand auf einer kleinen Anhöhe außerhalb des Dorfes, was es seinen Dienerinnen erlaubte, alle Neuankömmlinge schon von weitem zu mustern. Die Bauern, die kamen, um das Orakel über das Wetter der nächsten Wochen zu befragen, waren leicht von den Händlern zu unterscheiden, die über die Absatzchancen ihrer Waren informiert werden wollten. Manchmal verirrte sich auch ein Jüngling zu ihnen, dessen Herz für eine unerreichbar scheinende Schönheit schlug. Die Hohepriesterin seufzte immer, wenn ein solcher den Tempelvorraum betrat: Was auch immer das Orakel weissagte, er würde seine Hoffnung dennoch auf einen Gunstbeweis der Geliebten setzen.
Die drei Gefährten, die sich nun über den schmalen Pfad dem Tempel näherten, gehörten eindeutig zur vierten Kategorie der Ratsuchenden. Nicht nur ihre zerkratzten Lederrüstungen und schweren Rucksäcke, sondern vor allem die Schwerter an ihren Gürteln wiesen sie als abenteuerlustige Söldlinge aus. Ihre abgenutzte Kleidung und die schlammverkrusteten Stiefel verrieten allerdings, daß es ihnen in letzter Zeit wohl schlecht ergangen war. Kein Wunder, daß es mit der Harmonie der kleinen Gruppe nicht zum besten bestellt war.

„Das ist Geldverschwendung“, klagte die junge Frau, die zwischen den beiden Männern ging. „Dabei habe ich seit Wochen nichts Anständiges mehr zwischen den Zähnen gehabt.“
„Lern kochen“, knurrte der Blonde hinter ihr, doch er tat es so leise, daß sie nicht mehr als ein Murmeln vernahm.
„Herrje, Kassandra“, entgegnete der Dunkelhaarige entnervt. „Ich sage es jetzt wohl zum hundertsten Mal: Ich möchte auf Nummer Sicher gehen!“
„Auf Nummer Sicher“, zischte Kassandra. „Dann vertrödle nicht unsere Zeit und unser Geld mit diesem Ausflug, sondern triff dich mit Jonathans Kontaktmann!“
„Genau“, stimmte der Blonde zu. „Ich habe Tage gebraucht, um ihn aufzutun.“
„Jonathans Kontaktmann“, schnaufte der Dunkelhaarige und stapfte energisch voran. „Wenn ich das schon höre! Irgendein schmieriger Bettler gibt ihm in einer verlausten Kaschemme ein Bier aus, und schon ist er Jonathans Kontaktmann, oder was?“
„Er ist se-ri-ös“, schnappte Jonathan beleidigt und betonte sorgfältig jede Silbe.
„Heißt also, er konnte sein Bier selbst bezahlen, ja?“
„Zumindest besser als deine alkoholkranke Tänzerin, der wir unseren letzten Trip zu verdanken haben, Wolf.“ Kassandra verdrehte die Augen.
„Sie war nicht alkoholkrank!“, verteidigte sich Wolf. „Sie hatte nur einen schlechten Tag.“
„Sie hat uns nach Westen geschickt, mitten in die Pampa“, zeterte Kassandra und beschleunigte ihrerseits ihre Schritte, um wieder zu Wolf aufzuschließen. „Nach Westen! Wir sind zwei Wochen durch die Steppe gewandert, bis uns dieser Hirte ausgelacht und nach Osten geschickt hat. Und als wir dieses angebliche Räubernest endlich gefunden haben, hat es sich als rattenverseuchte Ruine herausgestellt, in der nicht einmal eine verdammte Kupfermünze zu finden war. Das nennst du ‚einen schlechten Tag‘?“
„Eigentlich war es sowieso Jonathans Idee, die Räuber zu suchen“, murmelte Wolf verlegen.
„Ach, jetzt ist es wieder meine Schuld, wie?“ Jonathan reckte streitlustig das Kinn und spielte nervös an seinem Schwertgriff herum.
„Ja, wessen Schuld denn sonst?“ Wolf blieb so plötzlich stehen und warf sich zu Jonathan herum, daß Kassandra gegen ihn stieß. Nur mit Mühe konnten die beiden einen Sturz verhindern. Doch selbst der hätte Wolf nicht halten können.
„Seit wir dich bei uns aufgenommen haben, sind uns nur Mißgeschicke passiert“, polterte er wütend. „Unsere Ausrüstung ist den Wasserfall runtergegangen, unsere Pferde wurden gefressen, wir saßen im Gefängnis, haben gehungert..“
„Gleich wird er die Sache mit seinem Schwert erwähnen“, flüsterte Kassandra Jonathan über ihre Schulter hinweg zu.
„.. wurden von Dämonen gejagt und ein halbes Dutzend Mal beinahe getötet, und ich habe mein schönes Schwert bei einer Wette verloren, von der du behauptet hast, da könnte gar nichts schiefgehen.“
„Wer kann auch ahnen, daß der Kopf dieser Hydra nachwächst“, murmelte Jonathan, während Kassandra zufrieden grinste. Manchmal fand sie, daß sie selbst keine so schlechte Seherin abgegeben hätte. Solche Spiele lagen ihr eindeutig im Blut.
„Es geht nicht nur um die Hydra“, fuhr Wolf mit seiner Schimpftirade fort. „Als wir das Höhlensystem erforschten, hast du die Fackeln vergessen und uns mit dieser Öllampe beinahe verbrannt!“
„Sie ist mir hingefallen..“
„Als wir über diesen Wildbach gesetzt haben, mußtest du ganz dringend versuchen, einen Fisch zu fangen, und hast das verdammte Boot zum Kentern gebracht!“
„Kassandra hat gesagt, ich würde ihn nie schnappen. Dabei war es ein richtig fetter, lahmer Barsch..“
„Und natürlich warst du es, der versucht hat, diesem wahnsinnigen Magier während unserer Verhandlungen das goldene Zepter zu stehlen!“
„Es war eine gute Gelegenheit“, verteidigte sich Jonathan. „Und ich wußte nicht, daß er das Ding magisch geschützt hatte. Meinst du, ich kämpfe freiwillig gegen einen Dämonen?“
„Aber der Hammer“, Wolfs Stimmbänder kämpften bereits gegen die Heiserkeit, „der Hammer kam ja noch: als wir einen Rastplatz für die Nacht gesucht haben und dich Einfaltspinsel auf die Karte kucken ließen. Da ist eine rie-si-ge Höhle, sagtest du. Eine riesige Höhle!“ Mit Empörung auf dem Gesicht wandte er sich zu seiner Gefährtin. „Du erinnerst dich doch noch, Kassandra?“
Kassandra verzog das Gesicht und nickte ergeben. Ihr war kalt, und außerdem knurrte ihr der Magen.
„Eine riesige Höhle!“, wiederholte Wolf mit überschlagender Stimme. „Und was kam raus, als wir reinmarschierten? Es war eine Riesenhöhle! Mit Riesen drin! Mißmutigen, stinkenden, brutalen, gefräßigen Riesen!“
„Immerhin haben wir überlebt“, brummte Jonathan trotzig und stopfte die Hände in die Taschen.
„Aber nur, weil sie unsere Pferde gefressen haben!“, polterte Wolf und starrte Jonathan zornig an, die Hände mühsam zu Fäusten verkrampft.
Eine Augenblick herrschte Stille. Jonathan schien die unmittelbare Gefahr, in der er sich befand, zu spüren, denn obwohl er ein paar Mal den Mund öffnete, schwieg er, und endlich wandte er auch den Blick ab und schaute möglichst zerknirscht zu Boden.
Wolf schnaubte zufrieden und wandte sich wieder dem Tempel zu.
„Diesmal“, erklärte er, während er den Pfad entlang stapfte, „diesmal wird es nicht schief gehen. Wir werden das Orakel befragen, statt uns auf Jonathans dubiosen Kontaktmann zu verlassen.“
„Ich fand ihn sympathisch“, warf Kassandra ein.
„Du fandest auch den Kerl vor vier Monaten sympathisch“, knurrte Wolf. „Und mysteriös.“ Er hob die Brauen.
„Aufregend geheimnisvoll, hat sie gesagt“, verbesserte Jonathan beleidigt. Warum eigentlich schob Wolf immer die ganze Schuld auf ihn?
Kassandra zuckte mit den Achseln. „Er war ja auch sympathisch.“
„Ja, und ganz nebenbei ein widerlicher Nekromant, der dich fast seinem Götzen geopfert hätte, hättest du nicht dafür gesorgt, daß er genau wußte, daß du keine Jungfrau mehr bist.“
„Eifersüchtig?“ Sie warf Wolf einen neckischen Augenaufschlag zu.
Wolf reagierte nicht, sondern verfiel in Schweigen. So wurde die Stille auf dem Weg zum Tempel nur von Kassandras Beschwerden unterbrochen, daß diese ganze Wahrsagerei doch sowieso nur Heuchelei und Hühnerkacke sei und daß man besser zum Gasthaus statt zum Tempel pilgern sollte. Sie verstummte erst beim Eintritt in den Vorraum des Tempels.
Drei Dienerinnen in weiten blauen Gewändern betrachteten sie skeptisch, und den Gefährten wurde ihre armselige Erscheinung bewußt. Kassandra fuhr sich hastig durch die Haare, während Jonathan verschämt versuchte, den Schlamm seiner Stiefel am Hosenbein abzuwischen. Nur Wolf blieb halbwegs gefaßt. Er rückte seine schäbige Rüstung zurecht und trat auf die Dienerin in der Mitte zu. Mit der vollendeten Eleganz eines Ritters überreichte er ihr den kleinen Beutel, der ihr letztes Silber enthielt. Die Dienerin flüsterte ihm etwas zu und verschwand gemeinsam mit den beiden anderen durch einen Vorhang.
„Und jetzt?“, fragte Kassandra lakonisch, um das Knurren ihres Magens zu übertönen.
„Wir warten“, erwiderte Wolf kurz angebunden und behielt Jonathan scharf im Auge, der mit offenem Mund die goldenen Kerzenhalter an den Wänden bestaunte.
Kassandra wollte gerade zu einer giftigen Antwort ansetzen, als auch schon ein junges Mädchen erschien, gekleidet in das weiße Gewand einer Novizin, und die drei Gefährten bat, ihr in den Nebenraum zu folgen.
Der Anblick des nahezu kreisrunden Gemachs aus Marmor überwältigte Wolf, ohne daß er den genauen Grund dafür hätte nennen können. Vielleicht war es die Wärme, die den vielen Kerzen und Feuerschalen zu verdanken war, vielleicht auch das Wirrwarr aus Lichtreflexen und Schatten. In der Mitte saß eine hagere Frau in schwarzen Gewändern auf einem prachtvoll geschmückten Sessel. Ihr ernstes Gesicht war den Gästen zugewandt, die sie unter schweren Lidern gleichmütig betrachtete.
„Die Hohepriesterin“, wisperte die Novizin und verbeugte sich.
Wolf tat es ihr gleich, während Jonathan mühsam seinen Speichelfluß unterdrückte, indem er sich über die spröden Lippen leckte. Auf den Opfertischen an den Wänden häuften sich so viele Münzen und Schmuckstücke, daß seine Finger vor lauter Vorfreude zu jucken begannen. Nur die drei Dienerinnen, die ebenfalls dort im Schatten standen, verhinderten, daß er gleich hinüberlief und sich die Taschen vollstopfte. Angesichts solch unerreichbaren Reichtums traten Jonathan Tränen in die Augen, und er senkte rasch Ergebenheit heuchelnd den Kopf.
Sogar Kassandra war von dem Raum beeindruckt und entschied sich, ihrem Mißfallen über die nun wohl unumgänglich gewordene Prozedur lediglich durch eine ablehnende Körperhaltung Ausdruck zu verleihen.
Die Dienerinnen in den Schatten begannen mit einem tiefen, melodischen Singsang, und die Hohepriesterin erhob sich. Ihre von Schatten umgebenen Augen schienen geradewegs ins Leere zu blicken. Die Novizin trat wieder an Wolfs Seite.
„Das Orakel wird durch die Hohepriesterin sprechen. Du kannst nun deine Frage stellen“, sagte sie leise, aber bestimmt und versetzte Wolf einen leichten Stoß, so daß der Mann räuspernd vorwärts taumelte. Der Gesang der Dienerinnen brach ab.
„O allwissendes Orakel“, begann Wolf ehrfürchtig und verbeugte sich so tief, daß sein Gesicht fast den Boden berührte. „Seit Monaten hat uns das Glück verlassen, und statt mit Gold und Ruhm endete jeder unserer Aufträge in einem katastrophalen Desaster, aus dem wir nur unser nacktes Leben retten konnten. Nun stehen wir erneut an der Schwelle zu einem Abenteuer, das Ruhm und Reichtum verspricht.
Was, o weises Orakel, rätst du uns zu tun?“
Stille. Kein Laut drang von den Lippen der Hohepriesterin. Ihr Körper pendelte sanft, und ein apathischer Ausdruck lähmte ihre Gesichtszüge und kroch in ihre Augen. Minutenlang war nichts außer Atem und dem Knistern der Feuerschalen zu vernehmen.
Wolf richtete sich unsicher auf und warf seinen Gefährten einen nervösen Blick zu. Jonathan näherte sich gerade behutsam den Opfergaben, und auf Kassandras Gesicht lag ein schnippischer Ausdruck. Beides sorgte bei Wolf nicht gerade für Hochstimmung.
In genau jenem Augenblick erhielt Wolf seine ersehnte Antwort – auch wenn sie anders ausfiel als erwartet.
„Beim nächsten Auftrag wird alles anders.“
Die Stimme der Hohepriesterin dröhnte in ihren Ohren, während sich ihr Körper wie unter wilden Schmerzen zuckend aufbäumte. Selbst Kassandra trat ehrfürchtig einen Schritt zurück, und Jonathan stopfte eilig seine leeren Hände zurück in die Taschen.
Die Hohepriesterin fiel erschöpft in den Sessel zurück. Ihr bleiches Gesicht war von Schweiß überströmt, aber in ihre Augen kehrte blinzelnd das Bewußtsein zurück. Zwei der Dienerinnen eilten ihr mit Tüchern und Wasserkrug zu Hilfe.
„Ihr könnt nun gehen“, sagte die Novizin und legte Wolf die Hand auf den Oberarm.
„Aber das war doch nur ein kurzer Satz“, rutschte es Kassandra heraus.
Das Mädchen warf ihr einen bitterbösen Blick zu. „Die Worte des Orakels sind stets kurz. Es liegt nun in eurem Ermessen, sie auszulegen.“

„Humbug“, sagte Kassandra entschieden, als sie wieder draußen vor dem Tempeleingang standen und der frische Wind ihren Appetit anregte. „Und dafür ist jetzt unser Abendessen draufgegangen.“
„Wieso?“ Jonathan hatte den Ärger über die verlorenen Münzen rasch verdaut. Zumindest hatte ihn der Besuch von dem quälenden Gedanken an zukünftige Debakel erlöst. „Das Orakel sagt, es wird anders, schon beim nächsten Job. Das heißt, unsere Pechsträhne ist vorbei!“
„Ich weiß nicht.“ Wolf schüttelte nachdenklich den Kopf. „Was, wenn..“
„Ach, jetzt hör aber auf“, unterbrach ihn Jonathan munter. „Du hast das Orakel befragt und eine Antwort bekommen, wie sie besser nicht hätte sein können. Jetzt laß auch die ständige Nölerei und schau ein bißchen fröhlicher drein!“
„Er hat recht“, stimmte Kassandra Jonathan zu. „Man könnte ja fast meinen, du wolltest ein Haar in der Suppe finden, die du dir selbst eingebrockt hast. Und außerdem kommen wir endgültig zu spät zu unserem Treffen mit Jonathans Kontaktmann, wenn wir jetzt nicht aufbrechen.
Vielleicht“, ihre Augen leuchteten bei diesem Gedanken, „lädt er uns ja zum Essen ein.“
Sie klopfte Wolf kameradschaftlich auf die Schulter und machte sich auf den Rückweg.
„Genau, alter Junge.“ Jonathan schenkte Wolf sein breitestes Grinsen. „Der Kerl ist seriös. Hab ich doch gleich gesagt.“ Als er das Zucken in Wolfs Augenwinkeln sah, beeilte sich Jonathan, Kassandra zu folgen.
Wolf blickte den beiden melancholisch hinterher. Der Orakelspruch hatte eine seltsame Beklemmung in ihm ausgelöst, und nun, da sich Kassandra und Jonathan immer weiter von ihm entfernten, fragte er sich, ob es klug war, ihnen zu folgen. Vielleicht war die Zeit gekommen, seine eigenen Wege zu gehen, und ...
„Kommst du?“ Kassandra war stehen geblieben und sah ungeduldig zu Wolf zurück.
Wolf seufzte und zuckte mit den Schultern, ehe er sich schwerfällig in Gang setzte und den beiden nachtrottete.

Die Dienerinnen des Tempels der Weitsicht standen am Fenster und sahen den drei Gefährten kopfschüttelnd nach. Nur die Novizin winkte zaghaft, als sich Kassandra umsah, doch die Frau übersah sie völlig.
„Arme Tropfe.“ Eine der Dienerinnen goß sich ein Glas Wein ein und prostete der Wand zu. „Vielleicht kommen sie ja noch zur Vernunft.“
„Wieso?“ Das junge Mädchen sah die ältere erstaunt an. „Das Orakel hat doch etwas Gutes vorhergesehen, oder? Es wird sich alles für sie ändern.“
„O ja.“ Die Dienerin nickte mit wehmütigem Lächeln. „Aber manche Änderungen gefallen uns nicht so besonders.“
Die Novizin blinzelte verwirrt. „Das begreife ich nicht“, gab sie offen zu.
Die Ältere strich ihr sanft über den Kopf. „Du wirst es begreifen“, versprach sie. „Die Zukunft wird es dir verraten.“

„Das ist Zeitverschwendung“, klagte Kassandra und ließ die Fackel sinken. „Dieses stinkende Loch bietet uns nichts als Steine und Dunkelheit. Und vielleicht ein paar Spinnen.“ Sie hob angeekelt die Oberlippe.
„Und was erwartest du?“, erwiderte Jonathan genervt. „Ein Hinweisschild: `Zum Schatz bitte links‘?“
„Deine blöden Sprüche kannst du dir echt sparen. Immerhin krauchen wir nur wegen deines beschissenen Kontaktmannes hier wie die Maulwürfe herum.“
„Ach, jetzt ist es wieder mein Kontaktmann, ja? In der Kneipe konntest du nicht tief genug in seine Armbeuge kriechen, aber jetzt, wo deine Hormone sich zu langweilen beginnen, kannst du wieder nur meckern und meckern und meckern. Typisch prämenstrual.“
Kassandra machte Anstalten, mit der Fackel nach ihm zu schlagen, und Jonathan wich geschickt zur Seite.
„Verdammt“, zischte Kassandra, als ihr einige Funken die Haut versenkten.
„Selbst zu blöd, eine Fackel zu halten“, feixte Jonathan breit und ging vorsichtshalber in Deckung.
„Du!“, schrie Kassandra. Die Fackel zitterte in ihrer Hand. „Langsam glaube ich, daß Wolf recht hat mit seiner Unkerei. Dein Kontaktmann..“
„Also dein Herzblatt“, warf Jonathan ein, doch Kassandra fuhr ungerührt fort.
„Dein ach so seriöser Kontaktmann war vermutlich ein armer Irrer, und wir sind noch viel wahnsinniger, weil wir ihm sein Märchen abgekauft haben. Ehe wir hier über einen Drachenhort stolpern, werden wir elendig verhungern.“
„Besser das, als deine ewige Nörgelei zu ertragen.“
„Weißt du, wenn ich keine Dame wäre, dann..“
„Leise“, zischte Wolf. Er tauchte wie ein Schatten aus der Dunkelheit auf, riß Kassandra die zitternde Fackel aus der Hand und blickte zornig von einem zum anderen. „Falls es euch nicht bewußt ist und falls Jonathans Kontaktmann wider aller Erwartung nur halb so zugedröhnt war, wie er wirkte, dann sind wir auf dem Weg zu einem Drachenhort. Und wie der Name es schon verrät, spazieren wir dann gerade über den Hausflur eines Drachen. Diese großen schuppigen Gesellen mit Flügeln? Heißer Atem, schlechte Laune und extrem geizig? Ihr erinnert euch?“
„Was für ein Drache?“ Jonathans Lachen klang nicht ganz so natürlich und entspannt wie geplant, sondern hallte dünn von den Felswänden wider. „Er hat gesagt, der Drache sei weg. Schon seit Monaten.“
„O ja“ Wolf schnaufte abfällig. „Und wer sind wir, sein Wort zu bezweifeln? Warum auch sollte dieser Drache, falls er jemals verschwunden war, nicht ausgerechnet in genau dem Moment zurückkommen, wenn wir in seinen Schätzen wühlen? Bei unserem Glück wenig wahrscheinlich.“ Er verzog zynisch die Mundwinkel.
„Stell dich nicht so an, großer Anführer.“ Kassandra verschränkte die Arme vor der Brust, reckte das Kinn und sah über ihre Nasenspitze spöttisch auf Wolf herab. „Hast nicht du immer behauptet, mit einem guten Schwert und etwas Mumm in den Knochen würdest du selbst Drachen kochen?“
„Das war vorher.“ Sein Gesicht bekam einen abweisenden Ausdruck.
„Jetzt fängt das wieder an“, stöhnte Jonathan und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Seit wir den Tempel verlassen haben, verbringst du Tag und Nacht damit, dir den Kopf über eine möglichst miese Auslegung zu zerbrechen.“ Er baute sich herausfordernd vor Wolf auf und stieß ihm seinen Zeigefinger gegen die Brust. „Uns wird nichts passieren. Wir werden nicht sterben. Wir werden da hereinspazieren, die Schätze abgreifen und als reiche Menschen wieder hinaus ans Tageslicht treten. So leicht ist das.“
Wolf hatte nur einen verachtenden Blick übrig, und Jonathan zog hastig seinen Finger zurück. Als er hilfesuchend zu Kassandra hinübersah, die nur stumm mit dem Kopf schüttelte, zuckte er mit den Schultern. „Ist doch wahr“, brummte er.
Wolf drückte ihm wortlos die Fackel in die Hand. Sein Bedarf an Diskussion war gedeckt. Wenn sie gern blind in ihr Unheil rennen wollten, bitteschön. Er würde sie sowieso nicht aufhalten können, und solange wenigstens einer auf der Hut blieb, hatten sie eine Chance zu überleben.
„Also weiter“, seufzte Jonathan und rückte seinen Rucksack zurecht. Wie die seiner Gefährten hatte sich sein Rucksack in den vergangenen Tagen bedenklich geleert, so daß einer der Träger immer wieder über seine Schulter rutschte. „Oder willst du vorgehen?“ Er blickte zu Kassandra und deutete eine lakonische Verbeugung an.
Kassandra rümpfte die Nase und stieß mißmutig mit dem Fuß gegen einen Kieselstein, der sich munter klappernd in der Dunkelheit verlor und schließlich mit einem metallischen Klimpern verstummte.
Wolf, Kassandra und Jonathan wechselten rasche Blicke. Metall, in dieser Einöde, das konnte doch eigentlich nur eines bedeuten. Selbst Wolfs Herz geriet eine Sekunde aus dem Rhythmus.
Jonathans Augen schienen heller als das Feuer seiner Fackel. „Das ist es“, flüsterte er enthusiastisch.
Kassandra leckte sich über die trockenen Lippen. „Da lang“, hauchte sie und deutete mit dem Kopf in die Richtung, in welche der Kiesel gerollt war. Jonathan war bereits unterwegs.
„Seid vorsichtig“, warnte Wolf und griff nach Kassandras Arm. „Der Drache...“
„Kein Drache, Wolf.“ Kassandra funkelte ihn wütend an und riß sich los. „Nur der Hort. Hab doch einmal Vertrauen; Vertrauen in die Menschen, das Orakel, das Glück und den ganzen Scheiß.“
Ehe Wolf antworten konnte, war Kassandra schon Jonathan gefolgt. Wolf seufzte und ließ bedrückt den Kopf hängen. Wie konnte er ihnen nur klar machen, daß er nur das Beste für sie alle wollte?
Er zuckte schwer mit den Schultern, ehe er den beiden gesetzten Schrittes folgte. Die Gefahr, auf dem unebenen, abschüssigen Boden zu stolpern und damit ein leichtes Opfer eventueller Gegner zu werden, war viel zu groß, als daß er ebenso ungestüm vorgeprescht wäre wie seine Gefährten. Sowieso ging von diesem Ort eine größere Bedrohung aus, als Kassandra und Jonathan in ihrer Gier nach dem Schatz wahrhaben wollten. Hatte er vorhin nicht Schritte gehört? Und lag da nicht ein schwacher Geruch von Exkrement in der Luft? Wolfs Sinne waren aufs Äußerste gespannt, während er seinen Weg in die Dunkelheit suchte. Beim nächsten Auftrag wird alles anders, hämmerte es aus seinem Gedächtnis. Alles anders. Anders. Das Echo seiner Erinnerung dröhnte in der Stille des Berges. Alles würde anders werden, schon bald. Und er, Wolf, konnte es nicht verhindern.
Da begann das Schreien. Schrill und durchdringend gellte Jonathans Stimme durch den Gang. Wolf beschleunigte seine Schritte. Jetzt mischte sich auch Kassandras Falsett hinzu. Irgendwo vor Wolf war ein schwacher Lichtschein. Er mußte zu ihnen, mußte ihnen beistehen, auch wenn sie gegen einen Drachen nicht die geringste Chance hatten! Noch im Laufen zog er sein Schwert und fluchte innerlich wie so oft über das grausame Schicksal, das ihn nötigte, diese halb stumpfe, unausgewogene Klinge zu führen statt seines guten alten Stahls.
Schlitternd kam er an einer Felsspalte, aus der zitterndes Licht quellte, zu stehen. Das Schreien klang nun ganz laut, und Wolf stutzte für einen Augenblick. Aus der Nähe klang es wie eine arg verzerrte Version eines alten Freudenliedes, wie die Soldaten es nach der Schlacht sangen – hier mit weniger Geklapper, dafür mehr Gejohle. Vorsichtig spähte Wolf durch die Spalte. Was er erblickte, verschlug ihm fast den Atem.
Jonathan und Kassandra hatten sich an den Oberarmen gegriffen und tanzten ausgelassen über einen Hügel aus Münzen, der groß genug war, einem ausgewachsenen Bullen als Lager zu dienen. Um Kassandras Hals hingen wahllos einige Ketten aus schweren Edelsteinen, und auf Jonathans blondem Schopf thronte ein silberner Helm, der ihm halb über die Augen gerutscht war.
„Wolf!“, rief Jonathan, als er den Neuankömmling bemerkte. „Sieh dir das an! Sieh dir das an!“
„Wir sind reich!“, jubilierte Kassandra, ließ Jonathans Arme los und rutschte über den Münzhaufen in Wolfs Richtung. Er konnte gerade noch sein Schwert senken, ehe sie ihm um den Hals fiel. „Reich, Wölfchen, reich!“
„Dein Orakel hatte recht!“ Jonathan ließ sich auf die Knie fallen und griff mit beiden Händen in die Schätze. „Dieses Mal kehren wir nicht mit leeren Händen heim.“
Kassandra drückte dem nach wie vor wie versteinert wirkenden Wolf einen Kuß auf die Lippen, zog ihren Rucksack von den Schultern und taumelte wie benommen zurück. „Laßt uns einpacken“, lachte sie übermütig. „Und dann verschwinden wir von hier.“
Wolf schien ihr gar nicht zugehört zu haben. Nervös schweiften seine Blicke durch die Höhle. Dort, wo das Licht der Fackel nicht hinreichte, lauerte die Dunkelheit. War da nicht ein warmer Lufthauch, ein schwerer, schwefelig riechender Wind? Und kratzten da nicht Krallen über den Stein?
„Komm schon, Wolf“, rief Jonathan und winkte mit einem goldenen Kelch. „Steh nicht herum wie eine Salzsäule. Hilf uns lieber beim Einpacken!“
Wolf reagierte nicht, sondern schloß die Augen, um besser lauschen zu können. Sein Nacken kribbelte, und seine Hand schloß sich krampfhaft um den schweißnassen Schwertgriff. Irgend etwas beobachtete ihn, beobachtete sie alle. Wie oft hatte er dieses Gefühl gehabt, wie oft hatte ihm sein Instinkt das Leben gerettet. Wie oft waren sie in den letzten Monaten dem Tod gerade noch im letzten Augenblick von der Schippe gesprungen.
[/i]Beim nächsten Auftrag wird alles anders.[/i]
Wolf verstand.
„Raus hier.“
„Was?“ Verwirrt hielten Jonathan und Kassandra inne, die Hände noch im Gold, und starrten Wolf fassungslos an.
„Raus hier!“ Er blickte sich hektisch um, das Schwert kampfbereit erhoben, während er sich Schritt für Schritt seinen Gefährten näherte. „Begreift ihr nicht?“, fragte er heiser. „Anders als sonst – das Orakel hat es gesagt! Jetzt kommt schon!“
Jonathan und Kassandra warfen sich einen Blick zu.
„Jetzt hat er den Verstand verloren“, bemerkte Kassandra.
„Völlig durchgeknallt“, stimmte Jonathan zu und stand zögerlich auf. Seine linke Hand stopfte halbherzig einige Münzen in seine Hosentasche, während die rechte noch immer den Kelch umschloß.
„Macht voran“, zischte Wolf nervös, schob sich schützend vor den Schatzhaufen und fixierte die Dunkelheit. „Er spielt doch nur mit uns.“
Kassandra hob langsam die Hand und tippte sich mit dem Finger gegen die Schläfe. Ihr Rucksack war noch nicht einmal halbvoll, doch in dieser Stimmung war Wolf unberechenbar. Es war ihm zuzutrauen, daß er sie zwang, die Höhle tatsächlich zu verlassen, und wer wußte, ob ihnen dann nicht eine andere Gruppe Abenteurer zuvorkam. Unsicher sah sie zu Jonathan herüber. Ihm schienen dieselben Gedanken durch den Kopf zu gehen.
„Wir müssen gehen, sofort!“ Wolfs Atem ging schwer, während seine Augen die Finsternis zu durchleuchten versuchten, und er winkte mit der Linken, um seine Gefährten anzustacheln. „Es gibt nur diesen Ausweg!“
„Nur diesen Ausweg“, knurrte Jonathan entschlossen, glitt näher an Wolf heran und holte mit dem Kelch aus.

Die Sonne stand dicht über dem Horizont und tauchte die kahle Ebene in blutiges Licht. Irgendwo sang ein einsamer Vogel. Wolfs Finger glitten tastend über nackten Erdboden, während er sich zu entscheiden versuchte, wo bei allen Göttern er gelandet war. Der Schmerz in seinem Kopf legte die Theorie nahe, daß er noch nicht aus dem Leben geschieden war.
Kassandras besorgtes Gesicht tauchte über ihm auf, und warme Hände glitten über seine Wangen. Vielleicht träumte er noch. Dann erschien Jonathans Kopf neben Kassandra, und Wolf schloß stöhnend die Augen.
„Er kommt zu sich“, sagte Kassandra.
„Gut“, knurrte Jonathan. „Mein Rücken hätte ihn auch nicht mehr lange tragen können.“
Soviel zu seinem Traum. Ächzend richtete sich Wolf halb auf und bereute es sofort. Sein Schädel schien zerspringen zu wollen.
„Was ist passiert?“, fragte er mit brüchiger Stimme.
„Erinnerst du dich denn nicht mehr?“ Kassandra hockte neben ihm und blickte ihn aufmerksam an.
Wolf schüttelte langsam den Kopf und befühlte stöhnend die klebrige Schwellung an seinem Hinterkopf. „Ich erinnere mich nur noch an einen langen, dunklen Gang“, begann er stockend. „Und Gold, ein Haufen Gold. Es stank nach Echse. Und dann habe ich euch angeschrien, daß ihr euch bewegen sollt, und dann..“ Wolf runzelte die Stirn und starrte in die Luft, während Jonathan und Kassandra besorgte Blicke tauschten. Schließlich zuckte Wolf mit den Schultern. „Blackout“, sagte er. „Totales Blackout.“
Er machte Anstalten, sich zu erheben, und geflissentlich kamen ihm seine Gefährten zur Hilfe. Kassandra zog ihn auf die Füße, während Jonathan den Dreck von seiner Kleidung klopfte.
„Also, was ist passiert?“, fragte Wolf auffordernd in die geschäftige Stille.
„Der Drache“, begann Jonathan zögerlich, während er sich vollständig auf einen hartnäckigen Fleck an Wolfs Schulter konzentrierte. „Der Drache ist gekommen. Plötzlich war er da, und sein Flügel..“ Er stockte.
„Er muß dich mit seinem Flügel umgestoßen haben, als er aus der Ecke stürzte“, fuhr Kassandra eilig fort. „Es ging alles so schnell. Wir sind nur mit knapper Not entkommen.“
„Gerade so eben“, bestätigte Jonathan frenetisch nickend. „Ganz wie immer.“
„Wie immer, ja?“ Wolfs Blick ruhte prüfend auf den Mienen seiner Gefährten. Eine lautlose Stimme wisperte skeptisch, daß sie ihm etwas verschwiegen, doch das Flüstern verlor sich im Dröhnen seines Schädels.
„Nun, es ist nicht ganz wie immer.“ Kassandra konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, als sie mit ihren Fingern gegen ihren prall gefüllten Geldbeutel trommelte. „Dieses Mal hatten wir ein bißchen Zeit.“
„Ihr habt – du meinst, wir haben Beute gemacht?“, verbesserte sich Wolf rasch.
„Genug für ein Festessen“, lächelte Kassandra.
„Und für ein neues Schwert sollte es auch reichen“, fügte Jonathan fröhlich hinzu und deutete auf die leere Schwertscheide an Wolfs Hüfte. „Dein altes muß in der Höhle zurückgeblieben sein. Aber mach dir darüber keinen Kopf.“ Er bückte sich und hob ein Bündel empor, das ehemals Teil von Wolfs Umhang gewesen war. „Fünfundzwanzig glitzernde Goldstücke, für jeden von uns. Und das“, er wickelte einen verbeulten Goldkelch aus, „das ist ein Bonus für dich.“
„Weil du uns schließlich das Leben gerettet hast“, erklärte Kassandra und schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken.
Wolf schüttelte überwältigt den Kopf. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, murmelte er.
„Gar nichts.“ Jonathan streckte ihm Kelch und Beutel entgegen. „Du hast es dir redlich verdient.“ Er zwinkerte Kassandra verschwörerisch zu, während Wolf feierlich seine Belohnung in Empfang nahm.
„Ich bin gerührt“, gestand er. „Aber andererseits – es war schließlich meine Idee, dem Orakel einen Besuch abzustatten.“
„O ja.“ Kassandras Lächeln war unerschütterlich. „Wir wollen das Orakel nicht vergessen.“
„Vielleicht“, überlegte Wolf und wog abschätzend den Beutel in seiner Hand, „vielleicht sollten wir noch einmal am Tempel vorbeisehen und uns für die Hilfe bedanken.“
„Für die.. autsch!“ Jonathan rieb sich wütend das schmerzende Schienbein, doch ehe Wolf begreifen konnte, war vorgegangen war, hatte Kassandra ihn beiseite gezogen und schenkte ihm ihr breitestes Lächeln.
„Wenn du meinst, Wolf, daß es richtig ist, sollten wir es tun. Wir verdanken dem Orakel schließlich eine Menge.“

Der Tempel der Weitsicht auf seiner kleinen Anhöhe thronte glänzend im Licht der Nachmittagssonne, als die Hohepriesterin höchstpersönlich in Begleitung ihrer Dienerinnen den edlen Gönnern des Tempels gütig vom Treppenabsatz nachblickte. Dreißig Goldstücke dankbar gespendet waren selten, und auch der Goldkelch würde, sobald man ihn ein wenig ausgebeult hatte, eine hübsche Bereicherung des Tempelschmucks abgeben. Mehr noch als die Gabe hatten die Hohepriesterin aber die Einigkeit und Inbrunst beeindruckt, mit denen jene drei Freunde aufgetreten waren. Die Hände des Blonden hatten sogar gezittert, als er seine zehn Münzen in die Schale gezählt hatte, und vor Dankbarkeit hatten ihm Tränen in den Augen gestanden. Hätte die Frau ihn nicht am Arm ergriffen, vielleicht hätte er vor Rührung wirklich noch geweint.
Die Novizin in ihren weißen Gewändern stand am Rand des Absatzes und winkte zaghaft den drei Gefährten nach, als diese auf der Hälfte des Weges noch einmal anhielten. Der blonde Mann und die Frau lockerten die Träger ihrer schweren Rucksäcke, lehnten die Hilfe des Dunkelhaarigen, dessen Rucksack ziemlich schlapp herabhing, aber freundlich ab. Der Dunkelhaarige zuckte mit den Schultern und drehte sich gelangweilt zum Tempel um. Die Novizin sah seine Zähne blitzen, ehe er die Hand hob, um ihren Gruß zu erwidern.
Lächelnd wandte sich die Novizin ab, um den anderen in den Tempel zu folgen. Sie bemühte sich, neben eine bestimmte Tempeldienerin zu gelangen und zupfte sie sanft am Ärmel.
„Du hast sie doch wiedererkannt, nicht wahr?“, fragte die Novizin, als sich die Dienerin ihr unwirsch zuwandte. Die Frau nickte. „Hattest du nicht gesagt, es erwarte sie eine Veränderung, die ihnen nicht gefallen würde?“
„Geld verdirbt den Charakter“, schnappte die Tempeldienerin. „Und jetzt geh und feg den Orakelraum.“


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Liebe Leserin, lieber Leser,

wenn du es bis hierher geschafft hast, wäre ich dir sehr dankbar, wenn du mich per Kommentar, msg oder mail wissen lassen würdest, wie die Geschichte deiner Meinung nach endet, was also ab Wolfs Blackout passiert.
Nennen wir es Neugier der Autorin oder Wirkungsforschung..

Vielen Dank im Voraus!
 

Rainer

Mitglied
hallo andrea,

eine tolle geschichte, wobei mir vor allem die ironischen querverweise einiger passagen besonders zugesagt haben.
nur mit dem ende bin ich noch unzufrieden: der ausgang ist vorhersehbar, wenn wolf
" „Seit Monaten hat uns das Glück verlassen, und jeder unserer Auf-träge endete in einem Desaster. Meist konnten wir nur unser bloßes Leben retten. Was, o weises Orakel, rätst du uns zu tun?“"
sagt ("du wirst ein großes reich zerstören").
ich würde an dieser stelle den satz mit dem leben weglassen, und anschließend den clou bis zum schluss hinauszögern. einen konstruktiven vorschlag habe ich dir leider nicht zu unterbreiten, aber mit einem überraschenderen schluss würde die geschichte viel gewinnen.
aber trotzdem (um mein genöhle etwas abzumildern) - die geschichte gefällt mir ausgezeichnet... bis auf diesen schluss.(und wenn ich gerade beim meckern bin: vielleicht könntest du aus dem eingangssatz zwei einzelne sätze machen?)


viele grüße

rainer
 

Andrea

Mitglied
Hallo Rainer,

vielen Dank für deine Antwort. Den alten Orakelspruch hatte ich tatsächlich als Vorlage, als ich den Text geschrieben habe. Die fragliche Stelle habe ich etwas erweitert statt gekürzt; ich hoffe, die Betonung liegt nun beim Lesen mehr darauf, daß sie ohne irgendeinen Gewinn herausgekommen sind; die Doppelbedeutung liegt freilich immer noch drin.
Ost es so besser, oder würdest du die Stelle immer noch besser streichen?
Bei der Gelegenheit habe ich auch gleich die ganzen störenden Trennungszeichen gelöscht - hoffentlich habe ich alle erwischt..

Du darfst übrigens vollkommen entschuldigungsfrei bei meinen Texten "meckern" - wegen der Kritik bin ich doch hier.

Liebe Grüße und vielen Dank
Andrea
 

Rainer

Mitglied
hallo andrea,

ich hätte zuvor nicht geglaubt, dass solch minimale änderungen so große auswirkungen haben können - jetzt finde ich die geschichte "rund".

nur ein winziges zeitproblem habe ich noch:

"„Seit Monaten hat uns das Glück verlassen, und statt mit Gold und Ruhm endet jeder unserer Aufträge in einem katastrophalen Desaster, aus dem wir nur unser nacktes Leben retten können."

„Seit Monaten hat uns das Glück verlassen. Statt mit Gold und Ruhm endetE jeder unserer Aufträge in einem katastrophalen Desaster, aus dem wir nur unser nacktes Leben retten kOnnTen.

- würde mir mehr zusagen weil es nur die vergangenheitsform beinhaltet. deine version dagegen hat für mich schon etwas "orakelhaftes" :). aber das ist natürlich ansichtssache, du kannst auch deine zeitkonstruktion beibehalten; die hat auch was an sich.


viele grüße

rainer
 

Andrea

Mitglied
Hallo Rainer,

ich habe hin und her überlegt, und am liebsten würde ich beide Zeitversionen nehmen. Beide haben eine winzige Bedeutungsunterscheidung, und beide gefallen mir gut. Im Endeffekt habe ich mich aber fürs Präsens entschieden, weil Wolf das in meinem Kopf so benutzt hat; enttäuscht von der Gegenwart, am Ende mit seiner Weisheit, völlig im Jetzt. Aber andererseits..

Nein, man muß sich auch mal entscheiden können. Auch wenn's schwer fällt.

Lieben Dank fürs nochmalige Lesen und viele Grüße
Andrea
 
E

Edgar Güttge

Gast
Hallo Andrea,

Eine hervorragende Geschichte. Hat mir sehr gut gefallen.
In der Struktur sind mir zwei Kleinigkeiten aufgefallen, die mich allerdings nicht stören.
Ein großer Teil der Erzählung wird im Gespräch der drei Protagonisten dargestellt. Die Erzähltechnik ist gut und praktisch, du brauchst nicht die einzelnen Szenen ausarbeiten und verschiedene Ereignisse aneinanderfügen. Auch die Art des Gesprächs ist plausibel, denn solche Streitgespräche in Gruppen vor gemeinsamen Geldausgaben sind normal. Trotzdem fühlte ich mich zwischendurch wie ein Zuschauer vor einer Bühne, auf der die drei Protagonisten mir etwas vorspielen. Aber das mag subjektiv sein.
Die Perspektive des Erzählers ist konsequent durchgehalten. Das Ganze findet während eines geschlossenen Zeitabschnitts an einem Ort stand, nämlich am Orakel. Es gibt nur einen Zeitsprung in der Geschichte, nämlich am Schluss, als der Händler zwei Wochen später kam. Da hätte ich vielleicht einen eigenen Absatz gemacht. Andererseits könnte dann ein aufmerksamer Leser wieder bemängeln, dass der Schluss angehängt wirkt.
Insgesamt bin ich der Ansicht, dass dieser Text steht. Ich würde nichts mehr daran ändern.

Viele Grüße
Edgar
 

Andrea

Mitglied
Lieber Edgar,

vielen Dank für deine Kritik. Ich stelle immer wieder fest, daß meine Geschichten dialoglastig zu werden drohen; hier ist es wohl genauso. Und es wird vermutlich noch schlimmer;
ich habe mich nämlich entschieden, die Geschichte zu erweitern. Nach mehrmaligem Lesen nach einigen Tagen stellte ich fest, daß mir mein Schluß nicht gefällt, dann schrieb mir jemand, der Dialogteil sei in Relation zum Text zu lang - nun, der Schluß momentan wirkt angehängt. Ich hoffe, das über das Wochenende behoben zu haben.

Nochmals vielen lieben Dank.

Gruß
Andrea
 

Andrea

Mitglied
So, nach arg verlängertem Wochenende habe ich nun endlich meine neue Version fertig. Ich hoffe mal, die Tatsache, daß der Text plötzlich doppelt so lang ist, hält nicht vom Lesen ab..
 
D

Dominik Klama

Gast
Eine Schar umherziehender Abenteurer, die in letzter Zeit vom Schicksal arg gebeutelt wurde, sucht eine Orakelpriesterin auf und bekommt den einzigen Satz mit auf dem Weg: „Beim nächsten Mal wird alles anders.“ Wir Leser dürfen noch ein Gespräch zweier Tempeldienerinnen belauschen, wo es heißt, dass „alles anders“ natürlich auch heißen könnte: „alles noch viel schlimmer“. Was wir uns irgendwie schon gedacht hatten, so schlau, wie wir sind. Die reisenden Recken gelangen in eine scheinbar verwaiste Drachenhöhle, wo sie einen Schatz finden. Da dämmert dem einen, dass sie in die Falle des Drachen gelaufen sind und gleich alle tot sein werden, wenn sie die Beute nicht fahren lassen und flüchten. Man glaubt ihm nicht. Ein Schlag trifft ihn und der Erzählfluss wird unterbrochen. Getötet wurde er nicht, denn er erwacht wieder, verletzt, und auch alle Kameraden sind immer noch da. Ja, sogar Teile des Schatzes sind noch da. Obwohl es den Drachen wirklich gegeben hat und sie offenbar nur wegen seinem Warnruf gerade noch entkommen konnten. Das Trüppchen kehrt zurück zum Orakel und zeigt sich für die lang ersehnte Schicksalswende mit einer milden Gabe erkenntlich, Jetzt wundert sich die eine der Tempeldienerinnen, hatte die andere nicht gesagt, diese Herumziehenden würden unglücklich von ihrer Fahrt heimkehren? Die Antwort lautet: „Mag sein, aber Geld verdirbt nun mal den Charakter.“


Ach ja, das Fantasygenre...

Selbst wer davon bloß „Harry Potter“ kennt, findet sich hier wunderbar zurecht: Weissagungen, Abwehrzauber, Schatzhöhlen, Drachen, charakterlich verkommene Informanten....

Heißt, wer einfach irgendwas lesen will, in dem keine Autos, dafür Schwerter vorkommen, etwas, in dem immer was geschieht, vornehmlich Kämpfe, und was geredet wird, vornehmlich Verwünschungen, was dann ewig so weitergehen könnte, 17.000 Seiten lang, ohne dass der Leser je was über sich selbst erfährt, der kommt bei Andrea durchaus auf seine Kosten.

Und weil Fantasy jetzt so modern geworden ist, kommen auch schwertkämpfende Frauen drin vor und wird auch mal gelacht, nicht immer nur gegrunzt.

Aber mich stört halt die ewige Beliebigkeit bei so etwas. Dieses sich selbst gefallende Erzählen, das einfach nur immer weiter was zu erzählen haben will und sich selber gewiss ist, dass es das von den Fähigkeiten her auch zu leisten vermag. Wobei letztlich vollkommen belanglos ist, was denn da nun erzählt wird. Weil es ebenso gut an der nächsten Abzweigung auch ganz anders abzweigen könnte - und dennoch immer weiter im Kreis liefe auf immer dieselbe Art.

Die Krieger könnten den Drachen erschlagen und seinen goldgeschuppten Panzer heimbringen und reich sein und sich dann die Köpfe beim Verteilen des Reichtums einschlagen. Oder sie könnten einer nach dem anderen auf die blut- und gedärmespritzendste Weise vom Ungeheuer verspeist werden, dann erwachen und erkennen, dass alles ein Traum war, woraufhin sie von einem hübschen Mädchen geküsst werden, dessen Oma aber eine Menschenfresserin ist, welche sie dann aber rechtzeitig noch erschlagen, woraufhin sich die hübsche Enkelin in eine verzauberte Kröte verwandelt, die aber mit ihrem Serum die ewig blutende Wunde der Orakelpriesterin heilt, was aber die Fremden zum Untergang verflucht, da kein Sterblicher die Priesterin jemals bluten sehen darf, was aber dadurch verhindert werden kann, dass ein bestimmtes blaues Fläschchen aus der Höhle eines Drachen gestohlen wird, welcher dafür aber blind rasend vor Zorn gemacht werden muss, was aber nur mit Hilfe eines missgünstigen Zwerges geschehen kann, der den Menschen nachträgt, dass sie schöner sind als er und Kinder haben - - - und so weiter und so fort bis in alle Ewigkeit hinein.

Ich meine, was zum Beispiel eine Frau wie J. K. Rowling von dieser Autorin unterscheidet, ist, dass es dort auf einer allgemein-menschlichen Verweisebene immer um noch etwas geht - außer der äußeren Handlung. Etwa darum, wie aus unglücklichen Kindern hasserfüllte Erwachsene werden, die Kindern wiederum eine unglückliche Kindheit bereiten. Oder, wie im Gefüge der Macht die Schranzenränge sich wunderbar dafür eignen, die eigene egoistische Niedertracht im Namen einer Sache auszuleben. Oder, um die höchste und simplifizierendste ihrer Botschaften zu nennen: Wie der Gute sich dadurch auszeichnet, dass er Opfer für Andere bringt, obwohl ihm das keinerlei Gewinn verspricht - während der Böse nur Opfer bringt, die ihm Gewinn versprechen. Woraus folgt, dass der Böse ebenso untergehen wird wie der Kapitalismus.

Frau Rowling hat einen Gehalt, nicht nur bizarre Figuren, schröckliche Handlungen, den immerwährenden Wechsel von Niederlage und Triumph. Diese Geschichte hier hat keinen Gehalt.
 



 
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