Das Paket

Silea

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Das Paket

Marie öffnete die Briefkastenklappe. Sie blieb im Hausflur stehen und sah die Post durch.
Reklame, Reklame, ein Schreiben von der Versicherung an ihre Tochter Anne. Noch mehr Reklame und eine Postkarte aus Portugal. Sie drehte sie um und sah nach, von wem die war. Von Werner und Ilse, aha, dachte Marie uninteressiert. Und was noch? Ein orangefarbener Paketabholschein.
Sie steckte die ganze Post in ihre Tasche und ging die Treppe hoch. Dabei überlegte sie, was das für ein Paket sein könnte. Sie hatte doch gar nichts bestellt.
Im Flur stand eine Kiste für Altpapier. Da hinein wanderte zuerst einmal die ganze Werbepost. Das Schreiben für Anne, die erst vor kurzem ausgezogen war, legte sie auf das Telefontischchen. Sie würde Anne anrufen und ihr Bescheid sagen.
Die Postkarte und den Paketschein nahm sie mit in die Küche. Eine Tasse Feierabendkaffee würde jetzt gut tun. Marie setzte Kaffee auf. Solange die Maschine lief, zog sie sich bequemere Sachen an und legte dann ein paar Kekse auf einen Teller. Sie schloss das Fenster und machte die Heizung an. Eigentlich sollte ich das so nicht handhaben, dachte sie. Wegen der Heizkosten, ich weiß. Aber ich brauche frische Luft, wenn ich nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause komme. Aufsässig starrte sie die bollernde Heizung an.
Sie schenkte sich Kaffee ein und setzte sich an den Tisch. Gedankenverloren griff sie noch einmal nach der Post. So, Werner und Ilse waren also in Portugal. Wie schön. Sie hatte beide seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. War doch eigentlich nett von den Beiden, ihr eine Karte zu schreiben. Und dieser Paketschein... . Plötzlich stutzte sie. Sie hatte erwartet, ihren Namen zu lesen. Stattdessen stand da: Herr Brandler.
Marie wurde ganz seltsam zumute. Walter war seit fast zwei Jahren tot. Sie dachte plötzlich daran, wie es vor ein paar Jahren gewesen war, wenn sie nach Feierabend heimkam, als Walter noch lebte. Walter war da gewesen, denn er war Frührentner, seine Knochen hatten die harte Arbeit auf dem Bau nicht ohne Schäden weggesteckt. Walter hatte dann immer schon gekocht, wenn sie nach Hause kam, kochen war sein Hobby gewesen. Die Kinder waren noch alle drei zu Hause gewesen und es wurde gemeinsam gegessen. Das waren schöne Zeiten, auch wenn Walter krank war. Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, wie krank er wirklich war. Dass die Arbeit auf dem Bau auch seine Lungen geschädigt hatte, dass sie voll mit Asbest waren und dass er daran sterben würde.
Marie wischte eine Träne aus dem Augenwinkel. Jetzt war er tot, von den Kindern wohnte nur Robert noch zu Hause, ihr Kleiner, dachte Marie wehmütig. Aber so durfte sie ihn nicht nennen, er war neunzehn Jahre alt und würde sich mit Recht darüber aufregen. Aber denken durfte sie’s. Robert war allerdings momentan für eine Woche in Stuttgart zum Lehrgang und kam erst heute Abend sehr spät wieder. Marie schob das Gefühl des Alleinseins energisch von sich und schalt sich eine sentimentale alte Schachtel.
Aber wieso bekam Walter ein Paket? Dass die Post manchmal Verzögerungen hatte, war bekannt. Aber zwei Jahre? Bestimmt nicht. Hatte ihm vielleicht irgend ein alter Bekannter etwas geschickt, der noch gar nichts von seinem Tod wusste? Vielleicht. Oder war das eine dieser ominösen Firmen, vor denen in Fernsehsendungen manchmal gewarnt wurde, die sich gezielt die Angehörigen von Verstorbenen als Opfer suchten? Dafür war Walter schon zu lange tot, und das Paket war auch nicht per Nachnahme, denn das wäre auf dem Schein vermerkt. Am Besten wäre, wenn sie gleich morgen zur Post ginge und das Paket abholte. Dann könnte sie sich den Absender genauer ansehen. Gut, dass morgen Samstag war, dachte Marie erleichtert.

Als Marie am nächsten morgen um zehn Uhr in der Schalterhalle stand und das Paket in Empfang nahm, war sie schrecklich neugierig, endlich zu erfahren, woher es stammte.
Aber ihre Enttäuschung war groß, als statt eines Firmenaufklebers nur ein handschriftliches Gekrakel zu finden war, und es erinnerte sie an keinen Namen, der ihr bekannt vorkam.
„Was soll ich tun?“, fragte sie die Dame am Schalter. „Wenn ich es öffne, muss ich es freimachen, falls ich es zurückschicke, nicht wahr?“
„Das können sie sowieso nicht zurückschicken.“, sagte die Dame. „Wir haben zwar das Aufgabepostamt, aber die Absenderadresse fehlt. Und den Namen kann man überhaupt nicht lesen. Wie sollen wir da den Absender finden? Nehmen sie’s nur mit.“
Also nahm Marie das Paket mit.
Sie stellte es zu Hause auf den Tisch und betrachtete es versonnen. Es war nicht sehr groß, etwa vierzig Zentimeter lang, fünfundzwanzig Zentimeter breit und nur wenig höher. Aber schwer war es. Und irgendwie unwuchtig. Noch immer zögerte sie, es zu öffnen.
Marie hörte, wie sich die Tür von Roberts Zimmer öffnete, und er kam verschlafen ins Wohnzimmer geschlurft. Er musste gestern sehr spät gekommen sein, sie hatte bereits tief geschlafen und ihn nicht gehört.
„Morgen.“, murmelte er. Marie erwiderte den Gruß und lächelte. Genau wie sein Vater, dachte sie. Zerknittert, dass man am besten ein Bügeleisen zu Hilfe nähme. Aber nach der ersten Tasse Kaffee legt sich das.
„Was hast’n da für ‚n Paket?“, fragte er über die Schulter, schon wieder auf dem Weg in die Küche, wo die rettende Kaffeemaschine stand.
„Das ist eine ganz seltsame Geschichte.“, sagte Marie. „Es ist an Vater.“
Robert war gleich viel wacher, er kam zurück und sagte: „Vater? Zeig mal her!“
Dann nahm er das Paket in die Hand und betrachtete es. „Wieso an Vater?“, fragte er mit gerunzelter Stirn. „Da ist ein Stempel aus Stuttgart. Und es steht Herr Brandler drauf. Könnte es nicht für mich sein?“
Abwartend sah er sie an. Marie kam sich ein Bisschen dämlich vor. Natürlich! Auch Robert war inzwischen Herr Brandler. Wie hatte sie so dumm sein können? Für sie war er der Kleine, aber alle anderen hatten inzwischen wahrscheinlich bemerkt, dass er erwachsen geworden war.
„Ich konnte den Absender nicht lesen.“, sagte sie wie zur Entschuldigung. „Mach es auf. Von wem ist es denn?“
Robert zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich kenn doch dort eigentlich gar niemanden. Und den Namen kann ich auch nicht lesen.“
Er nahm eine Schere aus der Schreibtischschublade, schnitt das Paket auf und hob eine Flasche Kognak heraus. Darunter lag eineine Karte.
„Ach, Mam, das muss ich dir unbedingt erzählen.“, begann er lebhaft und war nun auch ohne Kaffee hellwach.
„Hör zu, hier steht: Lieber Herr Brandler, vielen Dank für Ihre selbstlose Hilfe. Mit den besten Grüßen, Frau Kern. Ach, Kern soll das heißen auf dem Paket. Die Frau hat vielleicht eine Schrift. Aber hier die Karte kann man wenigstens lesen.
Aber hör zu, das war echt verrückt. Ich war noch nicht mal in Stuttgart angekommen, gerade wollte ich die Abfahrt nehmen, da überholt mich ein Wagen mit einem Affenzahn. Ich denke noch, was muss der jetzt in der Abfahrt noch überholen, so eilig kann man das ja gar nicht haben, da kommt der Wagen aus der Kurve, fährt kerzengerade weiter und donnert an die Leitplanke. Er überschlägt sich und landet unten im Gebüsch. Na, ich wusste zuerst nicht, was ich tun sollte. Dann habe ich aber auf dem Seitenstreifen geparkt und bin über die Straße um nach dem Wagen zu sehen. Es hat sich nichts gerührt. Ich bin dann runter und hab der Dame aus dem Auto geholfen. Es war ihr nicht mal was passiert, unglaublich. „Haben sie sich wehgetan?“, hab ich sie gefragt, und Mam, stell dir vor, was sie gesagt hat: „Nein, danke. Vielen Dank, junger Mann. Und keine Sorge. Das ist mir schon mal passiert.“
Ich glaub es immer noch nicht.
Ich hab ihr dann jedenfalls mein Handy geliehen, damit sie einen Abschleppdienst rufen konnte, und sie hat meine Adresse verlangt. Die hab ich ihr gegeben, aber ich hatte es eilig, damit ich rechtzeitig zum Seminar kam und bin dann gleich weg.
Und nun schickt sie mir Kognak. Ausgerechnet mir.“
Robert grinste. Marie konnte es nicht fassen. So eine verrückte Geschichte. Und sie hatte gedacht, das Paket wäre für Walter. ER hätte sicher Verwendung für den Kognak gehabt, dachte sie.
„Stell das Zeug in den Schrank.“, sagte Robert. „Das ist sogar eine gute Marke. Wenn Onkel Gerd mal kommt, der freut sich bestimmt.“ Und damit war er auf dem Weg zur Küche.
Marie erhob sich seufzend. Sie stellte die Flasche in den Wohnzimmerschrank und folgte ihrem „Kleinen“. Das würde nun auch bald vorbei sein. Spätestens in ein paar Monaten war er mit seiner Ausbildung fertig, und dann würde er zusammen mit Ramona, ihrer zukünftigen Schwiegertochter, eine eigene Wohnung nehmen. Genau wie Karin, und genau wie Anne. Und dann würden sie alle paar Wochen mal vorbeischauen, wie es ihrer alten Mutter ginge. Ja, die Kinder werden so schnell groß, dachte Marie. Aber das tut gar nicht so weh, man freut sich ja viel mehr mit ihnen. Viel weher tut, dass Walter all das nicht mehr miterleben kann.
Marie setzte sich zu Robert an den Tisch.
Aber als dieser Paketschein gestern Abend vor ihr gelegen hatte, war es fast ein paar Augenblicke so gewesen, als ob Walter noch da wäre. Als ob er jeden Moment zur Tür hereinkommen und sich zu ihr setzen würde. Wie in alten Zeiten.
„Was ist los, Mam?“. Robert schaute sie prüfend an. „Du vermisst ihn, nicht? Ich vermisse ihn auch.“ Er legte seine Hand auf ihre.
Marie sah ihn dankbar an. Was für ein lieber Junge, dachte sie. Er hat es gewusst. Sie nickte, und eine leise Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel. Sie wischte sie mit Nachdruck ab. Walter hätte das nicht haben wollen.
„Wir wollen jetzt frühstücken.“, sagte sie energisch. „Und nachher werde ich die Vorhänge abnehmen. Heute Nachmittag werde ich Tante Gisela besuchen.“
Der Samstag verlief arbeitsam, und sie kam nicht viel zum nachdenken.
Doch als sie am Abend nach dem Besuch bei ihrer Schwester nach Hause kam, setzte Marie sich auf ihr Bett, nahm ein Foto aus der Nachttischschublade und sah es lange an.
 



 
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