Das Ritual

Wendy

Mitglied
Jedes Jahr im November pilgert der alte McPearsen bei Vollmond auf den Berg, um sich von seiner vor dreißig Jahren verstorbenen Frau zu verabschieden. Für ihn ist es zum Ritual geworden. Der steile Aufstieg wird für den zerbrechlichen Witwer von Jahr zu Jahr beschwerlicher - sein bester Freund, Sir Tobys, begleitet ihn.

Kahl neigt sich die alte Eiche der gähnenden Leere entgegen, die Blätter sind längst vom Winde verweht. Seine Wurzeln werden von dem dicken, grauen Findling gehalten, der schon Hunderte von Jahren an der gleichen Stelle liegt. Für McPearson ist er zu einer Gedenkstätte geworden.

> Mc, es ist nicht gut in deinem Alter - du bürdest dir diese Last jedes Jahr wieder neu auf!<, keucht Sir Tobys. >Deine niemals endende Trauer, der schwere Aufstieg zum Berg. Einmal muss Schluss damit sein! Du lebst hier und heute, nicht in der Vergangenheit! Du kannst sie nicht zurückholen! Ich glaube dir, dass dieser große Verlust deiner geliebten Frau sehr schmerzlich ist. Oder steckt doch mehr hinter dieser Geschichte?<, Sir Tobys legt besorgt seinen Arm um die Schultern seines Freundes.

Einige Zeit herrscht Stille. McPearson starrt gedankenversunken in die Tiefe, stützt sich auf seinen Stock - als ob er ihm Halt geben kann; die graue Pelerine hängt locker an seinem dürren Körper herab.

Der Mond erhebt sich langsam aus den Nebelschleiern, die das Tal bedecken - so, als ob der Himmelskörper gerade erwacht. Es ist ein atemberaubendes Naturereignis.

McPearson bricht sein langes Schweigen: >Wir waren erst ein Jahr verheiratet, als meine Angebete unsere Tochter tot zur Welt brachte, sie war danach nie wieder die Selbe, ihr fröhliches Wesen war verschwunden. Schwerste Depressionen plagten sie! Oft lag sie apathisch auf dem Diwan – starrte wortlos vor sich hin. Ich hatte den Eindruck, sie lebte in einer anderen Welt. Schon lange nahm sie an meinem Leben nicht mehr teil. Besonders schlimm war es - in den grauen, düsteren Herbstmonaten.< Mc Pearson senkt sein bedecktes Haupt, wischt mit seinen welken Fingern die Tränen fort.

>Mein lieber, treuer Freund: das war nicht deine Schuld! Lady Amily hatte während der Schwangerschaft Scharlach. Die Ärzte versuchten alles - Mutter und Kind zu retten; sie gaben ihr Bestes.<, flüstert, der schwarz gekleidete Sir Tobys.




Mit Tränen erstickter Stimme spricht McPearson stockend weiter: >Dann...<, wieder schluckt er seinen großen Schmerz herunter, >dann kam der verhängnisvolle Novembertag: als meine überalles geliebte Frau verschwunden war - auch damals war Vollmond! Ein nebliger und zugleich gespenstischer Abend, man konnte seine eigene Hand vor Augen nicht mehr sehen. Niemals zuvor hatte sie, seit ihrer Krankheit, das Zimmer verlassen. Plötzlich war sie fort! Die Bediensteten alarmierten mich sofort; wir alle suchten im Haus, im Garten, der Scheune, wirklich jeder Winkel wurde erforscht; wir riefen ihren Namen, aber nichts – kein Zeichen von ihr. Nie werden wir mit Genauigkeit wissen, ob es ein tragischer Unfall war, oder ob sich meine Ammy selbst ihren Qualen ein Ende setzte. Viele Monate später fand ein Jäger ihr Skelett auf einem Felsvorsprung, ihr Fleisch war von den hungrigen Tieren im Winter abgenagt worden. Neben ihren Gebeinen fand man ihren Ehering.<

Sir Tobys ist bestürzt. Nie kannte er die ganze Geschichte. Mit sorgenvollem Ton spricht er seinem Freund Trost zu: >Dieses Unglück muss all die Jahre ein furchtbarer Alptraum für dich gewesen sein! Es verfolgt dich bis zum heutigem Tage!<, und schiebt McPearson auf den schmalen, unebenen Weg zurück. >Komm´, lasse uns hinab gehen: zur Gedenkmesse - und für Amily´s Seelenfrieden beten. Möge Gott sich ihrer Seele erbarmen und dir neue Kraft schenken.<

Nur die alte Eiche und der riesige Findling kennen die Wahrheit vom traurigen Ende der Lady McPearson. Zu schade, dass sie uns nicht berichten können, was damals geschah - sie werden ihr Geheimnis bis in alle Ewigkeit hüten.
 

Wendy

Mitglied
Hallo Rainer,
Dich und die Leselupe hat der Himmel geschickt! Ich Danke jedem Einzelnen von Euch, der mir unter die Arme greift und mich auf den richtigen Weg bringt.
"Das Ritual" war eine Bildbeschreibung: "Zwei Männer in Betrachtung des Mondes" von Caspar David Fiedrichs. Dazu sollte eine Geschichte geschrieben werden.
Danke für die nützlichen Tipps.
Viele Grüße auch an Gabriel und Zefira.
Wendy
 

Zefira

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Liebe Wendy,

jetzt bin ich echt bewegt, denn ich liebe dieses Bild sehr, wie auch viele andere Bilder dieses Malers.

Von mir einstweilen nur der Hinweis: Daß der Witwer von seiner Ehefrau als "Lady Amely" spricht, wirkt sehr distanziert. Ich glaube, der schlichte Vorname, vielleicht hin und wieder sogar ein Kosename lassen seine Trauer intimer und echter wirken.

Der Text ist es wert, daß man intensiver daran arbeitet; vielleicht möchtest Du ihn in die Schreibwerkstatt verschieben?

Lieben Gruß,
Zefira
 

Rainer

Mitglied
...hinterher ist man immer schlauer...

hallo wendy, hallo zefira

ja wenn ich das gewußt hätte...
nee, es bestätigt mir nur (was bin ich aber auch schlau:)), daß bei dir potential vorhanden ist. ich wollte nicht auf den inhalt eingehen, da er mir zu romantisch-verklärt erschien. aber was ist der gute alte caspar david friedrich denn anderes, hä rainer?
jetzt die plauderei: wenn ihr jemals ins grühühüne herz teutschlands kommen solltet, und noch dazu in der nähe von rudolstadt seid, dann geht mal auf die heidecksburg. dort hängt ein völlig schräges c.d. friedrich-bild: pastellgrün, pastellgelb und pastellgrau-blau: eines seiner nebel-im-gebirge-bilder.
da so gut wie keine besucher kommen hat man ruhe und zeit, sich stundenlang vor das bild zu setzen und es anzuschauen - es ist überwältigend. der nebel beginnt zu "wabern", details treten hervor und "verschwinden" wieder im nebel.


grüße

rainer


liebes thüringer fremdenverkehrsamt,

meine bankverbindung lautet:
huch, der chef kommt...
 

Wendy

Mitglied
Moin, Moin,
in Dresden, in der Gemäldegalerie "Neuer Meister" (Albertinum) hängt das Original (es ist nur 35 x 44,5). Habe es im Lehrmaterial auch nur schwarz-weiß gesehen.
Danke für Eure Anteilnahme. Ich habe den Text auf Zefiras Anregung hin geändert. Wenn Sir Tobys sagt: "Lady Amily hatte Scharlach.", so möchte ich das beibehalten. Ich will damit ausdrücken, dass Tobys sich von seiner alten Freundin Ammy seelisch distanziert hat.
So, nun der Hammer (?), wenn Tobys sagt, "lasse uns für Amilys Seelenfrieden beten, dann will ich damit zeigen, dass ihm die Sache wieder unter die Haut gegangen ist.
Gemeinsam sind wir stark!
Liebe Grüße
Wendy
 

Aneirin

Mitglied
Hallo Wendy,

aus den vorangegangenen Kommentaren habe ich entnommen, dass es sich um eine Bildbeschreibung handelt. Als solche ist es gelungen. Du fängst gut die Stimmung auf dem Caspar David Friedrich Bild ein.

Aber du machst viel mehr: Du schreibst nämlich den Anfang zu einer Gänsehautstory, wo eine depressive Frau unter ungeklärten Umständen verschwudnen ist. Am Ende wissen die Bäume etwas, aber der Leser erfährt nichts. Schreibe unbedingt wie es weiter geht.

Ein paar Anmerkungen noch:

Sir Tobys habe ich im ersten Absatz für einen Hund gehalten und erfahre dann im dritten, dass es ein Mann ist. Vielleicht soltest Du den Namen überdenken.

Den Namen der verschwundenen Frau solltest Du unbedingt früher erwähnen. McPerson würde von seiner Frau doch nicht als seiner "Angebeteten" oder seiner "geliebten Ehefrau" sprechen, er würde ihren Namen sagen. Da weiß ich am Ende übrigens nicht wie die Frau heißen soll "Ammy" oder "Amily". Also, ich würde schreiben "Emmy" oder "Amy" oder "Emily". Das sind für meine Augen geläufige Schreibweisen.

Im zweiten Absaz schreibst Du "... die alte Eiche ..." und dann "seine Wurzeln...", wenn die Eichenwurzeln gemeint sind, müsste es "ihre Wurzeln" heißen.

Viele liebe Grüße
Aneirin
 



 
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