Das Streichholz

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Ingwer

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Prolog.
Tausend Schritte mit Erbse im Schuh gehören zur Reue dazu.
((bestimmt irgendwie) katholischer Spruch)



Seit einem Jahr waren Thomas und ich verheiratet. Seit einem halben war ich schwanger. Und seit einer Woche hatten wir unser Traumhaus in dem kleinen schwedischen Dorf, wo er aufgewachsen war. Ich hatte immer nach Schweden gewollt.
Mein Bauch wurde immer dicker und ich kugelte mich durch den Tag, während er auf Jobsuche ging. Er hatte gute Chancen, Empfehlungen früherer Arbeitgeber und viel familieninternes Vitamin B. Es würde nicht lange dauern, bis er eine Stelle gefunden hätte.

Der Winter kam.
In den letzten Novembertagen begann es zu schneien. Ich freute mich wie ein kleines Kind und lief mit hochgezogenem Pullover nach draußen, um mir die Flocken auf den Bauch fallen zu lassen.
Weihnachten rückte näher.

Am ersten Advent badeten wir in der riesigen alten Porzellanwanne.
Das blaue Badekonfetti glitzerte auf meinem Bauch, er malte ein Kreuz, machte daraus eine Figur. Das Ganze wirkte wie ein stilles Ritual.
Machst du das mit jeder? kicherte ich. Er lächelte nur und wackelte mit dem Kopf.
Vor zurück, zur Seite. Vollkommen in Gedanken.
Dann verdrehte er mit einer unbeholfenen Bewegung sein Bein und zeigte mir seine Fußsohle.
„Schau mal,“ sagte er. „Unter meiner Ferse wächst ein Haar.“
Natürlich wachsen unter den Füßen keine Haare. Das weiß jeder. Unter den Füßen ist die Haut viel zu dick. Er entfernte das Haar mit der Pinzette.

Am nächsten Morgen war es wieder da. Es war fast drei Zentimeter lang.
Kein Haar kann so schnell wachsen.
Ich schickte ihn zum Arzt.
Dieser sagte ihm das gleiche.
Kein Haar kann so schnell wachsen.
Und zog das Haar mit der Pinzette.

Am nächsten Morgen war es wieder da. Diesmal zog ich es und schaute es mir genau an. Es war rot, und noch länger als die beiden anderen.
Als ich ihm einen Abschiedkuss geben wollte, stutzte ich. Aus seinen Nasenlöchern wuchsen rote Haarbüschel. Obwohl er doch blond war.

„Was ist das?“ fragte ich ihn, eher um die schreckliche Stille zu durchbrechen als um eine wirkliche Antwort zu bekommen.
„Vielleicht liegt es am Haus,“ murmelte er. Und verschwand im Badezimmer.

Ich hatte nie in meinem Leben soviel Schnee gesehen. Jeden Morgen türmte er sich mehrere Dutzend Zentimeter hoch vor unserem Haus auf, versperrte die Garageneinfahrt und machte jedes Durchkommen unmöglich. Kinder aus dem Dorf kamen nachmittags manchmal in unseren Garten und rollten die weiße Masse zu riesigen Kugeln zusammen, die so schwer wurden, dass der Schneemann am Ende des Tages, wenn die Mütter sie nach Hause holten, niemals fertig war.

Es ging immer schneller. Die Nasenlöcher wuchsen immer wieder zu, so dass wir nachts den Wecker stellen und sie kürzen mussten. Ich konnte nicht mehr schlafen, und wenn, dann träumte ich von leeren Schneewüsten, aus deren gefrorenem Boden riesige Haarsträucher wachsen.
Ich hatte Angst, dass er erstickt.
Ich spürte es.
Die Haare, wie sie wuchsen. Irgendwo habe ich mal gehört, dass Haare nach dem Tod nicht sofort aufhören zu wachsen. Sie machen weiter, verfolgen ihre normale Tätigkeit bis übers Ende hinaus. Wir denken niemals an sie als etwas lebendiges. Und dabei überleben sie uns alle. Sie können uns aussaugen.

Jeden Tag stand ich nun mehrmals vor der verschlossenen Badezimmertür. Ich hörte das klackende Geräusch, wenn er seinen Nassrasierer ausklopfte, hörte, das Geräusch der Klingen auf seiner Haut; das Schaben wurde lauter, er verlor die Geduld, verstärkte den Druck, die Klinge glitt nicht mehr sanft über seine Haut, sondern schabte daran. Ich sah ihn vor mir, vor der altmodischen Badewanne, wie nicht nur Haarbüschel, sondern auch Hautfetzen auf den Boden rieselten und langsam aber sicher seine Füße bedeckten, totes Gewebe
Stille dann.
Und ein lautes Brummen.
Toms Schreie.
„Nicht, den Epilierer, bitte!“
Stille.

Abends stand er lange am Fenster. Die Jobsuche hatte er vorerst aufgegeben.

Die Tage wurden kürzer. Bald würde es kaum noch Licht von draußen geben. Die Stromversorgung war in dieser Gegend nicht garantiert. Ich durchsuchte den Dachboden nach allem, was irgendwie Licht erzeugen konnte. Ich fand einen ganzen Korb voller Kerzen.

Abends saß er schweigend am Tisch, schnaufend, weil seine Nase schon wieder fast zu war. Ich stand auf und suchte in den Küchenschubladen nach Streichhölzern. Draußen dämmerte es. Ich fand nur eine Packung mit drei abgebrannten Streichhölzern.

„Woher hast du die?“
Plötzlich redete er wieder. Ich hatte ihn noch nie so aufgebracht erlebt.

„Woher hast du die?“
Er machte mir Angst. Langsam stand er auf und kam auf mich zu. Ich wich zurück.

„Gib mir die Schachtel“, forderte er, und ich tat, was er sagte.

Plötzlich brach er zusammen, als könnten seine Beine ihn nicht mehr tragen.
Ich sah die Tränen, die wie Quecksilber über seine Wangen liefen. Er spürte sie nicht.

„Wir waren doch nur Kinder.“
Ich hätte ihn gerne in den Arm genommen, aber irgendetwas hinderte mich.

„Wir lassen Euch wählen, haben sie gesagt, und der eine hat die Packung Streichhölzer aus der Tasche gezogen, diese hier, ich erkenne sie genau.
Ein Streichholz ist abgebrannt, hat der andere gesagt, und derjenige, der es zieht, kann sich das Schauspiel ansehen.“

Es wurde immer dunkler. Thomas starrte auf die Wand. Meine Augen folgten seinem Blick und sahen die Schatten: Drei kleine und zwei große.
Spielende Kinder und zwei Eindringlinge.

„Warst du schon einmal hier?“ fragte ich ihn.

Er nickte.
„Wir haben oft zu dritt hier gespielt. Meine Schwester, das Mädchen und ich. Hier, in diesem Haus. Die Männer kamen nachts. Sie waren stärker als wir, obwohl wir doch die Stärksten waren. Sie fesselten uns. Auch das Mädchen. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft haben. Niemand war so stark wie sie. Aber sie haben es geschafft. Sie fesselten uns. Sie quälten uns.“

Jetzt nahm ich ihn in den Arm.
„Was ist mit den Streichhölzern?“ fragte ich vorsichtig.

„Ich habe als erstes gezogen. Sie haben uns dabei die Augen zugehalten. Ich habe das abgebrannte Streichholz gezogen und hätte es am liebsten wieder zurückgelegt. Aber sie hatten es schon gesehen. Ich wusste, dass ich gehen konnte. Und dass die anderen bleiben mussten, weil ich gehen konnte. Dass sie sterben mussten, weil ich gehen konnte. Der eine hat die Schachtel einfach weggelegt, ohne dass die Mädchen noch ziehen konnten.“

Seine Stimme versagte. Draußen tobte der Schneesturm. Ungehindert peitschten weiße Wellen gegen die Fenster. Ich suchte in meinen Taschen nach einem Feuerzeug. Natürlich fand ich keins; ich rauchte ja auch schon seit Monaten nur noch heimlich und so selten wie möglich. Die Dunkelheit machte mich wahnsinnig.

„Thomas“, meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, „Was haben sie mit ihnen gemacht?“

Seine Augen bewegten sich unruhig durchs Zimmer, wanderten das Treppengeländer hoch und wieder hinunter, wurden schneller, wanderten wieder hinauf und blieben ganz oben hängen.

„Sie haben sie an ihren Haaren dort oben aufgehängt. Und dann das Feuerzeug an die Zöpfe gehalten.“

Ich umklammerte ihn mit beiden Armen. Er zitterte so stark, dass es mich mitschüttelte.

„Wieso habe ich das abgebrannte Streichholz gezogen? Ich habe ihnen keine Chance gelassen. Wieso ich? Wieso beim ersten Ziehen? Ich hätte jede von ihnen lieber gehen lassen als mich.“

Minutenlang sagten wir kein Wort.
Nur das Heulen des Sturms.
Und die Dunkelheit.
Gab es denn in diesem verfluchten Haus kein Feuer?
Kein Feuer?
KEIN Feuer?

„Thomas“, sagte ich, „sie haben euch hereingelegt. Es ging ihnen nicht um dich.“

Er schaute mich ungläubig an. Wäre er nicht so fertig gewesen, hätte er sicherlich protestiert oder mich für verrückt erklärt.

„Es sind drei abgebrannte Streichhölzer in der Schachtel. Du konntest kein anderes ziehen. Dich trifft keine Schuld. Noch nicht mal die der Wahrscheinlichkeit.“

Er schaute mich lange an. Dann verstand er.
Der Schneesturm draußen war verstummt. Lange standen wir am Fenster und schauten auf die weiße Fläche. Milchfarben.





Epilog.
Unsere Tochter ist jetzt drei Jahre alt und hat rote Haare. Wir haben sie Lotta genannt und mittlerweile sind ihre Haare so lang, dass ich ihr Zöpfe flechten kann.
Thomas Haarwuchs hat sich normalisiert. Nein, nicht ganz. Ein wenig schütter werden sie schon.
Seiner toten Schwester Annika schreibt er manchmal Briefe und steckt sie in ein Loch in dem großen Baum im Garten. Manchmal findet er eine Flasche Limonade darin.

(Epilog II.
Tausend Schritte mit Erbse im Schuh gehören zur Reue dazu.
Angst essen Seele auf, aber Schnee fressen Spuren weg.)
 

Isa

Mitglied
Interessante Geschichte und das wohl verwunderlichste ist, dass ich mir gerade heute einen der alten "Pippi Langstrumpf" Filme angesehen habe. Die Geschichte liest sich schön flüssig und die einzige Stelle, über die ich ein wenig gestolpert bin, ist die in der Badewanne. Sonst aber richtig schön!
 



 
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