Das Testament

Maulbeere

Mitglied
Das Testament

Jetzt brauchte er nur noch Handschuhe. Mit energischen Schritten querte er die Straße und eilte zum Haupteingang von Hertie. „Das ging doch schnell“, freute er sich. Nach dem Essen machte der Alte immer seinen Mittagsschlaf und er hatte es kaum erwarten können. Sich den Daimler schnappen und losbrausen waren eins gewesen und jetzt hatte er schon fast alles zusammen. Echt Leder; er schüttelte innerlich den Kopf. Nach der Aktion musste er die Handschuhe sowieso wegschmeißen, das war klar. Auch wenn sich keine Fingerabdrücke fanden, waren Handschuhe immer verdächtig. Und er wollte keinen Fehler machen. Also nahm er die schwarzen aus Kunstleder für 16,95€, das musste reichen. „Jetzt nur nicht nervös werden“, mahnte er sich. Unauffällig bleiben und sicher nach Hause kommen. „Und vor allem keine Schramme an den Wagen fahren, sonst ist alles im Eimer.“

Er bezahlte seine Handschuhe, warf den Kaufbeleg in den nächsten Papierkorb und eilte zur Tiefgarage. „Wenn der Alte schon wach ist, wenn ich zurück komme, erzähle ich ihm einfach, ich wäre spazieren gegangen. Der hat seinen Wagen doch schon seit Monaten nicht mehr angeschaut. Wieso sollte er auf die Idee kommen, dass ich damit eine kleine Spritztour mache. Und wenn schon“, grummelte er „Eigentlich ist es völlig egal. Ich wisch ihm den Hintern ab, da werde ich mir wohl mal seine Karre ausleihen können.“

Zügig fädelte er in den Verkehr ein. „Ja, das war clever gewesen. Seit Jahren hatte sein Vater kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Als ob er Luft wäre. Du bist das schwarze Schaf der Familie, war das Letzte gewesen, mit dem er ihn liebevoll bedacht hatte. Und dann Schluss. Kein Anruf mehr, kein Glückwunsch zum Geburtstag, nichts.

Bis vor 3 Monaten. Da hatte ihn George angerufen, sein geliebtes Bruderschwein. Doktor der Rechte, schon mit 26 Assistent der Geschäftsleitung und fast schon Juniorchef. Augapfel und ganzer Stolz ihres gemeinsamen Erzeugers. Hatte ihm knapp mitgeteilt, dass ihr Vater einen Hirnschlag erlitten habe und Zuhause gepflegt werden müsse. „Kommt überhaupt nicht in Frage, dass wir unseren Vater in ein Pflegeheim abschieben“, hatte er ihm beschieden, „nach allem ,was er für uns getan hat.“ Das hatte er tatsächlich gesagt. Für uns! Dabei hatte der Alte doch nur etwas für ihn getan, seinen George, Stammhalter, Erbe und Fortführer der Familiendynastie, aber doch nicht für seinen missratenen Zweiten, Hendrik, den Schulschwänzer, Kaufhausdieb, Junkie, der seine Zeit in zwielichtigen Kellern vertrödelte, statt an die Zukunft zu denken.“ Wütend krallte er seine Hände ins Lenkrad. Ja, so war es immer gewesen. George vorne, George hinten, und er immer die große Enttäuschung. Zuerst die Verbote, die Strafen, dann die Maßnahmen und am Schluss nur noch diese mitleidigen Blicke, die noch tiefer bohrten als alle Worte und vor denen er davon gelaufen war. Fast fünf Jahre; so lange war das jetzt schon her. Kein Wort, keine Karte, kein Telefonanruf. Und plötzlich ist George in der Leitung und erwartet, dass er sich kümmert, seinen Vater pflegt, der nur noch lallen kann und endlich seine Schuld abträgt. Ja Schuld. Das hatte George tatsächlich gesagt.“ Hier musste er abfahren. Dann noch 2 kleine Ortschaften, dann war er wieder Zuhause. Jetzt nicht mehr als Sohn, schon lange nicht mehr als Sohn, sondern als Pflegekraft. Umsonst. Oder besser gesagt gegen Essen und Trinken und ein kleines Haushaltsgeld, dass ihm sein Bruderherz bei seinen seltenen Besuchen großzügig auf die Kommode legte. „Ja, sein großer Bruder hatte keine Zeit. Musste den Laden im Schwung halten, durch die Welt jetten, Kohle machen und er, der arbeitslose Nichtsnutz konnte sich doch mal nützlich machen, Händchen halten, Mund abwischen und das Personal beaufsichtigen. Dabei war klar, dass er nichts zu sagen hatte. Alles lief über George.“ Er stellte den Motor ab und ließ den Wagen auf den Hof rollen.

Endlich Mitternacht. Er öffnete seine Zimmertür, lauschte. Nichts. Sorgfältig zog er sich an. Im Schuppen lagen neue Klamotten, nicht einmal getragen. Sobald er aus dem Haus war, würde nichts mehr auf ihn hinweisen; sogar ein Harrnetz hatte er sich gekauft, damit keine Spur am falschen Ort zurückblieb. Er lachte. Eigentlich war es egal, denn er lebte jetzt schon seit Monaten mit im Haus und warum sollte es von ihm keine Spuren geben? Aber nicht heute nacht. Nicht bei seiner Aktion. Er verstand nicht viel von der Arbeit der Polizei. Gut möglich, dass sie Spuren direkt der Tatzeit zuordnen konnten. Besser nichts riskieren. Eilig wechselte er die Unterwäsche; scheiterten nicht immer wieder Verbrechen an nebensächlichen Kleinigkeiten. Dann doch lieber etwas übertreiben. Er schmunzelte. Noch die Gesichtsmaske überstreifen und dann war er der Kleinkriminelle, der Einbrecher, der sich die abgelegene Villa im Wald ausgesucht hatte.

Er trat aus dem Schuppen. Heute war Neumond, fast völlig dunkel. Gut. Aber eigentlich war das egal. Er hatte keine Zeit mehr, Neumond oder nicht. Er schlug einen Bogen durch den Wald, einen großen Bogen, näherte sich dem Haus von der Südseite; niemand sollte auf die Idee kommen Spuren des Einbrechers im Schuppen zu suchen. Die Terrassentür war das größte Problem, das war ihm klar. Die musste er ohne viel Krach aufhebeln; es wäre schön blöd gewesen, wenn der Alte ihn jetzt schon überraschte. Jeder normale Einbrecher würde sofort fliehen, wenn plötzlich das Wohnzimmerlicht angeht und man noch draußen auf der Terrasse steht. Und wie sollte er dann so schnell in seine alten Klamotten schlüpfen und zurück ins Haus kommen? „Jetzt nur einen kühlen Kopf bewahren“, mahnte er sich. Wenn er erst drinnen im Haus war, konnte er zur Not improvisieren. Er setzte die Brechstange an. Hatte er mal im Krimi gesehen. Einfach die Brechstange unter die Türflügel schieben und den ganzen Salat aus den Angeln heben. Er schob die Stahlspitze in den schmalen Spalt und setzte das Stahlrohr auf das äußere Ende. Hebelverlängerung. Er grinste. Es gab doch tatsächlich Fälle, in denen Schulwissen nützlich sein konnte. Wer hätte das gedacht.

Ging doch wie im Bilderbuch. Ein kurzer Ruck und die Tür war aus den Angeln gesprungen. Hing noch mit dem Schloss auf der anderen Seite fest und war nicht ins Wohnzimmer gefallen. Auch gut. Ja so ein Krach hätte den Alten sicher geweckt. Dann hätte er halt reagieren müssen, schließlich hatte er die Brechstange gerade passend in der Hand. Aber eigentlich war es ihm lieber, er konnte Ort und Zeit selbst bestimmen. Wollte erst noch ein bisschen den Einbrecher spielen, vielleicht nicht ganz Profi, aber auch nicht den blutigen Anfänger. Leise lachte er in sich hinein. Wer hätte gedacht, dass es mir wichtig sein könnte, bei der Polizei einen guten Eindruck zu machen? Und auch bei meinem Alten. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er auch an seinen Vater gedacht hatte. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Nie wieder sollte der ihn mit diesem mitleidigen Blick anschauen, ihn, den Volltrottel, der nichts auf die Reihe bekam und der noch nicht mal eine Tür vernünftig aufhebeln konnte. Nein, sein Vater sollte ihn stark erleben, stark und angsteinflößend; wenigstens einmal. Er schüttelte den Kopf. Ja sein Vater hatte sich gut von dem Schlaganfall erholt, erstaunlich gut. „Kommandiert fast schon wieder wie in alten Tagen; Hendrik, mach dies, Hendrik mach das und manchmal auch nur Hendrik, laut und ungeduldig, bis er die Treppe hinaufgerannt kam und atemlos ins Zimmer stürmte.“ Nein; er würde sich an keinem Wehrlosem vergreifen. Im Gegenteil. Er grinste. Sein Alter war fast schon wieder der Alte und sprach jetzt immer öfter davon, bald selbst für sich sorgen zu können, schon sehr bald. Und dann? Dann würden sie ihn fortjagen wie einen räudigen Hund. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Dafür würde sogar George persönlich anreisen, George, der sonst nie Zeit hatte. Aber seinen kleinen Bruder auf die Straße zu setzen, das würde er sich nicht nehmen lassen. Und dann wäre er draußen, endgültig draußen. Er ballte die Fäuste. Und ausgerechnet jetzt will der Alte sein Testament machen. „Hendrik“, hatte er vor einer Woche zu ihm gesagt. „Hendrik, mein Schlaganfall hat mir gezeigt, dass es Zeit wird meine Nachfolge zu regeln und reinen Tisch zu machen. Das verstehst du doch, dass George die Firma übernehmen wird, dass meine Nachfolge geregelt sein muss.“ Ja, er hatte verstanden.

Vorsichtig, wie es sich für einen Einbrecher gehört, schlich er durchs Wohnzimmer, öffnete alle Schranktüren und Schubladen, kramte ein wenig lustlos in verschiedenen Papieren, hob Bilder von der Wand, immer auf der Suche nach etwas Brauchbarem, dass sich zu Geld machen ließ. Natürlich fand er auch den Familienschmuck, klar, er wusste doch wo der war, aber der Einbrecher nicht und so ließ er sich Zeit, suchte vorher erst hier und dort. Nun gut. Er ließ das Collier durch seine Finger gleiten. Echte Brillianten und noch anderes Zeug. Schade. Das Ganze war sicher mehrere Zigtausend wert, aber er würde nichts riskieren. Er grinste. Ja, dass würde ihnen so passen, dass er den Schmuck zum Hehler schleppte und sie so auf seine Spur kämen. Aber nicht mit ihm. Sobald er draußen war, würde er das ganze Zeug vergraben und erst mal Gras drüber wachsen lassen, ganz viel Gras. Er ließ den Schmuck in den mitgebrachten Rucksack gleiten.

Langsam sah er sich um. Die aufgebrochene Terrassentür, das durchwühlte Wohnzimmer, die offene Schmuckschatulle. Sah wirklich gut aus. Und überzeugend. Jetzt musste er nur noch seinen Alten wecken. Irgendeine Ungeschicklichkeit, die genug Krach machte, ihn aus dem Bett zu holen. Er zögerte. Hatte er noch irgendwas vergessen? Musste er vorher noch etwas erledigen? Plötzlich fiel es ihm ein. Klar. Die Polizei würde das Haus versiegeln und auch er hatte keinen Grund mehr hier wohnen zu bleiben, wenn sein Alter nicht mehr war. Dafür würde schon George sorgen. George, der ihm alles zutrauen würde. George würde ihn verdächtigen, da war er ganz sicher. Und dann? Dann würde es Wochen dauern, vielleicht sogar Monate, bis er an sein Erbe kam. Und wovon sollte er bis dahin leben? Wieder von Harz IV? Und seine Bude war inzwischen auch weg. Er brauchte noch was zum überwintern, Geld, mit dem er die Zeit überbrücken konnte, bis alles geregelt war. Er griff in den Rucksack, fühlte den Schmuck. Klar, er wusste, wo er den verticken konnte, schließlich hatte er schon einiges unter der Hand versilbert. Aber hier ging es um mehr. Auch sein Hehler konnte zwei und zwei zusammenzählen. Blieb noch der Safe. Er überlegte. „Den wollte ich eigentlich in Ruhe lassen. Den kriegt so ein kleiner Einbrecher sowieso nicht auf.“ Aber andererseits. Er brauchte ihn überhaupt nicht zu knacken. Er kannte die Kombination. „Es wäre ja noch schöner, wenn ich hier monatelang bei meinem Alten rumhänge und noch nicht mal an die Kombination von Safe käme.“ Nicht mit ihm. Und Spuren würde er auch keine hinterlassen. Er würde den Safe ganz normal öffnen, sich mit Barem versorgen und den Safe wieder sauber verschließen. Hatte ja mit dem Einbruch gar nichts zu tun. Und George? Wusste sein Bruder genau, wie viel Geld im Safe war? Er war sich nicht sicher. Na gut, im Zweifelsfall würde George ihn verdächtigen etwas Geld abgezweigt zu haben. Na und? Das konnte er vielleicht sogar zugeben, natürlich nur unter vier Augen. Er grinste. George würde ihn für einen Dieb halten, das war es. „Wahrscheinlich hängt der das nicht mal an die große Glocke. Könnte ja dem Familienruf schaden. Aber sonst bin ich aus der Sache raus. Das wird auch George einleuchten. Wieso sollte ich meinen Alten kalt machen und diese schöne Geldquelle zum versiegen bringen. Er rieb sich die Hände. Genial. Das würde seinem großen Coup noch das Tüpfelchen aufsetzen. „Mein geliebtes Bruderschwein wird sich groß vor mir aufblasen, den Selbstgerechten geben. Das konnte er schon immer gut. Und ich spiele den Zerknirschten, die typische Rollenverteilung zwischen uns. Damit wird George zufrieden sein. Sein Verdacht hat sich bestätigt und er kann sich in seiner Selbstgerechtigkeit suhlen. Wahrscheinlich wird er mich unter Druck setzen oder sogar erpressen. Dass ich ihm die Firma nicht streitig mache und am besten verdufte, möglichst irgendwohin, wo er mich endgültig vergessen kann. Nun gut. Den Gefallen würde er ihm tun. Er ballte die Fäuste. Klar, den großen Boss will er alleine spielen, aber was soll’s. Gegen eine vernünftige Abfindung kann er die Firma haben. So ein Betrieb macht sowieso nur Stress.“

Er konnte sich kaum daran erinnern, wie er ins Bett gekommen war. Er hatte nur noch raus gewollt, raus aus diesem Wohnzimmer, aus diesem Haus und fast hätte er dabei seinen Rucksack stehen gelassen und er wusste nicht, ob er die Kraft hatte dieses Wohnzimmer noch mal zu betreten. Ja, er hatte den Rubikon überschritten. Rubikon. Auch so eine Erinnerung aus seiner Schulzeit, die ihm gefallen hatte. Nicht mehr zurück können, ja das war es wohl. Er hatte den Safe leergeräumt und auch ein hübsches Sümmchen gefunden und einen Moment, ja einen Moment war er drauf und dran gewesen, einfach das Geld einzustecken und sich davon zu machen, wie der Einbrecher, der ja war, der er auch war, und seine Beute in Sicherheit zu bringen. Und Plötzlich stand sein Vater vor ihm. War aus dem Arbeitszimmer gekommen, nicht aus dem Schlafzimmer, wie er gedacht hatte, nicht die Treppe herunter, die er die ganze Zeit im Auge behalten hatte, sondern aus dem Arbeitszimmer, war direkt in seinem Rücken aufgetaucht und hatte ihn mit Namen angesprochen, ohne jeden Zweifel in der Stimme, hatte ihn angesprochen, als ob er überhaupt nicht maskiert gewesen wäre, vielleicht etwas überrascht, aber ohne jede Furcht und mit dem Dämmern der Erkenntnis über den Grund ihrer plötzlichen Begegnung hatte sich wieder diese resignierte Verachtung in seinem Blick gezeigt, vor der er vor Jahren davon gelaufen war. Nun gut; heute hatte er es zuende gebracht. War nicht weg gelaufen, obwohl die Brechstange auf dem Wohnzimmertisch lag, unerreichbar weit weg, hatte es mit seinen eigenen Händen getan, gefühlt, wie sein Vater unter der Wucht seines Körpers zusammengebrochen war, plötzlich alt und zerbrechlich und er hatte sich geschämt für diese übertriebe Kraft, mit der er auf den Wehrlosen eingeschlagen hatte.

Plötzlich hatte er sich gefangen, wurde ganz ruhig. In Gedanken rekapitulierte er noch mal die vergangene Nacht. Der Safe war ordentlich verschlossen. Gut. Der Rucksack mit dem Schmuck, seiner Verkleidung und einem Großteil des Geldes lag sicher vergraben im Wald. Er hatte lange geduscht, sich die Fingernägel gereinigt. Eine halbleere Schachtel mit einem starken Schlafmittel lag auf dem Nachtschränkchen, sein Alibi dafür, dass er weder vom Einbruch noch vom darauf folgenden Kampf irgendetwas mitbekommen hatte. Er lächelte. Ja sie hatten ihn alle unterschätzt. Kein kleiner Bruder mehr, der nichts auf die Reihe bekam, sondern ein strategischer Denker, der jede Entwicklung vorausahnt und mit kühlem Kopf die Situation beherrscht. Ein wenig bedauerte er, dass sie von seiner Meisterleistung nie etwas erfahren würden.

„Ja, Herr Kommissar. Zuerst habe ich den Notarzt gerufen, da dachte ich noch, mein Vater wäre gestürzt, er lag so komisch da und dann habe ich erst das Durcheinander bemerkt und die aufgebrochene Terrassentür.“ Das hatte er gut hinbekommen. Er hatte sehr aufgeregt und etwas durcheinander berichtet, aber das war völlig normal in so einer Situation und es hatte vor allem nicht einstudiert gewirkt. Er ließ sich erschöpft in den Sessel fallen. Um ihn herum wirbelnde Hektik. Ein Team in weißen Kitteln und Handschuhen beklebte alle denkbaren Gegenstände und Oberflächen mit Tesa-Film um Fingerabdrücke zu sichern und sie würden sicher eine Menge finden, da war er ganz sicher, nur nicht vom Einbrecher, der hatte schließlich Handschuhe getragen. Die Leiche war längst fortgeschafft worden und sie hatten pietätvoll darauf verzichtet, vorher Fingerabdrücke von ihr zu nehmen, aber das würden sie sicher in der Gerichtsmedizin nachholen, allein schon für den Vergleich. Keiner kümmerte sich um ihn. Er saß seit Stunden in seinem Sessel, überwältigt von Entsetzen und Trauer und das ganze Ermittlungsteam schlich in respektvoller Entfernung um ihn herum, während er ihre Arbeit aus den Augenwinkeln beobachtete. Die Situation gefiel ihm. Solange er nichts tat, machte er nichts falsch und dass man ihn völlig in Ruhe ließ bewies doch, dass man von ihm keinen Beitrag zur Aufklärung des Verbrechens erwartete. Im Gegenteil. Seine würdevolle Haltung hatte Eindruck gemacht und irgendwann würde dieses wuselige Heer kleiner Beamter und Angestellter ihm Bericht erstatten über ihre sicher mehr als dürftigen Ermittlungsergebnisse und er würde ihn huldvoll entgegennehmen, noch ganz überwältigt von seiner Trauer.

Irgendwann wurde es ihm zu viel. Er stand auf. „Entschuldigung, Herr Kommissar“, sagte er mit gebrochener Stimme. „Werde ich hier noch gebraucht? Ich würde mich gern zurückziehen.“ Der Angesprochene stockte in seinem zielstrebigen Gang, drehte sich zu ihm um, schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. „Natürlich“, sagte er, „wir kommen hier schon allein zurecht. Nur eine Frage. Kennen sie die Kombination vom Safe?“ „Aber ja“, hatte er würdevoll geantwortet, bevor er sich daran erinnerte, dass er eigentlich vorgehabt hatte, sie nicht zu kennen. Aber das war letztlich egal, zeigte es doch nur eindrucksvoll das vertrauensvolle Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater. „Dann würde ich sie bitten, den Safe für uns einmal zu öffnen.“ Was sollte das jetzt. Der Safe hatte doch mit dem Einbruch offensichtlich gar nichts zu tun. Einem Moment wollte er aufbegehren, aber er hatte sich in der Gewalt, unterdrückte seine Frage. „Selbstverständlich“, sagte er stattdessen.

Wirklich interessant“, sagte der Kommissar, als sie vor dem geöffneten Safe standen. „Der Einbrecher hat dieselben vier Tasten berührt, die zum Öffnen des Safes benötigt werden. Nur diese vier Tasten. Finden sie das nicht erstaunlich.“ Freundlich lächelnd drehte er sich zu Hendrik um. „Ich bin wirklich gespannt, ob wir dieselben Spuren auch im Inneren des Safes finden, sie verstehen schon, diese billigen Kunstlederhandschuhe, die überall abfärben. Aber das kann warten. Eigentlich wollte ich ihnen was anderes zeigen.“

Er nahm Hendrik freundlich am Arm und führte ihn ins Arbeitszimmer. „Wussten sie, dass ihr Herr Vater sein Testament machen wollte“, sagte er mitfühlend. „Aber nehmen sie doch Platz, er hat auch etwas über sie geschrieben.“ Er schob Hendrik einen sorgfältig beschriebenen Bogen Papier herüber. „Können sie bestätigen, dass dies die Handschrift des Verstorbenen ist?“ Aber ja, das konnte Hendrik bestätigen. Diese sorgfältige, etwas verschnörkelt ja geradezu aristokratische Handschrift gehörte seinem Vater. Plötzlich brachte er kein Wort heraus. Er bestätigte die Frage nur mit einem stummen Nicken. „Lesen sie ruhig“, sagte der Kommissar.

„Meinen Sohn Hendrik habe ich nie verstanden, vielleicht sind wir einfach zu verschieden. Er taugt nicht zur Arbeit, ist sprunghaft und faul. Auch sucht er die Gemeinschaft mit zwielichtigen Gestalten, das hat er von frühester Jugend an getan. Aber ich habe in den letzten Monaten Hendrik auch anders erlebt, hilfsbereit und mitfühlend, und vielleicht musste ich erst schwach und hilfsbedürftig sein, um diesen Hendrik kennen lernen zu können. Er kann die Firma nicht führen und er darf auch niemals Einfluss auf unsere Geschäfte bekommen, weshalb ich mein altes Testament hiermit noch einmal ausdrücklich bestätige. Meinen gesamten Besitz vermache ich George, meinem Erstgeborenen, der mein Lebenswerk verantwortungsbewusst weiterführen wird. Aber mich treibt die Sorge um Hendrik, meinen Zweitgeborener, dass er auf die schiefe Bahn geraten könnte, dass ich vielleicht sogar Mitschuld daran habe. Deshalb verfüge ich hiermit, dass Hendrik eine lebenslange monatliche Rente von fünftausend Euro erhalten soll, auf das er vielleicht das Leben eines Taugenichts führe, aber nicht kriminell werde und keinen anderen Menschen schade. Entbunden von allen Sorgen des täglichen Broterwerbs möge er eine Aufgabe finden, die seinen Talenten würdig ist.“

Das war ein Ding. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Keine umständlichen Verhandlungen mit George, sondern einfach ein Leben in saus und braus. Und der Erbfall war hiermit gerade passend eingetreten. „Ist das ein gültiges Testament“, fragte er mit gebrochener Stimme. „Ja sicher“, sagte der Kommissar. Handgeschrieben, mit Datum, eindeutig vom Erblasser.“ Er zögerte, während er Hendrik aufmerksam ansah. „Es fehlt nur noch die Unterschrift, um dieses Papier zu einem gültigen Testament zu machen. Der Mörder ist wohl ein paar Minuten zu früh gekommen.“
 

Maulbeere

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Das Testament

Jetzt brauchte er nur noch Handschuhe. Mit energischen Schritten querte er die Straße und eilte zum Haupteingang von Hertie. „Das ging doch schnell“, freute er sich. Nach dem Essen machte der Alte immer seinen Mittagsschlaf und er hatte es kaum erwarten können. Sich den Daimler schnappen und losbrausen waren eins gewesen und jetzt hatte er schon fast alles zusammen. „Echt Leder“; er schüttelte innerlich den Kopf. Nach der Aktion musste er die Handschuhe sowieso wegschmeißen, das war klar. Auch wenn sich keine Fingerabdrücke fanden, waren Handschuhe immer verdächtig. Und er wollte keinen Fehler machen. Also nahm er die schwarzen aus Kunstleder für 16,95€, das musste reichen. „Jetzt nur nicht nervös werden“, mahnte er sich. „Unauffällig bleiben und sicher nach Hause kommen. Und vor allem keine Schramme an den Wagen fahren, sonst ist alles im Eimer.“

Er bezahlte seine Handschuhe, warf den Kaufbeleg in den nächsten Papierkorb und eilte zur Tiefgarage. „Wenn der Alte schon wach ist, wenn ich zurück komme, erzähle ich ihm einfach, ich wäre spazieren gegangen. Der hat seinen Wagen schon seit Monaten nicht mehr angeschaut. Wieso sollte er auf die Idee kommen, dass ich damit eine kleine Spritztour mache. Und wenn schon“, grummelte er „Eigentlich ist es völlig egal. Ich wisch ihm den Hintern ab, da werde ich mir wohl mal seine Karre ausleihen dürfen.“

Zügig fädelte er in den Verkehr ein. Sein Alter machte nach dem Essen immer seinen Mittagsschlaf und er hatte die Zeit genutzt alles vorzubereiten. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Seit Jahren hatte sein Vater kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Als ob er Luft wäre. „Du bist das schwarze Schaf der Familie“, war das Letzte gewesen, mit dem er ihn liebevoll bedacht hatte. Und dann Schluss. Kein Anruf mehr, kein Glückwunsch zum Geburtstag, nichts.

Bis vor 3 Monaten. Da hatte ihn George angerufen, sein geliebtes Bruderschwein. Doktor der Rechte, schon mit 31 Assistent der Geschäftsleitung und fast schon Juniorchef. Augapfel und ganzer Stolz ihres gemeinsamen Erzeugers. Hatte ihm knapp mitgeteilt, dass ihr Vater einen Schlaganfall erlitten habe und Zuhause gepflegt werden müsse. „Kommt überhaupt nicht in Frage, dass wir unseren Vater in ein Pflegeheim abschieben“, hatte er ihm beschieden, „nach allem ,was er für uns getan hat.“ Das hatte er tatsächlich gesagt. Für uns! Dabei hatte der Alte doch nur etwas für ihn getan, seinen George, Stammhalter, Erbe und Fortführer der Familiendynastie, aber doch nicht für seinen missratenen Zweiten, Hendrik, den Schulschwänzer, Kaufhausdieb, Junkie, der seine Zeit in zwielichtigen Kellern vertrödelte, statt an die Zukunft zu denken.“ Wütend krallte er seine Hände ins Lenkrad. „Ja, so ist es immer gewesen. George vorne, George hinten, und er immer die große Enttäuschung. Zuerst die Verbote, die Strafen, dann die Maßnahmen und am Schluss nur noch diese mitleidigen Blicke, die noch tiefer bohren als alle Worte und vor denen er davon gelaufen ist. Fast fünf Jahre; so lange ist das jetzt schon her. Kein Wort, keine Karte, kein Telefonanruf. Und plötzlich ist George in der Leitung und erwartet, dass er sich kümmert, seinen Vater pflegt, der nur noch lallen kann und endlich seine Schuld abträgt. Ja Schuld.“ Hier musste er abfahren. Dann noch 2 kleine Ortschaften, dann war er wieder Zuhause. Jetzt nicht mehr als Sohn, schon lange nicht mehr als Sohn, sondern als Pflegekraft. Umsonst. Oder besser gesagt gegen Essen und Trinken und ein kleines Haushaltsgeld, dass ihm sein Bruderherz bei seinen seltenen Besuchen großzügig auf die Kommode legte. „Ja, sein großer Bruder hat keine Zeit. Muss den Laden im Schwung halten, durch die Welt jetten, Kohle machen und er, der arbeitslose Nichtsnutz kann sich doch mal nützlich machen, Händchen halten, Mund abwischen und das Personal beaufsichtigen. Dabei ist klar, dass er nichts zu sagen hat. Alles läuft über George.“ Er stellte den Motor ab und ließ den Wagen auf den Hof rollen.

Endlich Mitternacht. Er öffnete seine Zimmertür, lauschte. Nichts. Schnell zog er sich an, schlich die Treppe hinunter. Im Schuppen lagen neue Klamotten, nicht einmal getragen. Sobald er sich umgezogen hatte, würde nichts mehr auf ihn hinweisen; sogar ein Harrnetz hatte er sich gekauft, damit keine Spur am falschen Ort zurückblieb. Er lachte. „Eigentlich ist es egal, denn ich lebe jetzt schon seit Monaten mit im Haus und warum sollte es von mir keine Spuren geben? Aber nicht heute Nacht. Nicht bei meiner Aktion. Viel verstehe ich nicht von der Arbeit der Polizei. Gut möglich, dass sie Spuren direkt der Tatzeit zuordnen können. Besser nichts riskieren.“ Eilig wechselte er die Unterwäsche; scheiterten nicht immer wieder Verbrechen an nebensächlichen Kleinigkeiten. Dann doch lieber etwas übertreiben. Er schmunzelte. Noch die Gesichtsmaske überstreifen und dann war er der Kleinkriminelle, der Einbrecher, der sich die abgelegene Villa im Wald ausgesucht hatte.

Er trat aus dem Schuppen. Heute war Neumond, fast völlig dunkel. Gut. Aber eigentlich war das egal. Er hatte keine Zeit mehr, Neumond oder nicht. Er schlug einen Bogen durch den Wald, einen großen Bogen, näherte sich dem Haus von der Südseite; niemand sollte auf die Idee kommen Spuren des Einbrechers im Schuppen zu suchen. Die Terrassentür war das größte Problem, das war ihm klar. Die musste er ohne viel Krach aufhebeln; es wäre schön blöd gewesen, wenn der Alte ihn jetzt schon überraschte. Jeder normale Einbrecher würde sofort fliehen, wenn plötzlich das Wohnzimmerlicht angeht und man noch draußen auf der Terrasse steht. Und wie sollte er dann so schnell in seine alten Klamotten schlüpfen und zurück ins Haus kommen? „Jetzt nur einen kühlen Kopf bewahren“, mahnte er sich. Wenn er erst drinnen im Haus war, konnte er zur Not improvisieren. Er setzte die Brechstange an. Hatte er mal im Krimi gesehen. Einfach die Brechstange unter die Türflügel schieben und den ganzen Salat aus den Angeln heben. Er schob die Stahlspitze in den schmalen Spalt und setzte das Stahlrohr auf das äußere Ende. Hebelverlängerung. Er grinste. Es gab doch tatsächlich Fälle, in denen Schulwissen nützlich sein konnte. Wer hätte das gedacht.

Ging doch wie im Bilderbuch. Ein kurzer Ruck und die Tür war aus den Angeln gesprungen. Hing noch mit dem Schloss auf der anderen Seite fest und war nicht ins Wohnzimmer gefallen. Auch gut. Ja so ein Krach hätte den Alten sicher geweckt. Dann hätte er halt reagieren müssen, schließlich hatte er die Brechstange gerade passend in der Hand. Aber eigentlich war es ihm lieber, er konnte Ort und Zeit selbst bestimmen. Wollte erst noch ein bisschen den Einbrecher spielen, vielleicht nicht ganz Profi, aber auch nicht den blutigen Anfänger. Leise lachte er in sich hinein. „Wer hätte gedacht, dass es mir wichtig sein könnte, bei der Polizei einen guten Eindruck zu machen? Und auch bei meinem Alten.“ Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er auch an seinen Vater gedacht hatte. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Nie wieder sollte der ihn mit diesem mitleidigen Blick anschauen, ihn, den Volltrottel, der nichts auf die Reihe bekam und der noch nicht mal eine Tür vernünftig aufhebeln konnte. Nein, sein Vater sollte ihn stark erleben, stark und angsteinflößend; wenigstens einmal. Er schüttelte den Kopf. Ja sein Vater hatte sich gut von dem Schlaganfall erholt, erstaunlich gut. „Kommandiert fast schon wieder wie in alten Tagen; Hendrik, mach dies, Hendrik mach das und manchmal auch nur Hendrik, laut und ungeduldig, bis er die Treppe hinaufgerannt kommt und atemlos ins Zimmer stürmt. Nein; er würde sich an keinem Wehrlosem vergreifen. Im Gegenteil. Sein Alter ist fast schon wieder der Alte und spricht jetzt immer öfter davon, bald selbst für sich sorgen zu können, schon sehr bald. Und dann? Dann werden sie ihn fortjagen wie einen räudigen Hund. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Dafür wird sogar George persönlich anreisen, George, der sonst nie Zeit hat. Aber seinen kleinen Bruder auf die Straße zu setzen, das wird er sich nicht nehmen lassen. Und dann ist er draußen, endgültig draußen.“ Er ballte die Fäuste. „Und ausgerechnet jetzt will der Alte sein Testament machen.“ „Hendrik“, hatte er vor einer Woche zu ihm gesagt. „Hendrik, mein Schlaganfall hat mir gezeigt, dass es Zeit wird meine Nachfolge zu regeln und reinen Tisch zu machen. Das verstehst du doch, dass George die Firma übernehmen wird, dass meine Nachfolge geregelt sein muss.“ Ja, er hatte verstanden.

Vorsichtig, wie es sich für einen Einbrecher gehört, schlich er durchs Wohnzimmer, öffnete alle Schranktüren und Schubladen, kramte ein wenig lustlos in verschiedenen Papieren, hob Bilder von der Wand, immer auf der Suche nach etwas Brauchbarem, dass sich zu Geld machen ließ. Natürlich fand er auch den Familienschmuck, klar, er wusste doch wo der war, aber der Einbrecher nicht und so ließ er sich Zeit, suchte vorher erst hier und dort. Nun gut. Er ließ das Collier durch seine Finger gleiten. Echte Brillianten und noch anderes Zeug. Schade. Das Ganze war sicher mehrere Zigtausend wert, aber er würde nichts riskieren. Er grinste. Ja, dass würde ihnen so passen, dass er den Schmuck zum Hehler schleppte und sie so auf seine Spur kämen. Aber nicht mit ihm. Sobald er draußen war, würde er das ganze Zeug vergraben und erst mal Gras drüber wachsen lassen, ganz viel Gras. Er ließ den Schmuck in den mitgebrachten Rucksack gleiten.

Langsam sah er sich um. Die aufgebrochene Terrassentür, das durchwühlte Wohnzimmer, die offene Schmuckschatulle. Sah wirklich gut aus. Und überzeugend. Jetzt musste er nur noch seinen Alten wecken. Irgendeine Ungeschicklichkeit, die genug Krach machte, ihn aus dem Bett zu holen. Er zögerte. Hatte er noch irgendwas vergessen? Musste er vorher noch etwas erledigen? Plötzlich fiel es ihm ein. Klar. Die Polizei würde das Haus versiegeln und auch er hatte keinen Grund mehr hier wohnen zu bleiben, wenn sein Alter nicht mehr war. Dafür würde schon George sorgen. George, der ihm alles zutrauen würde. George würde ihn verdächtigen, da war er ganz sicher. Und dann? Dann würde es Wochen dauern, vielleicht sogar Monate, bis er an sein Erbe kam. Und wovon sollte er bis dahin leben? Wieder von Harz IV? Und seine Bude war inzwischen auch weg. Er brauchte noch was zum überwintern, Geld, mit dem er die Zeit überbrücken konnte, bis alles geregelt war. Er griff in den Rucksack, fühlte den Schmuck. Klar, er wusste, wo er den verticken konnte, schließlich hatte er schon einiges unter der Hand versilbert. Aber hier ging es um mehr. Auch sein Hehler konnte zwei und zwei zusammenzählen. Blieb noch der Safe. Er überlegte. „Den wollte ich eigentlich in Ruhe lassen. Den kriegt so ein kleiner Einbrecher sowieso nicht auf.“ Aber andererseits. Er brauchte ihn überhaupt nicht zu knacken. Er kannte die Kombination. „Es wäre ja noch schöner, wenn ich hier monatelang bei meinem Alten rumhänge und noch nicht mal an die Kombination von Safe käme.“ Nicht mit ihm. Und Spuren würde er auch keine hinterlassen. Er würde den Safe ganz normal öffnen, sich mit Barem versorgen und den Safe wieder sauber verschließen. Hatte ja mit dem Einbruch gar nichts zu tun. Und George? Wusste sein Bruder genau, wie viel Geld im Safe war? Er war sich nicht sicher. Na gut, im Zweifelsfall würde George ihn verdächtigen etwas Geld abgezweigt zu haben. Na und? Das konnte er vielleicht sogar zugeben, natürlich nur unter vier Augen. Er grinste. George würde ihn für einen Dieb halten, das war es. „Wahrscheinlich hängt der das nicht mal an die große Glocke. Könnte ja dem Familienruf schaden. Aber sonst bin ich aus der Sache raus. Das wird auch George einleuchten. Wieso sollte ich meinen Alten kalt machen und diese schöne Geldquelle zum versiegen bringen.“ Er rieb sich die Hände. Genial. Das würde seinem großen Coup noch das Tüpfelchen aufsetzen. „Mein geliebtes Bruderschwein wird sich groß vor mir aufblasen, den Selbstgerechten geben. Das konnte er schon immer gut. Und ich spiele den Zerknirschten, die typische Rollenverteilung zwischen uns. Damit wird George zufrieden sein. Sein Verdacht hat sich bestätigt und er kann sich in seiner Selbstgerechtigkeit suhlen. Wahrscheinlich wird er mich unter Druck setzen oder sogar erpressen. Dass ich ihm die Firma nicht streitig mache und am besten verdufte, möglichst irgendwohin, wo er mich endgültig vergessen kann. Nun gut. Den Gefallen würde er ihm tun. Klar, den großen Boss will er alleine spielen, aber was soll’s. Gegen eine vernünftige Abfindung kann er die Firma haben. So ein Betrieb macht sowieso nur Stress.“

Er konnte sich kaum daran erinnern, wie er ins Bett gekommen war. Er hatte nur noch raus gewollt, raus aus diesem Wohnzimmer, aus diesem Haus und fast hätte er dabei seinen Rucksack stehen gelassen und er wusste nicht, ob er die Kraft hatte dieses Wohnzimmer noch mal zu betreten. Ja, er hatte den Rubikon überschritten. Rubikon. Auch so eine Erinnerung aus seiner Schulzeit, die ihm gefallen hatte. Nicht mehr zurück können, ja das war es wohl. Er hatte den Safe leergeräumt und auch ein hübsches Sümmchen gefunden und einen Moment, ja einen Moment war er drauf und dran gewesen, einfach das Geld einzustecken und sich davon zu machen, wie der Einbrecher, der er ja war, der er auch war, und seine Beute in Sicherheit zu bringen. Und Plötzlich stand sein Vater vor ihm. War aus dem Arbeitszimmer gekommen, nicht aus dem Schlafzimmer, wie er gedacht hatte, nicht die Treppe herunter, die er die ganze Zeit im Auge behalten hatte, sondern aus dem Arbeitszimmer, war direkt in seinem Rücken aufgetaucht und hatte ihn mit Namen angesprochen, ohne jeden Zweifel in der Stimme, hatte ihn angesprochen, als ob er überhaupt nicht maskiert gewesen wäre, vielleicht etwas überrascht, aber ohne jede Furcht und mit dem Dämmern der Erkenntnis über den Grund ihrer plötzlichen Begegnung hatte sich wieder diese resignierte Verachtung in seinem Blick gezeigt, vor der er vor Jahren davon gelaufen war. Nun gut; heute hatte er es zuende gebracht. War nicht weg gelaufen, obwohl die Brechstange auf dem Wohnzimmertisch lag, unerreichbar weit weg, hatte es mit seinen eigenen Händen getan, gefühlt, wie sein Vater unter der Wucht seines Körpers zusammengebrochen war, plötzlich alt und zerbrechlich und er hatte sich geschämt für diese übertriebe Kraft, mit der er auf den Wehrlosen eingeschlagen hatte.

Plötzlich hatte er sich gefangen, wurde ganz ruhig. In Gedanken rekapitulierte er noch mal die vergangene Nacht. Der Safe war ordentlich verschlossen. Gut. Der Rucksack mit dem Schmuck, seiner Verkleidung und einem Großteil des Geldes lag sicher vergraben im Wald. Er hatte lange geduscht, sich die Fingernägel gereinigt. Eine halbleere Schachtel mit einem starken Schlafmittel lag auf dem Nachtschränkchen, sein Alibi dafür, dass er weder vom Einbruch noch vom darauf folgenden Kampf irgendetwas mitbekommen hatte. Er lächelte. Ja sie hatten ihn alle unterschätzt. Kein kleiner Bruder mehr, der nichts auf die Reihe bekam, sondern ein strategischer Denker, der jede Entwicklung vorausahnt und mit kühlem Kopf die Situation beherrscht. Ein wenig bedauerte er, dass sie von seiner Meisterleistung nie etwas erfahren würden.

„Ja, Herr Kommissar. Zuerst habe ich den Notarzt gerufen, da dachte ich noch, mein Vater wäre gestürzt, er lag so komisch da und dann habe ich erst das Durcheinander bemerkt und die aufgebrochene Terrassentür.“ Das hatte er gut hinbekommen. Er hatte sehr aufgeregt und etwas durcheinander berichtet, aber das war völlig normal in so einer Situation und es hatte vor allem nicht einstudiert gewirkt. Er ließ sich erschöpft in den Sessel fallen. Um ihn herum wirbelnde Hektik. Ein Team in weißen Kitteln und Handschuhen beklebte alle denkbaren Gegenstände und Oberflächen mit Tesa-Film um Fingerabdrücke zu sichern und sie würden sicher eine Menge finden, da war er ganz sicher, nur nicht vom Einbrecher, der hatte schließlich Handschuhe getragen. Die Leiche war längst fortgeschafft worden und sie hatten pietätvoll darauf verzichtet, vorher Fingerabdrücke von ihr zu nehmen, aber das würden sie sicher in der Gerichtsmedizin nachholen, allein schon für den Vergleich. Keiner kümmerte sich um ihn. Er saß seit Stunden in seinem Sessel, überwältigt von Entsetzen und Trauer und das ganze Ermittlungsteam schlich in respektvoller Entfernung um ihn herum, während er ihre Arbeit aus den Augenwinkeln beobachtete. Die Situation gefiel ihm. Solange er nichts tat, machte er nichts falsch und dass man ihn völlig in Ruhe ließ bewies doch, dass man von ihm keinen Beitrag zur Aufklärung des Verbrechens erwartete. Im Gegenteil. Seine würdevolle Haltung hatte Eindruck gemacht und irgendwann würde dieses wuselige Heer kleiner Beamter und Angestellter ihm Bericht erstatten über ihre sicher mehr als dürftigen Ermittlungsergebnisse und er würde ihn huldvoll entgegennehmen, noch ganz überwältigt von seiner Trauer.

Irgendwann wurde es ihm zu viel. Er stand auf. „Entschuldigung, Herr Kommissar“, sagte er mit gebrochener Stimme. „Werde ich hier noch gebraucht? Ich würde mich gern zurückziehen.“ Der Angesprochene stockte in seinem zielstrebigen Gang, drehte sich zu ihm um, schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. „Natürlich“, sagte er, „wir kommen hier schon allein zurecht. Nur eine Frage. Kennen sie die Kombination vom Safe?“ „Aber ja“, hatte er würdevoll geantwortet, bevor er sich daran erinnerte, dass er eigentlich vorgehabt hatte, sie nicht zu kennen. Aber das war letztlich egal, zeigte es doch nur eindrucksvoll das vertrauensvolle Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater. „Dann würde ich sie bitten, den Safe für uns einmal zu öffnen.“ Was sollte das jetzt. Der Safe hatte doch mit dem Einbruch offensichtlich gar nichts zu tun. Einem Moment wollte er aufbegehren, aber er hatte sich in der Gewalt, unterdrückte seine Frage. „Selbstverständlich“, sagte er stattdessen.

Wirklich interessant“, sagte der Kommissar, als sie vor dem geöffneten Safe standen. „Der Einbrecher hat dieselben vier Tasten berührt, die zum Öffnen des Safes benötigt werden. Nur diese vier Tasten. Finden sie das nicht erstaunlich.“ Freundlich lächelnd drehte er sich zu Hendrik um. „Ich bin wirklich gespannt, ob wir dieselben Spuren auch im Inneren des Safes finden, sie verstehen schon, diese billigen Kunstlederhandschuhe, die überall abfärben. Aber das kann warten. Eigentlich wollte ich ihnen etwas anderes zeigen.“

Er nahm Hendrik freundlich am Arm und führte ihn ins Arbeitszimmer. „Wussten sie, dass ihr Herr Vater sein Testament machen wollte“, fragte er mitfühlend. „Aber nehmen sie doch Platz, er hat auch etwas über sie geschrieben.“ Er schob Hendrik einen sorgfältig beschriebenen Bogen Papier herüber. „Können sie bestätigen, dass dies die Handschrift des Verstorbenen ist?“ Aber ja, das konnte Hendrik bestätigen. Diese sorgfältige, etwas verschnörkelt ja geradezu aristokratische Handschrift gehörte seinem Vater. Plötzlich brachte er kein Wort heraus. Er bestätigte die Frage nur mit einem stummen Nicken. „Lesen sie ruhig“, sagte der Kommissar.

„Meinen Sohn Hendrik habe ich nie verstanden, vielleicht sind wir einfach zu verschieden. Er taugt nicht zur Arbeit, ist sprunghaft und faul. Auch sucht er die Gemeinschaft mit zwielichtigen Gestalten, das hat er von frühester Jugend an getan. Aber ich habe in den letzten Monaten Hendrik auch anders erlebt, hilfsbereit und mitfühlend, und vielleicht musste ich erst schwach und hilfsbedürftig sein, um diesen Hendrik kennen lernen zu können. Er kann die Firma nicht führen und er darf auch niemals Einfluss auf unsere Geschäfte bekommen, weshalb ich mein altes Testament hiermit noch einmal ausdrücklich bestätige. Meinen gesamten Besitz vermache ich George, meinem Erstgeborenen, der mein Lebenswerk verantwortungsbewusst weiterführen wird. Aber mich treibt die Sorge um Hendrik, meinen Zweitgeborenen, dass er auf die schiefe Bahn geraten könnte, dass ich vielleicht sogar Mitschuld daran habe. Deshalb verfüge ich hiermit, dass Hendrik eine lebenslange monatliche Rente von fünftausend Euro erhalten soll, auf dass er vielleicht das Leben eines Taugenichts führe, aber nicht kriminell werde und keinem anderen Menschen schade. Entbunden von allen Sorgen des täglichen Broterwerbs möge er eine Aufgabe finden, die seinen Talenten würdig ist.“

Das war ein Ding. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Keine umständlichen Verhandlungen mit George, sondern einfach ein Leben in saus und braus. Und der Erbfall war hiermit gerade passend eingetreten. „Ist das ein gültiges Testament“, fragte er mit gebrochener Stimme. „Ja sicher“, sagte der Kommissar. Handgeschrieben, mit Datum, eindeutig vom Erblasser.“ Er zögerte, während er Hendrik aufmerksam ansah. „Es fehlt nur noch die Unterschrift, um dieses Papier zu einem gültigen Testament zu machen. Der Mörder ist wohl ein paar Minuten zu früh gekommen.“
 



 
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