Das Träumen ist nur eine Flucht - Chevy Chase Variation

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Walther

Mitglied
Das Träumen ist nur eine Flucht,
So hört man immer klagen.
Hast Du das Träumen schon versucht?
Das will man öfter fragen.

Wer ist nicht gerne außer sich
Und will sich still betrachten?
Solch Träumen soll man willentlich
Bestrafen und verachten?

Mein Freund, ich bin nicht nur verträumt
Des Nachts, nein, auch am Tage!
Ich glaube, dass man nichts versäumt,
Das Leben wär nur Plage,

Wenn man sich ohne Illusion,
In seiner Eiseskälte,
In seiner Hatz und seiner Fron,
Sich stets der Wahrheit stellte!
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Zwar nicht "Chevy Chase", aber: Es ist auch eine altbekannte Form, die sehr oft verwendet wird, vor allem in volksliedhaften Strophen. Ein Beispiel ist: "Bei einem Wirte wundermild/da war ich jüngst zu Gaste ...".

In früherer Zeit wurde die zweite und vierte Strophe mit "klingender Kadenz" gesprochen bzw. gesungen. Heute ist sie meist unbetont.

Heute wird im gesprochenen Text meist auf die klingende Kadenz verzichtet, bei der die zweite Silbe von Klagen eine Nebenbetonung trägt.

Viele alte Volksballaden und Liebeslieder haben diese Form.

Danach ist es sogar die vierthäufigste deutsche Strophenform.

Abgeleitet ist sie von einer mittelalterlichen Langzeile, der "Vagantenzeile", die jambisch ist und sieben Versfüße hat und mit einer klingenden Kadenz endet.

---
Die Informationen stammen aus: Horst J. Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen.
---

Du hast die Form sehr gut durchgehalten. Man merkt hier auch, dass es einfach klingt und fast automatisch volksliedhaft.
 

Walther

Mitglied
Lb. Bernd,

danke für Deine ausführlichen Hinweise. In der Tat ist mir bewußt, daß mein Metrum nicht ganz Chevy-Chase ist. Ich habe mir erlaubt, im kurzen Vers eine weibliche Kadenz zu verwenden, damit die Sache besser flutscht. Daher nannte ich das auch "Chevy-Chase-Variation".

Du gibst Dir sehr viel Mühe mit mir Widerspenstigem, dafür mein besonderer und ehrlicher Dank!

Ich erlaube mir immer solche Spielchen, weil man ja auch an das laute Lesen (das ja fast ein Singen ist) denken sollte, wenn man Lyrik schreibt (dafür ist sie nämlich gedacht, das einfache Lesen wie bei Prosa, das ist nichts für die deklamatorische Ader, die der Lyrik, besonders der Formlyrik, eigen ist). Und in der Tat kann man diese Strophenstruktur auch im Bänkelsang wiederfinden, wobei sie dort aber meist wenigstens teilweise trochäisch ist, das gibt zusätzlichen Speed.

Ich werde demnächst mal einen reinen Chevy Chase und einen reinen daktlyischen Hexameter schreiben. Aber dazu muß die rechte Muse vorbeiflügeln und mir ihr Sirren schenken. :D

Frohes Dichten und Werken!

LG W.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Form mit der weiblichen Kadenz ist auch sehr gut.
Ich habe verstärkt begonnen, mich wieder mit diesen Formen zu beschäftigen.
Wusstest Du, dass Deine Form im Prinzip auch in der Carmina Burana verwendet wurde?

Letztlich ist es nicht entscheidend, welche Form man verwendet, sondern wie man sie verwendet.
 

Walther

Mitglied
Lb. Bernd,

nein, Carmina Burana kenne ich gesungen, aber nicht als Text gelesen/geschrieben. Daher ist mir das nicht aufgefallen.

Letztlich hast Du recht mit dem, was Du sagst. Allerdings macht es schon Freude, sonst machten wir es ja hier nicht, die "alten" Formen mit neuem Leben zu versehen. Nun kann sich unser Geschmack und unser Rhythmusgefühl schwerlich hinter Rock, Blues, Bluegrass, Hiphop und Rap zurückentwickeln. Wir brauchen heute mehr Speed, mehr Groove in der Lyrik, als das noch vor Mitte des 19. Jahrhunderts der Fall war. Vielleicht sind wir da wieder beim Mittelalter, in dem Trommel und Rhythmuselemente, der geschlagene Takt bei tanzendem Vortrag, eine größere Rolle spielte als danach.

Es muß also mehr fetzen als früher bei den alten Meistern. Und daran kann man sich ja übend versuchen. ;)

LG W.
 
Lieber Walther,

jawoll! Tagträume sind wundervoll. Jeden Tag ein paar Minuten, das entspannt und lässt einen zur Ruhe kommen. Es hat mit Flucht nichts zu tun - meiner Meinung nach.
Wer ist nicht gerne außer sich
Und will sich still betrachten?
Gefällt mir sehr.

Liebe Grüße,
Karin
 

Walther

Mitglied
Lb. Estrella,

es freut, in Dir eine bekennende Mittagtgräumerin zu haben. Manches läßt sich aus der "Ferne" besser lösen, daher muß man es "entäußern". Ein Traum, ein Gedicht, ein Tagebucheintrag: Das kann dabei sehr gut weiterhelfen.

Lieber Dank und Gruß W.
 

Walther

Mitglied
Das Träumen ist nur eine Flucht,
So hört man immer klagen.
Hast Du das Träumen schon versucht?
Das will man öfter fragen.

Wer ist nicht gerne außer sich
Und will sich still betrachten?
Solch Träumen soll man willentlich
Bestrafen und verachten?

Mein Freund, ich bin nicht nur verträumt
Des Nachts, nein, auch am Tage!
Ich glaube, dass man nichts versäumt:
Das Leben wär nur Plage,

Wenn man sich ohne Illusion
In seiner Eiseskälte,
In seiner Hatz und seiner Fron,
Stets harter Wahrheit stellte!
 



 
Oben Unten