Das Ungeheuer

Das Ungeheuer

Ich war gerade fünf geworden. An dem für mich unvergessenen Tag saß ich geschützt in der Nische des kleinen Schieferhauses, das unsere Eltern im Bergischen angemietet hatten. Unsere Heimatstadt Düsseldorf war alles andere als Heimat für uns in jener Zeit. Feindliche Bomber luden ihre unselige Fracht tagtäglich, und bevorzugt nachtnächtlich auf die schöne Stadt am Rhein ab. Unsere Eltern hatten meine Schwester und mich mit der Oma in dieses kleine Dörfchen Nahe Remscheid verbracht, um dem allen nicht mehr ausgesetzt zu sein.

Ich trug, wie alle Kinder in jenen Tagen, einen dunklen Trainingsanzug, zur Tarnung. Die Frühlingssonne wärmte wohlig meine kleine Gestalt. Ich schloss die Augen. Die Sonne war von einem dunklen Wolkenschwarm verdeckt. Ich fröstelte wie so häufig und murmelte beschwörend die Worte, die fast immer von Erfolg gekrönt wurden:
„Lieb’ Sönneken, komm doch wieder!“ Selig gab ich mich erneut dem Wärmespender hin.

„Du entfernst dich nicht weit vom Haus,“ hatte Oma mir eingetrichtert. Erneut wurde die Sonne von Wolkenschatten verdrängt. Ich erhob mich.
„Ein kleines Stück darfst du wohl gehen,“ mutmaßte ich.

Auf dem Weg zur Anhöhe knickte ich einen Löwenzahn. Ich pustete das luftige Gebilde an. Augenblicklich tanzten viele kleine Fallschirme, durch die Luft, die der aufkommende Wind alsbald mit sich fort trug. Wo hatte ich so etwas schon einmal gesehen?
Dort auf der Anhöhe, aber viel viel größere! An ihnen baumelten Soldaten. Sie landeten auf dem Hügel, zu dem ich mich hin bewegte.

„Vielleicht kommen noch mal welche?“ hoffte ich insgeheim. Beim Betrachten des leeren Blütenbodens in meiner Hand wurde ich unruhig. Ich neigt den Kopf, um besser hören zu können.
Aus der Ferne vernahm ich ein tiefes Brummen, das immer näher kam, immer lauter wurde!
„Wenn du ein Flugzeug hörst, wirf dich sofort auf den Boden!“ hatte meine Großmutter gesagt. Ich geriet in Panik, lief den Weg zurück. Direkt über mir konnte ich deutlich das Ungeheuer erkennen. Der Motorenlärm war unerträglich. Beim Laufen hielt ich mir die Ohren zu, konnte kaum mehr atmen. Verzweifelt stürmte ich vorwärts, hatte nur einen einzigen Gedanken:
„Nach Hause!“
Das Törchen war verschlossen. Schweißnass, mit zittrigen Händen riss ich an dem Riegel. Ich schlüpfte hinein, merkte in dem Augenblick, wie ein warmes Rinnsal an meinen dürren Beinen entlang lief.

„Der Krieg ist aus, der Krieg ist aus!“ schrie eine Nachbarin im gleichen Moment aus dem Fenster.

Das Flugzeug drehte ab, ich kletterte die Stufen hoch, wo Oma mich mit dem gleichen Jubelruf in Empfang nahm. Dennoch konnte sie sich nicht enthalten, festzustellen, als sie die Bescherung sah:
„Sag mal, wirst du wieder ein Baby?“ Ich sagte nichts von der überstandenen Not und fühlte mich schuldig, schuldig, weil ich ungehorsam war.

Längst Großmutter, rede ich mit meinen Enkelkindern oft über diese Zeit von damals. Es sprudelt nur so aus mir heraus. Ich weiß, dass diese Kinder meine besten Zuhörer sind und hoffe inbrünstig, ihnen mögen solche Kümmernisse in ihrem ganzen Leben erspart bleiben.


© Heidi Hollmann
 



 
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