Das Unternehmen Walter - Wie Professor Url versuchte, den Bau der Berliner Mauer nach

rotkehlchen

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Das Unternehmen Walter

Das Unternehmen Walter

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Endlich war es Professor Url gelungen, eine Zeitmaschine zu bauen, die nicht mehr die Nachteile der Vorgängermodelle aufwies. Die Maschinen Chronomat I und II hatten sich letztendlich als untauglich erwiesen, weil sie nicht die Zeit, sondern das Alter der Versuchspersonen veränderten. Dadurch war es zu etlichen unvorhergesehenen Kollateralschäden gekommen. So etwa bei dem Versuch, das Attentat von Sarajevo im Jahre 1914 – und damit möglicherweise auch die beiden Weltkriege – nachträglich zu verhindern. Das Programm sah vor, dass der Proband dem Attentäter einen Stoß geben sollte, um den Schuss fehlzuleiten. Dazu wurde der Chronomat I genau auf Ort und Zeit einjustiert. Dann sollte der Mann wieder in die Jetztzeit zurückgeholt werden.
Man setzte den Probanden in die Kabine, schloss die Tür und schaltete die Zeitmaschine an. Aber aus irgendeinem Grunde traf der Schuss doch, und der Mann war, als man die Tür wieder öffnete, nicht mehr aufzufinden.
Eine genaue Analyse der Daten ergab folgendes: Man hatte einen zu jungen Probanden gewählt. Der Mann war 1952 geboren und unvorhergesehener Weise in einen Zustand vor seiner Geburt versetzt worden. Da seine Eltern zum Zeitpunkt des Versuchs bereits verstorben waren, kam eine Wiedergeburt, etwa infolge eines erneuten und zeitversetzten Zeugungsaktes, nicht infrage. Url meldete ihn als vermisst. Zum Glück hatte der Mann alleine gelebt und keine Nachkommen gehabt, und so blieben unangenehme juristische Weiterungen aus.

Der Chronomat C II war in sofern eine Verbesserung, als er eine Pränatalsperre enthielt, die das unbeabsichtigte Abtauchen der Versuchsperson in den vorgeburtlichen Zustand verhindern sollte.
Aber auch mit diesem Gerät konnte ein grundsätzliches Problem nicht beseitigt werden: Die Wankelmütigkeit des menschlichen Herzen. Man hatte übersehen, dass sich mit dem Lebensalter sowohl Tatkraft als auch Überzeugungen ändern. Als sich die Versuchsperson, die das Attentat auf Hitler zu einem für die Menschheit glücklichen Ende erfolgreich ausführen sollte, vor Ort befand, erwies es sich, dass sie als 14järiger Knabe dieser Aufgabe nicht gewachsen war – obwohl man den Originalschauplatz rekonstruiert und das Platzieren der Bombe ausführlich geübt hatte.
Es setzte jetzt eine Suche nach noch rüstigen alten Leuten ein. Als Mindestalter war 100 Jahre vorgeschrieben. Außerdem wurde eine üppige Aufwandsentschädigung versprochen. Tatsächlich meldete sich in den nächsten Monaten bei Url eine Vielzahl von Greisinnen und Greisen, die, aus welchem Grund auch immer, die Welt verbessern wollten. Doch bei genauerem Zusehen erwiesen sich etliche dieser Silberlinge als ausgemachte Schlitzohren. So legte ein Alter vom Balkan einen Personalausweis vor, nach dem er 108 Jahre alt war. Urls Spezialisten fanden heraus, dass der Ausweis nicht von ihm stammte, sondern von seinem Sohn, der 1957 verstorben war und denselben Vornamen trug. Allerdings waren die Augen des Sohnes auf einem anderen Dokument blau, die des Alterchens hingegen braun.
Bei der angeblich 114jährigen Lehrerin aus Brasilien, der erst mit 102 ein Rentenbescheid zugestellt worden war, weil sie bis dahin noch ihren Beruf ausgeübt hatte, genügte schon ein Blick auf die Oberarmmuskulatur, um zu erkennen, dass sie unmöglich so alt sein konnte. Die Untersuchung der Geburtsurkunde, die sie als Beweis vorlegte, ergab dann auch, dass es die ihrer Mutter war.
Übrig blieb ein steinalter ehemaliger SS-Wachmann, dessen Dokumente zweifelsohne echt, dessen Gründe, sich für eine Wiederholung des Hitlerattentates einzusetzen, allerdings fragwürdig waren. Er gab an, dadurch etwas von der Schuld, die er auf sich geladen habe, zu sühnen. Insgeheim hoffte er, dadurch einem Prozess zu entgehen. Immerhin traute man es ihm aber zu, ein solches Unternehmen auch in jungen Jahren erfolgreich durchführen zu können.
Doch auch dieser Versuch schlug fehl. Gerade, als der Proband die Aktentasche mit der Bombe näher bei Hitler platzieren wollte, blicke ihn dieser zufällig mit seinen nicht nur für Frauen betörenden Augen an – und da war es um den jungen Mann geschehen. Erneut erlag er dem 'deutschen Blick' des Führers. Er stürzte aus dem Raum, rettete sich mit kühnen Sprung in ein gerade abfahrendes Armeefahrzeug und warf sich, während schon die Alarmsirenen heulten, im Wald aus dem Wagen. Von Weitem hörte er das Gebell der herannahenden Schäferhunde. Doch da begann zum Glück schon seine Rückholung.

Trotz dieser Fehlschläge wurde Url der 'Friedenspreis der Europäischen Union' verliehen, der bisher nur wenigen Auserwählten zuteil geworden war. Seine Ankündigung, er habe vor, Menschenschlächter wie Alexander, Dschingis Khan, Napoleon, Hitler und Stalin schon in jungen Jahren, bevor sie ihre Untaten begehen konnten, zu eliminieren, begeisterte sogar die Queen. Der amerikanische Präsident ermunterte ihn, in seinen Bemühungen nicht nachzulassen, denn auch die jüngere Vergangenheit weise viele Ereignisse auf, die am besten nicht geschehen wären.
Von diesem Zuspruch beflügelt und auch aus innerem Antrieb gründete Url ein 3-D-Technologie-Campus, um zielführender an der Verbesserung seiner Zeitmaschine arbeiten zu können.

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Zunächst überprüfte Urls Team den Chronomaten C II auf seine Brauchbarkeit im 3-dimensionalen Feld. Es zeigte sich jetzt, dass die Maschine sogar im gewohnten Alltagsraum nur bedingt tauglich war. Bei den anschließenden Tests im 4-dimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum versagte sie sogar völlig. Mit dem Chronomaten C II ließen sich nämlich nur einfache zeitliche Hin- und Herbewegungen erreichen, während Seitwärtsbewegungen nicht möglich waren. Damit schied die Option aus, eine parallele Zeitschiene zu benutzen, um das Alter der Probanden unverändert zu lassen.
Viele von uns haben schon folgende Beobachtung gemacht: Man sitzt im Zug, wartet darauf, dass er endlich abfährt. Plötzlich bewegt sich der Bahnhof. Dies ist keine optische Täuschung, denn der Bahnhof bewegt sich ja wirklich. Es ist eine Fehlleistung unseres Gehirns, das von der Relativität der Bewegungen nichts weiß. Ein anderes Phänomen ist ebenso verwirrend. Die Speichen eines sich immer schneller drehenden Rades stehen zunächst still und und bewegen sich dann langsam rückwärts, entgegen der Zeitachse, die ja in die Zukunft gerichtet ist.
Der Professor versuchte nun zunächst im Rechenmodell, beide Phänomene zu vereinen. Er wollte ein System finden, bei dem es, einfach gesprochen, möglich wäre, den Bahnhof vorwärts fahren zu lassen, während der Zug – und damit die Person – steht. Es müssten dann, so war seine Überlegung, Dinge der Außenwelt, die weiter hinten lagen – also in der Vergangenheit – am Zugfenster vorüberziehen. Der Proband würde dann bei einem entsprechenden Ereignis einfach die Notbremse ziehen, aus dem Zug steigen, seinen Auftrag erledigen und danach wieder in den Zug zurückkehren.
Die Rechenmodelle erwiesen sich als hoffnungsvoll, und der Bau des Chronomaten CIII konnte in Angriff genommen werden.
Dieses Projekt nun war aus der Privatschatulle des Professors und den Bordmitteln der Universität allein nicht zu bewältigen. Deshalb trug sich Url mit dem Gedanken, zu diesem Zweck eine Firma zu gründen, der er den Namen 'time@future consulting Url' geben wollte, und Fördermittel zu beantragen. Sollte sich die Maschine als alltagstauglich erweisen, war sogar an eine wirtschaftliche Verwertung gedacht etwa in dem Sinne, dass Privatpersonen ihre Fehlentscheidungen gegen eine saftige Gebühr rückgängig machen konnten.
Doch zunächst mussten diese Fördergelder eingeholt werden. Hier nun machte Url die Rechnung zunächst ohne den Wirt, und der hieß 'Europäisches Amt für innovative Friedensforschung' mit Sitz in Bonn. Der Stapel an Formularen, den Url von dieser Behörde zugeschickt bekam, übertraf vom Volumen her weit die Konstruktionspläne für die Maschine, und gegen die Kompliziertheit der Fragen waren Urls meterlange Berechnungen ein Kinderspiel. Hinzu kam noch, dass Fördermittel nur bei Gemeinnützigkeit der Firma gewährt wurden. Also war an eine finanzielle Ausbeutung der Erfindung vorerst nicht zu denken. Doch der allseitige Zuspruch bewog ihn, die Maschine auch ohne diese Option zu bauen.
Eines Tages waren alle Hürden überwunden, und Urls Ingenieure machten sich ans Werk. Es wurde rund um die Uhr gearbeitet.

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Schon während der Vorbereitungsphase hatte Url eine 'Schnelle Eingreifgruppe Zeit' ins Leben gerufen und begeisterungsfähige Frauen und Männer aufgefordert, sich bei ihm zu melden. Durch die Erfahrungen mit den Alten gewitzt, wurden die Leute jetzt nicht nur körperlich, sondern auch auf ihre Gesinnung hin überprüft, bevor sie zum Einsatz kamen.
Nach etwa einem Jahr lag der Prototyp des C III zur Erprobung vor. Um kein Risiko einzugehen, stellte Url die Maschine zunächst auf eine nicht allzu ferne Vergangenheit ein. Verschiedene Mitglieder der SEG'Z' hatten zuvor den Wunsch geäußert, sie würden gerne einmal verstorbene enge Verwandte wiedersehen. Dieser Vorschlag war insofern interessant, als er die Wirkung der Zeitverschiebung auf Familienmitglieder erkunden konnte. Zum Beispiel war es eine bis dato ungeklärte Frage, ob Ehegatten, die sich dreißig Jahre nicht mehr gesehen hatten, noch verstehen würden, denn die Lebensbedingungen des Probanden hatten sich ja inzwischen erheblich verändert. Eine weitere, bisher unbearbeitete Frage war, ob Eltern ihre zeitverschobenen Kinder überhaupt wiedererkennen würden.
Nach eingehender Beratung wurde beschlossen, zu jede dieser Fragen einen Versuch zu starten, der allerdings nur von kurzer Dauer sein sollte.
Für den Ehegattenversuch wurde ein 63jähriger, sportlicher Mann ausgewählt, dessen Frau vor fünfzehn Jahren an Krebs gestorben war. Er habe, gab er an, immer noch das Bild der vom Tode Gezeichneten vor Augen und würde ihr gerne noch einmal im gesunden, lebenslustigen Zustand begegnen.
Zunächst zeigte es sich, dass der Chronomat C III nur arbeitete, wenn der Raum um ihn herum bewegt war. Das entsprach auch der Theorie, in der die Relativität von Bewegungen eine große Rolle spielte. Um größere technische Schwierigkeiten zu umgehen, ließ Url das Labor so umbauen, dass sich nicht der Raum, sondern die Versuchskabine bewegte.
Dieser Versuch war, was den eigentlichen Zweck der Maschine betraf, ein Erfolg, aber moralisch eine Katastrophe. Der Proband kam glücklich im Zieljahr an, aber unglücklich wieder zurück. Lange Zeit war kein Wort aus ihm herauszubringen. Er schüttelte immer nur den Kopf. Dann begann er, Selbstgespräche zu führen. Nach drei Tagen bat er um seine Entlassung.
Trotz der warnenden Stimmen, die sich jetzt erhoben, führte Url, um ganz sicher zu gehen, auch den zweiten Testversuch durch. Hierbei sollte ein Vater mit seinem Sohn, der vor zehn Jahren bei einem Bombenattentat in Syrien umgekommen war, wieder in Kontakt treten.
Das Ergebnis dieser Exkursion erwies sich als überaus erfreulich. Nicht nur, weil der Proband mehrere Tage bei seinem Sohn verbringen konnte und körperlich unverändert wieder zurück kam, sondern hauptsächlich deshalb, weil er, wie er freudestrahlend berichtete, sich zum ersten Mal in seinem Leben mit ihm verstanden hatte.

Wegen dieser Erfolge – die Versuchspersonen waren körperlich unverändert zurück bekommen und die Zeitmaschine arbeitete offenbar einwandfrei, wagte Url jetzt einen größeren Schritt in die Vergangenheit. Schließlich wollte er Hitler und Konsorten eliminieren, und dazu musste jetzt erst einmal versuchsweise ein größerer Zeitabschnitt zurückgelegt und eine längere Versuchsdauer gewagt werden. Auf keinen Fall durfte noch einmal einer der Probanden auf nimmer Wiedersehen verschwinden.
Er wählte das Jahr 1965 und schickte einen Mann, 32, und eine Frau, 27, beide ledig, ohne besonderen Auftrag in die Versuchskabine. Sie sollten lediglich Eindrücke sammeln. Gleichzeitig wollte er ihr Verhalten während des Versuchs studieren. Nach ihrer Rückkehr sollte dann ihre körperliche Verfassung untersucht werden, um gegebenenfalls noch Verbesserungen an der Maschine vornehmen zu können.
Um die Probanden besser auf die Verhältnisse der Zielzeit einzustimmen, hatte Urls Team ein Zugabteil der Deutschen Reichsbahn, wie es 1965 noch in Gebrauch war, in einer Halle seiner Firma originalgetreu nachgebaut und damit die alte Kabine ersetzt. Außerdem wurden die Probanden zeitgemäß gekleidet. Einem Mitarbeiter fiel auf, dass der Kahlkopf des Mannes und die Frisur der Frau wohl kaum zum Zieljahr passen dürften. Da der Aufenthalt der beiden am Zielort nur von kurzer Dauer sein sollte, war es unnötig, mit dem Versuch so lange zu warten, bis dem Mann volles Haar gewachsen war. Er bekam eine Perücke, die Frisur der jungen Frau ließ man unverändert. Schließlich bestiegen die Probanden das Zugabteil, die Tür wurde geschlossen, der Strom eingeschaltet – der Versuch begann.
Url und zwei seiner seiner Doktoranden beobachteten die beiden durch das Abteilfenster.
Zunächst war keine Veränderung zu beobachten. Die beiden scherzten und erwiderten den erhobenen Daumen, den ihnen einer der Assistenten zeigte. Doch allmählich wurden sie ruhiger, schließlich schliefen sie ein. Nach einiger Zeit standen sie auf und verließen wie in Trance das Abteil. Url und die Assistenten versuchten, durch die geöffnete Abteiltür einen Blick auf das Gelände des Zielbahnhofs zu werfen. Es war der von Lüneburg/Niedersachsen. Doch die Sicht war wie von einem Schleier verhangen. Anscheinend regnete es dort stark.
Die Exkursion war auf zwei Stunden angelegt, doch nach etwas dreißig Minuten saßen die Probanden schon wieder im Abteil. Mit Bestürzung betrachtete Url während der Rückholung ihre Gesichter, auf denen der Ausdruck höchsten Erstaunens lag. Zuweilen schien es sogar, als hätten sie vor etwas Angst.
Aus dem Zugabteil stiegen zwei völlig verstörte Menschen. Zwei Sanitäter brachten sie ins Krankenzimmer, und der Institutspsychologe wurde gerufen.
Was war geschehen?
Beide berichteten übereinstimmend, sie hätten sich zunächst gewundert, wie wenig Autos auf den Straßen zu sehen gewesen seien. Zwar seien sie auf die altertümlichen Modelle vorbereitet gewesen, aber die gähnende Leere der Straßen habe sie doch sehr überrascht, ja geradezu verstört. Manche Straßen seien noch nicht einmal gepflastert gewesen. Auch seien kaum Passanten unterwegs gewesen, und wenn, dann mit abweisenden Gesichtern. Viele Häuser seien uralt und windschief, etliche sogar mit Pfählen vor dem Einsturz gesichert. Dann seien in die Stadt wohl Bomben gefallen, denn es gebe viele Häuserlücken. Außerdem sahen ganze Straßenzüge danach aus, als würden sie langsam aber sicher im Erdboden versinken. Die ganze Stadt habe auf sie einen grauen und deprimierenden Eindruck gemacht. Dass man Hauswände in freundlichen Farben tünchen kann, schiene dort unbekannt zu sein. Am schlimmsten sei jedoch die Entdeckung gewesen, dass es in der ganzen Stadt keinen Telekom-Geschäft zum aufladen eines Handys gegeben habe.
Wovor sie denn Angst gehabt hätten, fragte der Psychologe.
Auch jetzt gaben beide übereinstimmend an, sie hätten sich während der Rückholung davor gefürchtet, durch einen Programmierfehler für immer in dieser Stadt verbleiben zu müssen.

Trotz dieses wenig erfreulichen Berichts wertete Url den Versuch als Erfolg. Die Maschine, das hatten alle Versuche gezeigt, funktionierte, die Probanden waren nach ihrer Rückkehr körperlich unverändert. Doch vorsichtshalber ordnete er an, den nächsten Versuchen ein eingehendes Couching vorausgehen zu lassen, um die Probanden auf die Besonderheiten der Zielzeit und des Zielortes vorzubereiten.
Nach weiteren erfolgreich verlaufenden Probeversuchen entschloss sich Url, die Maschine ihrem bestimmungsgemäßen Zweck zuzuführen. Zwei Mitglieder der SEGZ übernahmen die Mission, die im Protokoll den Arbeitstitel 'Unternehmen Walter' erhielt. Der eine davon, Kevin Göring, ein Rückkehrer aus Syrien mit einschlägigen Erfahrungen aber guter Prognose, erklärte sich bereit, das Attentat auszuführen. Der andere, Sören Müller, war als Begleitperson gedacht und sollte nach der Tat oder bei Lebensgefahr den Rückholprozess einleiten. Sein Großvater war von der Zielperson für fünf Jahre in eines der berüchtigten Gefängnisses des Ziellandes gesteckt und dort seelisch misshandelt worden. Dementsprechend hoch war Müllers Motivation.

Die beiden Probanden und wurden eingehend geschult. Unter anderem zeigte man ihnen Bilder und Filme des Zielortes und der bereits verstorbenen Zielperson. Sie mussten eine Biografie der Zielperson lesen, um sich mit dem Tagesablauf des Mannes und seinen Gewohnheiten bekannt zu machen. Man erläuterte ihnen die Mentalität der dortigen Bevölkerung sowie gewisse Spracheigenheiten. Was noch wichtiger war: Sie erhielten eine Einführung in die Ideologie der damaligen Staatsführung. Zum Schluss drückte man ihnen noch einen Ratgeber in die Hand, dem sie Techniken verdeckter Ermittlungen lernen konnten.
Auf eine Bewaffnung wurde aus Sicherheitsgründen verzichtet. Die Tatwaffe sollte vor Ort beschafft werden.
Da tauchte zu allerletzt eine Schwierigkeit auf, die man völlig übersehen hatte, und an der das Projekt in letzter Minute fast noch gescheitert wäre: Das Währungsproblem. Es erwies sich nämlich, dass Valuta der damaligen Währung des Ziellandes, mit denen Hotelrechnungen bezahlt und Nahrungsmittel eingekauft werden konnten, in nennenswerter Höhe nicht mehr zu beschaffen waren. Die Bestände von Sammlern und Museen kamen nicht infrage, und an einen bargeldlosen Zahlungsverkehr war nicht zu denken. Da kam Url der Zufall zur Hilfe. Ein Mitglied seiner Crew erinnerte sich, dass sein Großvater, der zur Zielzeit in diesem Lande gelebt hatte, gerne mit der Währung des Nachbarlandes bezahlt habe. Dessen Währung sei zwar auch mittlerweile durch den Euro ersetzt, aber die Banken hätten bestimmt noch Restbestände.
Tatsächlich ließen sich noch ausreichende Mittel auftreiben.
Das 'Unternehmen Walter' konnte beginnen.
Und so stiegen die beiden Männer, jetzt offiziell zu 'Friedensagenten der Europäischen Union' ernannt, aufs Beste ausgeruht und geschult, an einem Montag morgen in die Abteil-Attrappe.


4
Berlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, 15. Juni 1961, abends neunzehn Uhr dreißig.
Der große Festsaal im Haus des Ministeriums ist fast bis auf den letzten Platz besetzt. Durch die hohen Fenster fallen die letzten Strahlenbündel der untergehenden Sonne und bringen Millionen Staubteilchen zum Leuchten.
Anwesend sind etwa dreihundert Vertreter von Presse, Funk und Fernsehen der DDR, Westdeutschlands, Westberlins, aus sozialistischen und 'imperialistischen' Staaten sowie aus jungen Nationalstaaten.
Hinter dem Rednertisch: Walter Ulbricht (stehend), Vorsitzender des Staatsrates der DDR und Erster Sekretär des ZK der SED, rechts neben ihm (wie alle weiteren sitzend) Gerhard Kegel, Botschafter bei der UNO, Hermann Axen, Chefredakteur des 'Neuen Deutschland', sowie (links) Kurt Blecha, Leiter des Presseamtes und Vorsitzender des Ministerrats der DDR.
Ulbricht beantwortet Fragen der Weltpresse zum Friedensvertrag und zum Westberlinproblem. Er steht etwas zurück gebeugt, wie immer, wenn er vor Vertretern des Westens spricht, sein Gesicht wirkt trotz aller Anspannung bekümmert. Es ist kaum zu glauben, dass dieser bescheiden wirkende Mann der Mächtigste im Staate ist, vor dem die eine Hälfte seiner Untertanen, und zwar diejenige, die es zu etwas bringen will, stramm steht, während die andere Hälfte hinter vorgehaltener Hand über ihn Witze macht.
Eine Journalistin aus Westdeutschland erhebt sich. Ulbricht hat zuvor das Bild einer freien Stadt Gesamtberlin entworfen. „Ich möchte eine Zusatzfrage stellen. Doherr, Frankfurter Rundschau. Herr Vorsitzender, bedeutete das Bild einer freien Stadt ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?“
Ulbricht zögert kurz, dann sagt er: „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Äh...“ Er streicht sich verlegen den Spitzbart. Dann fährt er fort: „Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen, und ihre Arbeitskraft dafür voll ausgenutzt wird, voll eingesetzt wird.“
Einige ausländische Journalisten blicken verlegen vor sich hin. Diese Stimme! Diese hohe, dünne Fistelstimme, die Folge eines Kehlkopfleidens: Ein gefundenes Fressen für Stimmenimitatoren in Ost und West.
Und dann sagt Ulbricht den Satz, der in die Geschichte eingehen wird: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“
Seine Stimme überschlägt sich fast.

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Die beiden jungen Männer, die um elf Uhr siebenundzwanzig aus dem Interzonenzug von Frankfurt/Main Hauptbahnhof nach Berlin Zoologischer Garten aus dem Zug stiegen, sahen nicht danach aus, als hätten sie gerade eine ermüdende Fahrt in einem Zug der Deutschen Reichsbahn hinter sich. Mehrere längere Zwischenstops, unter anderem in Helmstedt und an der Grenze zu Westberlin, beim Kontrollpunkt Dreilinden, hatten die Fahrt quälend in die Länge gezogen.
Einem aufmerksamen Beobachter wäre aufgefallen, dass sie nur mit kleinem Gepäck unterwegs waren, und er hätte sich möglicherweise gewundert. Denn an diesem Morgen waren die Bahnsteige voll von Leuten, die, mit Reisetaschen über den Schultern, riesige Koffer hinter sich her zogen. Es schien, als sei halb Berlin auf der Flucht. Nun, es war nicht halb Berlin, aber viele dieser Menschen waren tatsächlich auf der Flucht. Gestern war die Meldung verbreitet worden, die DDR-Führung trage sich mit der Absicht, die Grenzen zu schließen. Diese Flüchtlinge, die alle in den 'Westen' wollten, kamen nicht nur aus Ostberlin und der 'so genannten DDR', sondern auch aus allen möglichen Ostblockstaaten.
Es war also kaum zu erwarten, dass sich jemand über zwei jüngere Männer ohne Reisegepäck den Kopf zerbrochen hätte. Zu sehr war jeder mit sich selbst beschäftigt. Allerdings entging zwei Bahnpolizisten, die nach verdächtigen Individuen Ausschau hielten, ihr suchender Blick nicht.
„Könn´n wir Ihnen helfen?“, fragte der eine, als sie vor den beiden Fremden standen.
„Wir wollen zum Hauptbahnhof der DDR.“
„Wo woll´n Se hin? Zum Hauptbahnhof der DDR? Jibt et nich, und ne DDR kenn ich nich. Bei uns hier heißt det Ostzone!“
„Er meint den Ostbahnhof“, sagte der andere Polizist, der offenbar politisch etwas weniger beschränkt war. Er betrachtete amüsiert die Oberlippe des einen Zugereisten. „Die Treppe runter und dann die S-Bahn Richtung Erkner. Können Sie nicht verfehlen.“
„Und wo können wir hier Tickets kaufen?“
„Was für Dinger?“
„Fahrscheine.“
„Sie meinen Fahrkarten! Unten, in der Halle.“
„Die Firma dankt“, sagte der andere Ankömmling.
„Wat für ne Firma?“
„Ach, nichts, ist nur so´n cooler Spruch.“

„Haste dem seine Oberlippe gesehen?“, fragte der eine Polizist, ein Hüne mit buschigen Augenbrauen, als die beiden Männer im Treppenabgang verschwunden waren.
„Na klar, ich bin doch nicht blind!“ Der Sprecher rückte seine Brille zurecht. Er war auch nicht gerade klein, aber neben seinem Kollegen wirkte er geradezu schmächtig.
„Hat der Mensch noch Töne! Lässt sich nen Ring durch die Lippe ziehen! Wo gibt´s denn sowat!“
„Hab ich auch noch nie gesehen! Wo die wohl herkommen?“
„Na bestimmt nich aus Königswusterhausen, wo meine Oma wohnt!“
„Und dann diese Ausdrucksweise! Tickets! Firma dankt! Cooler Spruch! So redet hier doch keiner. Weeste was? Wir sollten mal in der Charite´ anrufen. Vielleicht fehlen da ja zwee!“

Inzwischen hatten die beiden Ortsfremden den S-Bahnsteig nach Erkner gefunden. Gerade fuhr die Bahn, einen Schwall würziger Bahnhofsluft vor sich herschiebend, ein.
Der Zug war wie immer voll. Die Männer stellten sich an die Tür und blickten nach draußen. Ihren Blicken sah man an, dass sie sich wunderten. Als sie in den Ostteil der Stadt einfuhren, murmelte der eine: „Gespenstisch.“ Der andere nickte. Obwohl sie die Fotos aus dem Bundesarchiv Bild gesehen hatten, übertraf der Anblick dieser von Kriegswunden immer noch schwer gezeichneten Stadt ihre schlimmsten Erwartungen. Ganze Stadtviertel waren dem Boden gleichgemacht. Eine Stadtwüste mit dem Namen Alexanderplatz verstörte durch ihre sibirische Weite.

Der Tag war drückend schwül, und die beiden Männer verspürten Durst und Hunger. Sie betraten eine Eckkneipe (eine Institution, die heute fast ausgestorben ist). Die Luft war von Bierdunst und Zigarettenrauch geschwängert, denn das Lokal war gut besucht. Frauen und Männer in Arbeitskleidung nahmen anscheinend ihr Mittagessen ein. Sie sahen abgearbeitet aus und aßen schweigend, mit grauen Gesichtern. Einige Gäste hingegen waren modisch gekleidet und wirkten weniger erschöpft.
Die beiden Männer setzten sich, und kurz darauf stand eine Bedienung am Tisch, eine nicht mehr ganz junge Frau von verblichener Schönheit.
„Wir würden gerne etwas essen“, sagte der eine. Er war ein kräftig gebauter Mann mit wachen Augen und einem wüsten Haarschopf. „Was ist denn da?“
„Sie können ne Bockwurscht mit Mostrich und Kartoffelsalat haben.“
„Mostrich?“
Die Frau sah den jungen Mann amüsiert an. „Süßer Senf aus Bautzen.“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nie gehört.“ Er dachte: Bautzen ist mir bekannt. Aber Mostrich? Urls Experten haben uns mit allen möglichen Wörtern gefüttert, aber 'Mostrich' war nicht dabei.

„Na, hat´s geschmeckt?“, fragte die Frau beim Abräumen des Geschirrs.
„Die Wurst schon, aber der Kartoffelsalat war mir etwas zu sauer. Das nächste Mal nehme ich lieber Fritten.“
„Fritten? Gibt´s hier nicht! Sie können ne Schrippe haben. Noch´n Bier?“
„Ja gerne. Und dann möchten wir bitte zahlen.“
Einige Gäste verließen das Lokal, andere traten ein. Es war ein ständiges Kommen und Gehen.
„Macht drei sechzig“, sagte die Frau und stellte die Biere ab.
„Das ist aber billig!“, staunte der jüngere der beiden. Er war nicht so kräftig wie sein Kollege, wirkte aber drahtiger. „Bei uns –“
Er erhielt von seinem Kollegen einen Fußtritt unter dem Tisch und verstummte. Der legte ein 5-Markstück auf den Tisch. „Stimmt so!“
„Da sag ich nicht nein!“
Die Frau nahm das Geld und rief: „Traudel, übernimmst du mal?“
Sie setzte sich. Ihre mürrische Miene hatte sich plötzlich aufgehellt. „Kann ich sonst noch etwas für euch tun?“ Sie beugte sich vertraulich vor und flüsterte: „Für Westgeld lässt sich einiges arrangieren.“
„Wir brauchen bis zum Wochenende ein Zimmer“, sagte der Ältere, „möglicherweise länger. Können Sie uns da weiterhelfen?“
„Da müssen Se ins Interhotel am Alex jehn.“

Hier sollte der Leser folgendes wissen: Url hatte bei seinen Recherchen herausgefunden, dass es zur Zielzeit in der Nähe zum Zielort mehrere so genannte Interhotels gegeben hatte, deren enormes Preisniveau ihn in Erstaunen versetzte, jedoch keineswegs abschreckte. Ihm war klar: Das Ziel, das er sich gesetzt hatte, war nicht zum Nulltarif zu haben. Er vermutete aber, dass es in diesen Nobelherbergen, in denen sich amerikanische Geschäftsleute und Politiker aus Westdeutschland die Klinke in die Hand gegeben hatten, von Spionen gewimmelt haben musste. Deshalb hatte er seinen Friedensagenten aufgetragen, auf eigene Faust loszuziehen und sich ein möglichst unauffälliges Quartier zu suchen. Ihr Aufenthalt war für eine Woche programmiert, mit der Möglichkeit einer Verlängerung. Ihr Auftrag bestand darin, Ulbricht entweder auf einem seiner Spaziergänge in Wandlitz oder auf einer seiner Dienstfahrten zu eliminieren.

„Hmm... Gibt´s hier in der Nähe nichts Kleineres, Gemütlicheres?“
„Nee, gibt et nich. Is Ihnen wohl zu teuer, wat?“
„Ehrlich gesagt, ja.“
„Wie lange wolln Se denn bleiben?“
„Eine Woche, eventuell länger.“
„Hmm...“ Erna blickte sich um. Niemand beachtete sie. „Na dann komm Se ma mit.“
Sie führte die beiden ins Treppenhaus. „Für´n Zehner West die Nacht könn Se bei mir bleiben“, tuschelte sie. „Ich hab da noch ne Kammer mitn Bett. Is aber ohne Außenfenster, und dahinter liegt det Klo.“
„Komfortabel klingt das nicht gerade“, meinte der Jüngere enttäuscht.
„Wat wollnse denn noch? Woanders liegt det Klo auf halber Treppe! Wolln Se nu oder wat?“
Die Männer blickten sich an. Der Ältere nickte.
„Jut. Aber Schnauze, det darf keena wissen!“
Sie gingen wieder zurück in den Gastraum. Die Frau strahlte. „Ich heiße übrigens Erna, und die da hinter dem Tresen ist die Traudel. Und wie heißt ihr beiden Hübschen?“
Ehe es der Ältere verhindern konnte, sagte sein Kollege: „Ich heiße Kevin, und das ist Sören.“
„Hübsche Namen sind das. Wo kommt ihr eigentlich her?“
„Von Jottweedee!“, sagte Sören schnell.
„Aha! Von Jottweedee! Na dann herzlich willkommen in unserem armen... in unserem Arbeiter und Bauernstaat!“ Erna drehte sich um und rief: „Traudel, mach ma drei Körner fertig!“


6
Die beiden Blaubeersammler, die seit etwa einer halben Stunde versuchten, in einem Wald bei Bernau ihre Körbchen zu füllen, näherten sich immer mehr dem Stacheldrahtzaun, der sich quer durch das leicht hügelige Gelände zog. In einiger Entfernung vom Zaun, der sie nicht weiter zu interessieren schien, blieben sie stehen, schauten sich kurz um und gingen dann mit gesenktem Blaubeerblick parallel zum Zaun weiter. In der Ferne schlug ein Hund an, dann noch einer – dann war, bis auf das gelegentliche Zwitschern eines Vogels, wieder Stille.
Schließlich verließen sie den Wald und betraten die Straße, die zum nahegelegenen Dorf Wandlitz führte. Einer ihnen entgegenkommenden Frau drückten sie die fast vollen Blaubeerkörbe in die Hände und gingen dann in Richtung Dorf.
In einem Biergarten am Liebnitzsee kehrten sie ein. Sie setzten sich an einen Tisch in Ufernähe. Es war ein klarer Sommertag, die Luft war warm und roch angenehm nach Seewasser. Etwas abseits warf ein Angler seine Rute aus. Für eine Weile schien es, als blickten die beiden gedankenverloren ins Weite.
„Das dahinten muss das Strandkasino sein“, raunte Kevin. „Sieht ganz anders aus als auf den Fotos.“
„Mein Gott, Kevin, wundert dich das? Wir befinden uns hier im Jahre Neunzehnhunderteinundsechzig! Und aus welchem Jahr stammen die Fotos?“
Ein Antwort erwartete Sören nicht, und sie wäre auch verdächtig gewesen, denn eine junge Kellnerin näherte sich. Es zeigte sich, dass es außer Bockwurst mit Mostrich und Kartoffelsalat oder
Bockwurst mit Mostrich und Schrippe nichts zu essen gab. Sören ließ sich eine Schrippe erklären und wählte diese Variante, Kevin die andere, und dazu jeweils eine Berliner Weiße mit Schuss.
Als die Bedienung außer Sichtweite war, raunte Kevin weiter. „Das Wachpersonal ist sogar von hier aus zu erkennen. Ich zähle zehn Mann.“
„Ich hab´s befürchtet. Weder in der Waldsiedlung noch an der Badestelle kommen wir an ihn heran. Der Zaun ist nicht das unüberwindliche Hindernis, aber der innere Ring mit der Betonmauer, dem Wachpersonal und den Kötern ist es. Und so einfach den Geldbriefträger spielen und sich nach Nr.7 durchfragen, nee, mein Lieber, das ist mir doch zu riskant. Mir ist nämlich heute Nacht siedendheiß eingefallen, was ist, wenn einer von uns erschossen wird? Oder gleich wir beide? Funktioniert das Rückholsystem dann noch? Ich kann mich nicht erinnern, dass Url diesen Fall bisher berücksichtigt hat.“
„Oha! Mannomann, daran hab´ ich noch gar nicht gedacht! Sollten wir dann nicht besser abbrechen?“
„Nein. Ich hab mit dem Kerl noch ein gewaltiges Hühnchen zu rupfen! Und wenn ich dabei draufgehe!“
„Ach! Und wenn du dabei draufgehst. An mich denkst du wohl gar nicht!“
Die Kellnerin brachte das Essen und die Getränke.
„Doch, ich denk´ an dich“, sagte Kevin, als die junge Frau wieder gegangen war. „Ich denke, du wirfst die Flinte zu schnell ins Korn. Erstens ist nicht gesagt, dass uns eine Kugel überhaupt erreichen würde. Wir –“
„Ich würde es nicht darauf ankommen lassen.“
„Lass mich bitte ausreden. Schließlich stammen wir aus einer anderen Zeitschiene. Und dann: Siehst du die Insel dort?“
„Du meinst von da aus? Mit dem Messer im Mund und dann von unten in die Leber? Und kennst du den Tag und die Stunde, wo der Genosse Staatsratsvorsitzender auszuschwimmen beliebt?“
„Nach Urls Recherchen ist er sehr sportlich und planscht dort öfters mit den Nachbarkindern herum.“
„Glaube ich nicht. Wahrscheinlich Propaganda. Alle Politiker sind sportlich, manche bis zum Umfallen. Denk an die Clinton.“
„Ich könnte von der Insel tauchen –“
„Und stehst plötzlich mit einem Messer vor ihm und stichst ihn einfach ab. Vergiss es, Kevin, vergiss es!“
„Warum nicht? Du sitzt hier und leitest nach der Tat sofort die Rückholung ein.“ Plötzlich schlug sich Kevin mit der flachen Hand vor die Stirn, dass es klatschte. Der Angler blickte kurz her und dann wieder weg. „Ich Idiot! Die Rückholung klappt ja nur in einem bewegten Fahrzeug, möglicherweise sogar nur in einem Zug der Reichsbahn!“
„Nicht so laut! Eben Kevin, eben! Und siehst du hier irgendwo einen Bahnhof in der Nähe? Das ganze Projekt Wandlitz war vor vornherein eine Fehlplanung. Der Heidekrautexpress existiert erst ab 1976. Allmählich krieg´ ich einen Hals, wenn ich an Url und seine Recherchen denke!“
„Darf es noch was sein?“
Keiner von den beiden hatte das Herannahen der Kellnerin bemerkt.
„Wie? Äh... Nein, wir möchten zahlen.“
„Zahl´n Se in Ost- oder Westmark?“
Sie war nicht hübsch, nicht hässlich. Störend wirkten die etwas vorstehenden Augen und das spitze Kinn.
„In Westmark.“
„Das macht dann sechs Mark.“
„Sagen Sie, junge Frau, dieses –“
„Frollein, wenn ich bitten darf.“
„Verzeihung! Sagen Sie, Fräulein, dieses Strandbad drüben am anderen Ufer, ist das für die Öffentlichkeit zugänglich?“
„Wenn Se baden woll´n, müssen Se zum Wandlitzsee jehn.“
„Aber das sieht doch wie ein Badestrand aus! Wer badet denn da?“
„Warum wolln Se das denn wissen?“
„Na, nur so.“
„Nur so jibt et bei uns nich! In unsam Arbeiter- und Bauernstaat hat alles seine feste Ordnung. Wenn Se Fragen haben, jehn Se ins SED-Büro am Alex. Sonst noch?“

7
Am selben Tag, gegen 16 Uhr 20
In einem der kleinen Konferenzräume des Staatsratsgebäudes saßen drei Herren und diskutierten angeregt. Die Einrichtung des Raumes war sachlich und strahlte eine gewisse kleinbürgerliche Behaglichkeit aus.
„So kann es auf keinen Fall noch lange weitergehen“, sagte gerade ein stattlicher Herr mit Doppelkinn und buschigen Augenbrauen. Er hieß Karl Maron und war der Leiter des Innenministeriums. „Im letzten Jahr ist die Zahl der Flüchtlinge, auch von gut ausgebildeten Fachkräften, rapide angestiegen. Mittlerweile fehlen allein in der Hauptstadt fünfundvierzig Tausend Arbeitskräfte, und wir sind gezwungen, Werktätige aus Westberlin anzuwerben. Ein unhaltbarer Zustand. Wenn wir nicht endlich Nägel mit Köpfen machen, droht uns die personelle und intellektuelle Ausblutung. Die Westpresse spricht schon höhnisch von einer Abstimmung mit den Füßen.“
„Von der Wühltätigkeit ausländischer Agenten gegen die Länder des sozialistischen Lagers mal ganz abgesehen“, ergänzte ein kleiner Herr mit rundem Kopf und Stirnglatze. Sein Name war Erich Mielke. Er leitete gegenwärtig das Ministerium für nationale Verteidigung, kurz MfnV. „Hinzu kommt noch, dass sich der Klassenfeind über uns lustig macht.“ Er öffnete eine Mappe, der er einen Ausriss aus einer westberliner Zeitung entnahm, und legte ihn auf den Tisch. Der Zettel enthielt eine Karikatur zur sozialen Lage in beiden deutschen Staaten. Zu sehen war die Zeichnung eines offensichtlich westdeutschen Wohnwagengespanns vor einer stark renovierungsbedürftigen ostberliner Mietskaserne, und ein abgehärmtes älteres Ehepaar, das aus einem der Fenster schaute. Beitext: Kiek mal, Mutter, so jehts denen da drüben, wenn se keene Arbeit haben!
Da niemand hinschaute, steckte Mielke die Karikatur wieder ein.
„Und wenn wir nicht endlich das Währungsproblem in den Griff gekommen“, fing jetzt der Leiter des Innenministeriums wieder an, „werden wir den das Ziel des jetzigen Fünfjahresplans mit Pauken und Trompeten verfehlen! Und ich fürchte, nicht nur dieses! Unsere Mark wird auf dem Schwarzmarkt in Gesundbrunnen mittlerweile im Verhältnis sechs zu eins getauscht! Die Damen der Hottvolee aus Westberlin können sich bei diesem Umtauschkurs in Friedrichstraße die schickste Dauerwelle für umgerechnet zwei Westmark machen lassen. Eine Bockwurst mit Mostrich und Kartoffelsalat kostet einen Westberliner in einer Eckkneipe in Mitte umgerechnet schlappe sechzig Pfennig. Das hält doch auf die Dauer keine Volkswirtschaft aus! Es ist unerträglich, wie mit der Arbeitskraft der Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik tagtäglich Schindluder getrieben wird!“
„Zwei Beamte der Volkspolizei“, setzte Erich Mielke das Klagelied fort, „haben vor einigen Tagen in der S-Bahn eine Rentnerin festgenommen, die sich unter ihrem Busen zwei Gürtel mit Hühnereiern aus einer LPG bei Hohenschönhausen festgebunden hatte. Sie gab an, sie habe die Eier in Charlottenburg an einen Lebensmittelhändler verkaufen wollen, weil die Medikamente ihres kranken Mannes und so weiter und so fort. Man kennt das. Ich frage euch, Genossen, haben wir keine Lebensmittelhändler?“
Ulbricht, der bisher schweigend zugehört und etwas zusammengesunken in seinem Stuhl gesessen hatte, richtete sich auf. „Genossen, das ist mir alles nicht neu“, fistelte er, „aber gegenwärtig sind mir die Hände gebunden. Chruschtschow ist entschieden gegen die völlige Abriegelung Westberlins. Er will einen Friedensvertrag. Die Rosinenbomber haben gezeigt, dass der Klassenfeind immer einen Weg findet, eine Blockade zu durchbrechen.“
„Aber Genosse!“ Erich Mielkes Gesicht lief rot an. „Es wird höchste Zeit, um Westberlin einen Schutzwall zu errichten, der eine wirksamen Kontrolle der Verkehrswege ermöglicht! Wie lange sollen wir noch tatenlos zusehen, wie diese kapitalistischen und imperialistischen Hunde ihre subversive –“
„Genosse, ja! Du hast ja recht! Glaubst du, mir raubt der Gedanke daran nicht manchmal den Schlaf? Aber wir dürfen den zweiten Schritt nicht vor dem ersten machen, ja?“ Ulbricht strich sich seinen berühmten Spitzbart. Ihn öffentlich 'Spitzbart' zu nennen wurde als Staatsverleumdung geahndet und mit Gefängnis bestraft, ebenso wie das Herumreichen eines apokryphen Tonbandes, auf dem ein Unterhaltungsparodist mit Ulbrichts Stimme den 'Osterspaziergang' von Goethe rezitierte.
„Ich treffe am dritten August mit dem äh... Genossen Chruschtschow in Warschau zusammen“, fuhr Ulbricht fort, „und werde mit ihm noch einmal das Problem Westberlin besprechen, insbesondere die dringende Notwendigkeit einer zuverlässigen Sicherung der Westgrenze, ja? Als friedenssichernde Maßnahme... Vielleicht lässt er sich ja jetzt umstimmen. Hmm... Kennedy hat ja einer teilweisen Abriegelung Westberlins schon zugestimmt, aber er besteht auf Transitkorridoren. Aber ich bin aus Kostengründen entschieden gegen die Errichtung einer Mauer, ja? Gerade vor einer Stunde sind die Kostenrechnungen aus dem Ministerium für Materialbeschaffung hereingekommen. Allein der Schutzwall um Westberlin soll äh... über vierhundert Millionen kosten.“ Ulbricht sah plötzlich bestürzt aus. „Vierhundert Millionen! Und dann die Folgekosten, ja? Unkalkulierbar! Diese Mauer soll dann ja mindestens Hundert Jahre stehen! Das geht vermutlich in die Milliarden. Ich fürchte, das wird unsere Volkswirtschaft auf die Dauer überfordern, ja?“
Mielke schüttelte energisch den Kopf. „Aber Walter –“
Ein Mitarbeiter des MfnV kam herein und überreichte Mielke einen Zettel. Der überflog ihn kurz und erbleichte. „Genossen, wir haben da ein Problem. Es gibt Anzeichen, dass ein Attentat auf den Genossen Vorsitzenden geplant ist. Worin es bestehen soll, ist noch unklar. Auch konnte die ausländische Macht, die dahinter steckt, noch nicht identifiziert werden. Ich schlage vor, wir beenden die Sitzung. Ich werde sofort den Nationalen Verteidigungsrat einberufen.“ Mielke schnaufte etwas, denn er war ziemlich kurzatmig.
„Und nun zu dir, Walter!“, sagte er, als die anderen den Raum verlassen hatten.

8
Am selben Abend.
Kevin und Sören saßen bei Bier und Bouletten mit Kartoffelsalat in der Eckkneipe „Zum alten Stralauer“. Kevin sah ziemlich abgespannt aus, und Sören klagte über Kopfschmerzen.
Erna kam hinzu uns setzte sich.
„Na, ihr zwei beiden, wie war der Ausflug?“, fragte sie.
„Anstrengend“, meinte Sören, „ich hab ja nicht geahnt, dass man in dieser Stadt soviel laufen muss.“
Erna lachte herzhaft. „Laufen hält gesund! Sogar –“ sie blickte sich um, beugte sich vor und flüsterte – „sogar der olle Spitzbart looft zweemal die Woche die acht Kilometer um´n Liepnitzsee herum, und det in sein´n Alter. Ja, sportlich issa, der Walter!“
Kevin wurde hellhörig. „Ist das für euren Walter nicht ziemlich gefährlich?“, flüsterte er, „ich könnte mir vorstellen, dass es nicht nur hier einige gibt, die ihm gerne die Kehle durchschneiden würden.“
„Gefährlich? Nee! Da läuft doch das halbe MfS mit!“
„Wer ist denn Spitzbart?“, platzte Sören harmlos, aber deutlich vernehmbar heraus. Sofort wurde es im Lokal still.
„Mensch, nich so laut“, zischte Erna, „hier haben die Wände Ohren!“ Sie stand auf. „Ick jeh mal, Traudel helfen. Soll ick noch wat bringen?“
„Ja. Könnte ich ein Aspirin und ein Glas Wasser haben? Mir dröhnt der Kopf.“
„Aspirin ham wa nich. Aber ich kann dir ne Gelonida bringen.“
„Egal, Hauptsache, es hilft.“
„Schade“, sagte Kevin mit halber Stimme, als Erna wieder weg war. Die Unterhaltung der anderen Gäste hatte sich wieder belebt, sodass er nicht mehr flüstern musste. „Unser Plan, ihn beim Frühsport zu erledigen, funktioniert also nicht. Wäre auch zu einfach gewesen. Bleibt immer noch Plan B. In Syrien haben wir noch ganz andere Sachen fertiggebracht. Bei –“
Er unterbrach sich. Erna brachte das Glas Wasser und die Gelonida.
Der Rest der Mahlzeit verlief stumm.
Sören schob seinen Teller beiseite, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und hielt sich die Hand vor die Augen. „Manchmal denk´ ich, das klappt nie“, stöhnte er. „Ich hatte mir das alles viel einfacher vorgestellt. Ich dachte, hier geht es so zu wie 1962 im beschaulichen Bonn. Alles eng beieinander, alles überschaubar, alles relativ locker. Adenauer fährt vor, steigt aus, isst in der Weinstube Maternus zu Mittag und fährt wieder ins Bundeskanzleramt zurück. Kaum Sicherheitspersonal. Die Leute stehen am Straßenrand und applaudieren. So sah´s in dem Dokumentarfilm aus. Hat Url sich wirklich eingebildet, er könnte Bonn mit Ostberlin vergleichen und Adenauer mit Ulbricht? Allein die Größenverhältnisse! Bonn und Bad Godesberg sind so weit voneinander entfernt wie hier zwei U-Bahnstationen. Putzig! Hier läufst und fährst du dich doch tot! Und: Hast du hier schon mal einen lebenden Politiker gesehen? Die Staatskarossen mit den dunklen Scheiben fahren an dir vorbei und verschwinden irgendwo im Nirwana. Und eh du da bist, ist der Herr Vorsitzende schon wieder weg.“
„Du bist eben der geborene Provinzler!“
„Ha – ha!“
„War nicht so gemeint. Ich geb´ dir ja Recht. Beim nächsten Einsatz muss vorher erheblich gründlicher recherchiert werden. Da sind Fehler gemacht worden, aber wir schaffen das!“
„Pah! Da sind Fehler gemacht worden, da sind Fehler gemacht worden!“ brauste Sören auf. „Entschuldige, aber ich kann dieses seichte Geschwätz nicht mehr hören. Du redest ja schon wie die Bundeskanz – “
„Vorsicht! Erna von rechts hinten!“
„Na ihr beiden Hübschen“, flötete Erna und setzte sich, „worüber unterhaltet ihr euch denn so angeregt?“
„Mensch Erna, du kannst ja Hochdeutsch! Cool!“
„Wenn ick will, schon! Aber meestens willick nich.“
„Und warum nicht!“
„Macht keen Spaß.“
„Sag mal, könnte ich einen Kaffee haben?“, fragte Sören, „bei eurem Gequatsche schlafe ich noch ein.“
„Aber immer doch! Traudel! Einen Kaffee für den Herrn! Is dein Kopp nu besser?“
„Ich glaub, ja.“
„Gloobstes nur oda issa wirklich?“
„Er ist wirklich.“
„Fein! Dann kann ick ja zur nächsten Frage übajehn: Soll´n wa heut abend nich wat untanehm? Ab achte bin ick frei! Ick sprech dann auch hochdeutsch!“
Kevin lachte. „Da kann man ja kaum noch nein sagen! Gibt´s denn hier überhaupt etwas, wo man sich amüsieren kann?“
„Hier natürlich nicht, aber im Interhotel am Alex, wo sich die Westler die Klinke in die Hand jeben. Kostet natürlich ein bisschen, aber ihr habt doch, oda? Ich meine Westpiepen.“
„Und was gibt es da?“
„Na Schwoof mit Westmucke! Ick sare euch! Da tanzt der Bär!“
„Und da kommt jeder rein?“
„Wenn der jemand D-Mark hat schon.“
„Was würde denn der Spaß für uns drei so etwa kosten?“
„Na sagen wir... so etwa zweihundert.“
Traudel stellte den Kaffee auf den Tisch. Sie blickte Erna giftig an und sagte: „Na, amüsierste dir jut?“
Sören trank einen Schluck und spuckte aus. „Pfui Deibel!“ rief er, „das soll Kaffee sein?“
„Mensch Sören, halt doch mal dein Maul!“, schimpfte Kevin „deine saudummen Bemerkungen verderben noch alles!“
„Wie meenste denn dette nu wieder?“, fragte Erna.
„Ach, nur so. Wenn man irgendwo zu Gast ist, meckert man nicht über den Kaffee.“
„Da sagste was! Also, solln wa nun oder solln wa nich?“
„Ohne mich“, sagte Sören. „Ich hau mich aufs Ohr.“
„Und du, Kevin?“
„Ich weiß nicht... Der Tag war anstrengend, und ich –“
„Na dann eben nich, lieba Lesa. Wollta noch n Bier?“

Erna verdrückte sich schmollend. Als sie außer Sichtweite war, nahm ihr Gesicht einen hinterhältigen Ausdruck an. Sie nahm den Hörer vom Telefon auf dem Tresen und wählte. „Herr Oberleutnant, ich habe eine Meldung zu machen“, sagte sie hinter vorgehaltener Hand.

9
Am selben Abend, kurz vor Mitternacht, Ministerium für Staatssicherheit.
Im alten Stadthaus in der Klosterstraße 47, einem monströsen Bau mit Turm und imitierten Steinquadern, saß Erich Mielke, der Chef des Ministeriums, an dem ovalen Tisch seines Büros und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, sodass sogar das kümmerliche Alpenveilchen vor ihm zitterte. Ab und zu sprang er auf, lief ein paar Schritte und setzte sich wieder. Endlich ging die Tür auf, und die Herren traten ein.
„Es tut mir Leid, aber es geht nicht anders“, sagte er mit einer einladenden Handbewegung, „Genossen, setzt euch doch!“
„Geht es wieder um diese anonyme feindliche Bedrohung?“, fragte Karl Maron, der für die innere Sicherheit zuständige Minister.
„Ja. Sonst hätte ich euch doch nicht hergebeten“, erwiderte Mielke. „Und: So anonym ist sie mittlerweile nicht mehr. Mir liegt eine Reihe interessanter Nachrichten vor. Einige davon sind ziemlich merkwürdig. Um halb elf erhielt einer meiner Mitarbeiter einen Anruf von der Inhaberin des Lokals Alter Stralauer in Friedrichshain, in dem sie mitteilte, dass an einem ihrer Tische zwei verdächtige Männer beim Bier säßen. Laut Personenbeschreibung handelt es sich die beiden Personen, die sich heute Vormittag in der Nähe der Waldsiedlung aufhielten und auffallendes Interesse für die Badestelle am See zeigten. Eine Verwechselung ist kaum möglich, denn der eine hat sich einen kleinen Metallring durch die Oberlippe ziehen lassen.“
„Das ist zwar sehr seltsam, aber gerade deshalb, denke ich, bist du mit den beiden auf dem Holzweg, Erich“, sagte Maron. „Denn wenn die beiden tatsächlich subversive Kräfte aus dem Westen wären, würde sich doch einer von den beiden nicht so auffällig kennzeichnen.“
„Nicht so voreilig, Karl!“ Mielke rutschte energiegeladen auf dem Sitz mit dem knallblauen Bezug herum. „Ein halbe Stunde später gab ein Bürger zu Protokoll, er habe im Alten Stralauer in der in der Nähe des Verdächtigen mit dem Ring gesessen und deutlich die Worte Spitzbart, Adenauer und Bonn vernommen sowie in einem nicht näher bezeichneten Zusammenhang das Wort Tod.“
„Hmm... Das klingt allerdings nicht gut.“
„Ja. Damit dürfte klar sein, dass es Agenten des Adenauerstaates sind und möglicherweise unseren Genossen Walter im Visier haben.“
Ein kleiner Herr, der bisher noch nicht zu Wort gekommen war, räusperte sich. Er war Chef der Geheimpolizei und so geheim, dass sein Name unter keinen Umständen genannt werden durfte, noch nicht einmal in Mielkes Büro. Denn es konnte trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht ausgeschlossen werden, dass sich irgendwo hinter der hölzernen Wandvertäfelung doch die eine oder andere Wanze verbarg.
„Genosse?“ Mielke blicke ihn auffordernd an.
„Vielleicht noch zwei kleine Beobachtungen“, sagte der Genosse mit leiser Stimme, „ein Leutnant des Wachregiments hat gesehen, wie die beiden als Blaubeersammler getarnten Personen die vollen Körbe einer zufällig vorbeikommenden Dorfbewohnerin schenkten. Also hatten sie alles andere als Blaubeersammeln im Kopf. Dann – und das ist mir noch nie vorgekommen – der Genosse Leiter der Hundestaffel gab zu Protokoll, als er die Hunde zur Abschreckung in den äußeren Sicherheitsring hinein lassen wollte, verweigerten sie den Dienst. Sie winselten, drehten sich im Kreise und wirkten verwirrt. Ich kann mir das nicht erklären. Bisher haben sie noch jeden Pilzsammler auf hundert Meter Entfernung verbellt.“
„Hast du schon etwas über ihre Herkunft herausbekommen, Erich?“, fragte Maron.
„Das ist auch so ein Punkt, der mir immer mehr Kopfzerbrechen bereitet. Aus der BRD kommen sie anscheinend nicht, auch nicht aus Westberlin. Meine Dienste berichten übereinstimmend, dass ein Agent mit einem Lippenring dort bisher nicht in Erscheinung getreten ist. Und andere deutschsprachige Länder scheiden meines Erachtens aus. Gut, nicht bei Spionage und anderen Wühltätigkeiten, aber einen politischen Mord in Auftrag zu zu geben – das trau ich weder den Österreichern noch den Schweizern zu. Nein, die verhalten sich neutral. Außerdem haben sie keinen Grund, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Andrerseits – ihrem Zungenschlag nach könnten die beiden aus dem Rhein-Main-Gebiet stammen.“
„Aber verdammt nochmal, irgendwer muss sie doch beauftragt haben!“ rief Maron.
„Sicherlich, irgendwer schon! Aber manchmal denke ich, keiner von diesem Planeten.“
„Du meinst einer vom Mond? Quatsch! Genosse Gagarin hat auf dem Mond keinerlei Spuren von Lebewesen entdecken können!“
„Weiß ich, weiß ich! Ich meine auch nicht wirklich vom Mond, Genosse. Ich meine eher hinterm Mond. Ich meinte es auch nur im übertragenen Sinne. Denn ihre Ausdrucksweise ist doch ziemlich eigenartig und passt zu keiner mir bekannten deutschsprachigen Region.“
„Inwiefern?“
„Wüsstest du auf Anhieb, was kuhl bedeutet? Weißt du, was der Ausdruck Fritten bedeutet? Ich auch nicht. Einer unserer Übersetzer hat´s mir gesagt. Cool kommt aus dem Englischen und bedeutet kühl. Aber was damit gemeint war, konnte er auch nicht sagen. Schließlich haben wir Hochsommer! Und Fritten kommt von pommes frittes, einer speziellen Kartoffelzubereitung in Frankreich. Dann redete der eine die sechzehnjährige Kellnerin am Liebnitzsee mit Frau an. Und so weiter, und so fort. Dann wussten sie nicht, was Schrippe und Mostrich ist. Seltsam, sehr seltsam.“
„Na ja“, bemerkte der Chef der Geheimpolizei, „die Bezeichnung Schrippe habe ich auch erst hier in Berlin gelernt. Genosse, du wolltest vom Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates berichten.“
„Danke für den Hinweis. Ja.“ Mielke strahlte. „Der Nationale Verteidigungsrat hat mir weitestgehende Befugnisse zum Schutze unseres allseits geschätzten Vorsitzenden und Freundes Walter Ulbricht erteilt, und ich gedenke sie auch auszuschöpfen. Zu allererst –“
„Entschuldige, dass ich dich unterbreche“, unterbrach ihn Maron, „eh ich´s vergesse, wie hat eigentlich Walter auf die sich abzeichnende Bedrohung reagiert?“
„Er war für eine Minute sprachlos, dann sagte er: 'Die Mauer wird gebaut!'“

10
Zwei Tage später.
Die beiden Friedensagenten der europäischen Union saßen beim Frühstück. Vor ihnen, auf dem Tisch, das „Neues Deutschland“. Erna hatte die Zeitung vor ein paar Minuten unaufgefordert hingelegt. Zunächst beachtete sie keiner von den beiden, doch plötzlich sagte Sören: „Ach nee... Da, lies mal!“ Er deuteten auf einen dicken Balken in der Mitte der Seite, der nicht zu übersehen war.

Bekanntmachung
Morgen, Freitag, um zehn Uhr, beginnt die turnusgemäße 2. Sitzung der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik im Langenbeck-Virchow-Haus, Louisenstr. 58. Redner werden u. a. sein Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrates der DDR und Erster Sekretär des ZK der SED, sowie der Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik Otto Grotewohl. Nach §6 der Geschäftsordnung ist die Sitzung öffentlich. Bürger, die Vorschläge zum weiteren Ausbau der Sozialistischen Staatengemeinschaft machen wollen, werden aufgefordert, diese in der anschließenden Anhörung vorzubringen. Einlass ist ab 9 Uhr dreißig.

Sören blickte sich um. Der 'Alte Stralauer' war noch geschlossen, die Luft also rein. „Das wäre doch die Gelegenheit“, flüsterte er, „so nah kommen wir nie mehr an ihn heran!“
„Du meinst, während der Anhörung?“
„Nein. Dann sitzen wir in der Falle. Du vergisst, wir müssen einen Zug erreichen, sonst klappt die Rückholung nicht. Ich denke, am besten, wenn er aus dem Auto steigt, dann ist der Überraschungseffekt am größten. Wir sind zwei harmlose Bürger in der Menge der Wartenden. Sollten sie doch aus irgendeinem Grunde, den ich mir aber beim besten Willen nicht vorstellen kann, Verdacht geschöpft haben, dann werden sie nach einem Mann mit Lippenring Ausschau halten. Und dann können sie lange suchen. Im geeigneten Moment springe ich vor und schneide ihm blitzschnell die Halsschlagader durch.“
„Und was mache ich?“
„Nach der Tat rennen wir beide sofort in Richtung S-Bahn los, und zwar auf verschiedenen Wegen. Auf diese Weise teilen wir die Zahl potentieller Verfolger. Aber ich gehe mal davon aus, dass wir uns nach kurzer Zeit unter die Leute mischen können und, ein lustig Lied auf den Lippen, ganz in Ruhe in die S-Bahn einsteigen können.“
„Klingt, wie du das so sagst, eigentlich ganz einfach. Aber meistens liegt der Teufel im Detail.“
„Der Teufel liegt nicht im Detail, sondern in seinem Blute. Jetzt geht es erst einmal darum, das Gelände zu erkunden.“
Erna kam, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen. „Sag mal, Erna“, fragte Kevin, „hast du zufällig einen Stadtplan?“
„Stadtplan? Nee, brauch ick ooch nich. Da wo ick hin will find ick ooch so. Im S-Bahnfof am Alex hängt eena.“ Ihr Sympathie für die beiden 'Hübschen' war merklich abgekühlt, ebenso ihre Freude am Hochdeutschen.

11
Die Menschenmenge, die sich vor dem Langenbeck-Virchow-Haus versammelt hatte, war durchaus überschaubar. Da die Volkskammer, von den Berlinern 'Walters Quasselbude' genannt, praktisch von den Genossen der SED dominiert wurde, traute ihr kaum noch jemand die Kraft zu Veränderungen zu. Dementsprechend gering war das Interesse an den Sitzungen, die viermal im Jahr stattfanden. Mehr Aufmerksamkeit erregten die riesigen Staatskarossen sowjetischer Bauart, mit denen die 'Genossen' vorfuhren, und die man mit offenen Mündern anstarrte. Zum Beispiel die gaz 13 tschaika, die 'Möwe', aus der Ulbricht in wenigen Minuten aussteigen würde.
Allerdings wunderten sich nicht wenige der Besucher und Schaulustige über einige Herren in Zivil, die herumgingen und ihnen auf den Mund schauten. Natürlich ließ sich kaum jemand täuschen: Es waren Mitglieder der Geheimpolizei. Dass man ihnen aufs Maul schaute waren die Leute gewohnt, aber nicht in dieser direkten Art und Weise. Auch hatten einige die Hundestaffel des Wachbataillons 'Feliks Dzierzynski' in einem Armeefahrzeug entdeckt, das etwas abseits stand.
Den meisten war klar: Es lag etwas im Busch.
Ulbrichts Limousine, begleitet von vier motorisierten Sicherheitskräften, fuhr zwei Minuten vor zehn Uhr vor. Die Tür öffnete sich, Ulbricht stieg aus. In diesem Moment stürzte ein Mann herbei, ein Messer blitzte auf, Ulbricht sank aufstöhnend zu Boden. Die Verblüffung war so stark, dass die Gruppe der Umstehenden erst in Bewegung kam, als der Attentäter bereits auf der anderen Straßenseite war und in dem unübersichtlichen Gebäudegewirr der Charite´ verschwand.
Sofort nahm ein Dutzend Sicherheitsleute die Verfolgung auf, und die Hundestaffel wurde freigesetzt. Aber wie schon bei der Waldsiedlung waren die Hunde auch diesmal nicht in der Lage, eine Spur aufzunehmen, obwohl man sie noch kurz vorher die Handtücher beschnüffeln ließ, welche die Verdächtigen im 'Alten Stralauer' benutzt hatten. Sie winselten, jaulten, drehten sich im Kreis, es schien, als hätten sie vor etwas Angst.
Auch die Verfolger kamen nach einiger Zeit ergebnislos zurück.
Sofort befahl der Chef des Wachbataillons, alle S- und U-Bahnhöfe in der Nähe zu besetzten und schickte Straßenpatrouillen los. Man ging immer noch davon aus, dass der eine der beiden Gesuchten einen Lippenring trug, und dass man ihn daran erkennen könne.
Dummer- oder besser glücklicherweise lag der nächste S-Bahnhof, der Lehrter Stadtbahnhof, bereits auf westberliner Gebiet. Obwohl zwischen den Sektoren der Stadt immer noch freier Personenverkehr herrschte, war davon auszugehen, dass ein zu weites Vordringen von DDR-Organen auf westberliner Territorium beobachtet würde und in der jetzigen angespannten Lage den Unmut der Alliierten nach sich ziehen könnte. Deshalb ließ sich Karl Maron, als ihm gemeldet wurde, die Attentäter und die Begleitperson seien wahrscheinlich nach Westberlin entkommen, unverzüglich mit dem Vertreter der sowjetischen Kontrollkommission in Berlin, Andrej J. Solowjow verbinden und bat um Amtshilfe. Dieser rief bei seinem britischen Kollegen, Sir Rohan Delacombe, an und schilderte ihm den Fall. Nun war das Verhältnis zwischen den Stadtkommandanten untereinander noch nicht so verfahren wie schon wenige Wochen später nach dem Mauerbau. Und eine Messerattacke auf einen Politiker, gleich welcher Couleur, konnte auf keinen Fall hingenommen werden. Sir Rohan, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, versprach, die westberliner Polizei bei der Verfolgung der Flüchtigen einzubinden und ließ sich eine Personenbeschreibung geben.
Es war jetzt kurz vor elf.

Der stark blutende Verletzte war nach dem Angriff unverzüglich in die Charité gebracht worden, deren Gelände, wie schon gesagt, auf der anderen Straßenseite begann. Insofern hatte er Glück im Unglück. Um elf Uhr zog die Hundestaffel ab, kurz darauf fuhr auch die 'Möwe' davon. Die noch verbliebenen Gaffer wurden von Volkspolizisten vertrieben.

12
Die beiden Friedensagenten hatten inzwischen ihr Erscheinungsbild etwas verändert. Jacketts, Krawatten und die Tatwaffe waren in verschiedene Mülleimer gewandert, und Kevins ehemals dichter Haarschopf war erheblich ausgelichtet. Zusammen mit Sörens fehlendem Lippenring bestand die Hoffnung, dass sie jetzt so leicht nicht mehr wiedererkannt wurden. Nun waren sie zwei junge Männer in luftigen Blusen und mit fröhlichen Gesichtern, die einen Stadtbummel machten oder aus der Charité kamen. Letzteres wirkte sogar ziemlich glaubhaft, denn Kevin hinkte leicht – er hatte sich beim Sprung über eine Mauer den Fuß verstaucht.
Was sie allerdings nicht ahnten: Die Geheimpolizei hatte sie schon vor zwei Tagen, nach dem Tipp von Erna, heimlich fotografiert und Kopien der gestochen scharfen Fotos an die Sicherheitsorgane verteilt.
Da der Lehrter Stadtbahnhof wegen eines dazwischenliegenden Kanals vom Gelände der Charite´ aus nicht direkt erreichbar war, mussten sie einen Umweg über das Capellenufer machen. Dies nun war eine kitzlige Angelegenheit, denn der weite Spreebogen konnte von allen Seiten gut eingesehen werden. Doch der primitive Trick des veränderten Aussehens schien sich zu bewähren. Unbehelligt erreichten sie den Eingang um Bahnhof, an dem westberliner Polizei stand. Jetzt galt es, die Nerven zu bewahren. Sie waren schon vor der Treppe zu den Bahnsteigen, da erklang hinter ihnen der Ruf: „Das sind sie!“
Drei Stufen auf einmal nehmend, hasteten die Flüchtenden Treppe hoch. Oben fuhr gerade eine Bahn ab. Es gelang Kevin noch, eine Tür zu öffnen, und sie schlüpften hinein. Nach Atem ringend ließen sie sich auf eine der hölzernen Sitzbänke fallen.

13
Vom Lehrter Stadtbahnhof bis zum Bahnhof am Zoo benötigte die S-Bahn etwa zehn Minuten. Die Zeit hätte ausgereicht, um die gesamte Polizei des Bezirks Charlottenburg in Richtung Bahnhof in Bewegung zu setzen. Doch sonderbarerweise waren, als sie den Zug verließen, weder auf dem Bahnsteig noch in der Halle unten Polizisten zu sehen. Noch nicht einmal die Bahnpolizei ließ sich blicken. Auch waren nur wenige Leute unterwegs.
Sören grinste zufrieden. „Es beginnt schon. Vorhin habe ich die Rückführung eingeleitet. Ich schätze, wir haben bereits vier Wochen übersprungen. Jetzt brauchen wir nur noch ein passendes Abteil.“
Auch auf dem Bahnsteig der Deutschen Reichsbahn herrschte gähnende Leere. Kaum ein Reisender war zu sehen.
Kevin war stehen geblieben, um sich den verstauchten Fuß zu massieren. Auf einmal richtete er sich auf und blickte Sören entgeistert an. „Da stimmt was nicht“, sagte er, „ich glaub bald, ich hab den Falschen erwischt.“
„Wieso?“
„Ja fällt dir nichts auf? Als wir ankamen, war der Bahnsteig gerammelt voll, und jetzt diese gähnende Leere. Noch nicht mal die beiden Kameraden von der Bahnpolizei lassen sich blicken.“
„Du meinst doch nicht etwa –“
„Doch das meine ich. Die Mauer! Sie steht! Ulbricht hat die Mauer gebaut.“
„Ja aber...“ Sören schnappte nach Luft. „Wen hast du dann erstochen?“
„Was weiß ich! Vielleicht seinen Doppelgänger!“
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Sören sprang wie von der Tarantel gestochen herum. „Dann hätten wir uns die ganze Aufregung ersparen können!“, schrie er.
„Schrei nicht so! Mir dröhnt auch so schon der Kopf!“
Ein Zug fuhr unter dampfendem Zischen ein.
„Ich muss mich unbedingt hinsetzen“, sagte Sören, „sonst fall´ ich gleich um. Diese Rückholung schlägt mir aufs Gemüt. Daran muss Url noch arbeiten.“
„Du hast Recht! Daran muss er noch gewaltig arbeiten! Ich werde langsam saumüde. Außerdem kann ich nicht mehr klar sehen. Komm, steigen wir ein und machen wir unsern Rückholschlaf.“
Sie stiegen ein und kuschelten sich in die plüschweichen Sitze des Sonderzuges nach Warschau, Hauptbahnhof. Kurze Zeit später schnarchten beide friedlich vor sich hin, erschöpft von den Anstrengungen der letzten Tage und den nervlichen Belastungen der Rückführung.

Das Einlagern von Westzigaretten, Westspirituosen und allerlei anderen im 'Osten' hochbegehrten Westartikeln war endlich beendet. Die Lokomotive stieß einen kurzen Pfiff aus und setzte sich keuchend, zischend und schwarze Qualmwolken ausstoßend, in Bewegung. Nach etwa zehn Minuten waren die beiden wieder da, wo sie sich vor einer halben Stunde in die S-Bahn gezwängt hatten, und wenige Minuten später fuhr der Zug durch den Hauptbahnhof der Hauptstadt der Deutschen Dementsprechend Republik. Ein vorbeikommender polnischer Schaffner stutzte einen Moment, dann ging er weiter. Er hielt die beiden Männer für übermüdetes Begleitpersonal der anwesenden Politiker des Ostblocks. Sie hatten, um eine weitere Zuspitzung der Lage zu verhindern, in Schloss Cäcilienhof mit den Vertretern der Westmächte über die veränderte Situation in Deutschland nach dem Mauerbau beraten.
Der polnische Zugbegleiter war möglicherweise der letzte Mensch, der die beiden Friedensagenten der Europäischen Union gesehen hat. Von da ab verliert sich ihre Spur. Im Rhein-Main-Gebiet jedenfalls wurden sie nicht mehr gesehen.

14

„Neues Deutschland“, Sonnabend, den...

Richtigstellung

Die in den Hetzmedien Westberlins und der BRD verbreitete Meldung, der Genosse Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrates der DDR und Erster Sekretär des ZK der SED, sei einem Attentat zum Opfer gefallen, ist falsch. Wieder einmal zeigt es sich, dass die Revanchisten und Imperialisten mit ihrer ununterbrochenem Wühlarbeit die Fundamente des sozialistischen Lagers unterminieren wollen. Dabei werden sie jedoch grandios scheitern. Der Genosse Vorsitzender ist unverletzt und erfreut sich bester Gesundheit. Dank der hervorragenden Arbeit unserer Sicherheitskräfte konnte der Anschlag rechtzeitig erkannt und vereitelt werden. Die verletzte Person ist ein Bürger unserer Republik, der sich freiwillig als Doppelgänger des Genossen Walter Ulbricht zur Verfügung gestellt hat. Er ist bereits wieder auf dem Wege der Genesung. Als dank für seinen Einsatz zum Wohle unseres Arbeiter- und Bauernstaates wird ihm die Silberne Ehrennadel für patriotische Leistungen verliehen. Die Redaktion der 'Neuen Deutschlands' wünscht ihm weiterhin gute Besserung.

Url und sein Team warteten noch vierzehn Tage, dann wurde der Chronomat III abgeschaltet. Nur aufgrund des beherzten Protests eines Mitarbeiters entging die Maschine der Verschrottung. Sie steht jetzt im überdachten Lichthof des Instituts auf einem Granitsockel. Ein Messingschild belehrt diejenigen, die sich überhaupt noch die Mühe machen, hinzuschauen:

Die überflüssigste Erfindung der Welt.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Hallo rotkehlchen!

Der Text ist viel zu lang für eine sinnvolle Detailarbeit. Zum Glück ist auf dieser Ebene (also bei Fehlern, einzelnen Formulierungen und Fakten) auch nicht viel zu tun.

Aber: Der ganze Anfang (Teile 1 bis 3) wirkt eigentlich nur wie ein sehr langes Herauszögern der Geschichte. Die allerallerallermeisten Infos darin sind für die Haupt-Story völlig unwichtig.

Was mich störte, ist die inkonsequente Erzählerhaltung. Die ersten Teile sind "Berichte", also jemand fasst zusammen, was passiert ist. Die Hauptstory besteht aus weitestgehend szenischer Abbildung des Geschehens, allerdings wird mittendrin der Leser quasi direkt angesprochen.
Da ich die ersten Teile sowieso für überflüssig halte bzw. durch nur ein Kapitel mit der unmittelbaren Abreise (oder eventuell noch Vorbereitung der Reise) ersetzen würde, wäre das mit Bericht vs. Szene schon mal lösbar. Und die Erwähnung "Was der Leser wissen sollte" lässt sich auch einfach streichen.

Dass die Maschine am Schluss ausgestellt wird - okay. Aber als "überflüssigste Erfindung der Welt"? Wieso? Nur weil sie (scheinbar) nicht funktioniert hat? Da fehlt mir ein logisches Element, das ich glauben kann.

So viel zum Bereich reine Textarbeit.


In Sachen Inhalt und Idee:

Als oller Ossi fand ich die Idee nicht ganz uncharmant. Ob Nicht-Ossis mit der ausführlichen Schilderung der Umstände etwas anfangen können, weiß ich nicht.
Als SFler empfinde ich das Sujet nicht konsequent genug benutzt, mir fehlt da noch der Pfiff. Das muss nichts Neues sein (ein anderer Zeitreisender aus der Zukunft, der den Auftrag hat, den Quatsch, den Urls Leute verzapfen, zu korrigieren, zum Beispiel), aber irgendwas, was die Tragweite von Zeitreisen zumindest anreißt.

LG von jon
 

rotkehlchen

Mitglied
Antwort

Hallo Jon,

vielen Dank, dass du die Zeit gefunden hast, dich mit meiner Geschichte zu befassen. Natürlich war mir von vornherein klar, dass ich mit Ulbricht und seiner Mauer möglicherweise etwas aus der Zeit gefallen bin. Trotzdem habe ich sie eingestellt, in der Hoffnung, es könnte sich ja doch der eine oder andere dafür interssieren. Nun ist es geschehen, und ich freue mich darüber.

Meine Idee war folgende: Es wäre doch ganz reizvoll, mit der jüngeren deutschen Geschichte einen Schabernack zu treiben. Wie oft hört man nicht: Was wäre passiert, wenn nicht der und der...
Nun zeigt es sich, dass Geschichte von den Akteuren der Zeit gemacht wird und deshalb so und nicht anders abgelaufen ist und auch nicht von einem Alien nachträglich veändert werden kann.

Die Erzählung ist in einem fiktiven Bereich angesiedelt, und mE ist eine Fiktion um so wirkungsvoller, je mehr sie auf wissenschaftlichen Füßen steht. Deshalb die Erläuterungen.
Dass da gekürzt werden könnte, z. B. die Vorversuche, gebe ich gerne zu, auch, dass die Geschichte nach einer Fortsetzung verlangt. Ich wollte aber erst die Reaktion abwarten, ehe ich mich an die Arbeit mache.

Was die Länge betrifft, bin ich etwas verwirrt. Wenn dies schon zu lang ist, dann bleiben i. Gr. ja nur noch Kurzgeschichten übrig - oder habe ich da etwas missverstanden?
Schade wär´s, denn ich habe einige längere Erzählungen auf dem Laptop, von denen ich die eine oder andere gerne anbieten möchte. Vielleicht gibst du mir ja Bescheid.

Im Nachhinein finde ich übrigens, die Erzählung wäre unter dem Titel: 'Das Unternehmen Walter' in dem CF-Forum besser augehoben. Lässt sich das noch machen?

Viele Grüße und Danke
Dornröschen
 



 
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