Das Verschwinden der Irmgard K.

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Das Verschwinden der Irmgard K.


Sie zog den anthrazitfarbenen Wollmantel an, der schwer an ihr hing. Oder hing sie an ihm? Er war schon an die vierzig Jahre alt. Sie hatte sich letzten Winter vorgenommen, einen neuen zu kaufen, aber es genauso wenig wie in diesem Winter geschafft. Und mittlerweile, es war Ende Februar, sah man in den Schaufenstern nur noch Frühjahrskollektionen. Eine Mütze steckte sie in ihre Einkaufstasche: Sie würde sie später brauchen, jetzt noch nicht, denn ihre dichten weißen Haare bauschten sich wie eine Pelzkappe um den Kopf. In einer halben Stunde, wenn Frau Lehnert, ihre Friseurin, ihren Kopf-Pelz wieder zurechtgestutzt hätte.
Als sie ihre Wohnungstür abschloss, kamen ihr aus dem Aufzug die Nachbarn entgegen. Herr und Frau Grunert, sie Krankenschwester, er Handlungsreisender, womit er handelte, war ihr immer noch ein Rätsel, obgleich sie schon zehn Jahre auf demselben Stockwerk wie Grunerts wohnte. »Guten Morgen, Frau Grunert, guten Morgen, Herr Grunert.« Sie sagte es deutlich, nicht übermäßig freundlich, das war nicht ihre Art, Grunerts Art noch weniger, aber auch nicht unfreundlich, sie sagte es so, wie sie immer ihre Nachbarn grüßte. Doch die antworteten nicht, sagten nicht »Guten Morgen, Frau Kroner« oder wenigstens »Guten Morgen«. Sie gaben keinen Mucks von sich. Sahen durch Irmgard Kroner hindurch, als sei diese gar nicht vorhanden. Bevor Irmgard einfiel, »Grüßen Sie mich denn nicht mehr« zu fragen, war sie automatisch in den Aufzug gestiegen, hatte den Knopf »Erdgeschoss« gedrückt. Schlagfertig war sie noch nie gewesen. Andererseits. Vielleicht waren ihre Nachbarn schlecht gelaunt. Oder es war etwas Schlimmes passiert, das ihnen die Sprache verschlagen hatte. Warum sollte sie sich den Kopf darüber zerbrechen?
Unten im Erdgeschoss warteten einige Mitbewohner bereits vor der Aufzugstür. Herr und Frau Lüders, Frau Pohlsen. Natürlich grüßte Irmgard auch dieses Mal, aber auch dieses Mal wurde ihr Gruß von keinem der Wartenden erwidert. »Seit Neuestem öffnet sich die Aufzugstür, ohne dass jemand aussteigt«, hörte sie Herrn Lüders sagen. Herr Lüders, dessen massige Gestalt sie immer an einen Riesen-Pinguin erinnerte. Dann fingen er, seine Frau und Frau Pohlsen zu lachen an. Ein ärgerliches, genervtes Lachen. Sie beratschlagten, ob sie dieses Kuriosum dem Hausmeister, besser noch der Hausverwaltung melden sollten. Dass es in einem neu errichteten Hochhaus spukte, kam vielleicht in abgedrifteten Märchen vor, die von Möchte-Gern-Schriftstellern fabriziert wurden.
Irmgard wartete, bis die drei im Aufzug verschwunden waren, bevor sie es wagte, die Haustür zu öffnen. Auf dem Weg zu ihrem Auto, es stand auf dem zur Wohnanlage gehörenden Großraumparkplatz, rätselte sie über das merkwürdige Verhalten ihrer Mitbewohner. Warum, in aller Welt, taten die, als sei sie unsichtbar? Hatte sie sich irgendetwas zu Schulden kommen lassen, für das sie jetzt demonstrativ geschnitten wurde? Je mehr sie rätselte, desto ratloser wurde sie. Bis sie sich schließlich sagte, dass sie nicht von den Launen ihrer Nachbarn abhängig war.
Automatisch setzte sie sich ans Steuer. Fuhr aus der Ausfahrt auf die Hansa-Straße. Sie hielt gerade an der roten Ampel, als sie die vielen Blicke wahrnahm, die nicht auf sie, sondern auf das Lenkrad ihres Toyota Yaris gerichtet waren. Manche Fahrer gafften, zeigten mit dem Finger auf ihr Fahrzeug. Schüttelten den Kopf. Andere lachten oder hupten. Sie war froh, als die Ampel endlich grün zeigte und sie weiter fahren konnte.
An jeder Ampel, an der sie warten musste, passierte ungefähr dasselbe. Da sie nichts daran ändern konnte, entschied sie sich, es mit stoischer Miene zu ignorieren, bis sie ihr Auto in der Tiefgarage abstellen konnte. Von dort aus wären es nur noch wenige Gehminuten bis zum Friseursalon.
»Betti, jetzt fahren die Autos schon autonom in die Tiefgaragen. Und schließen sich auch noch autonom ab.« Ein junger Mann sagte es zu einer ebenso jungen Frau. Sie hatten ihren Wagen in unmittelbarer Nähe von Irmgards Toyota geparkt. Sie standen nur da. Gafften. Umkreisten Irmgards Auto, Irmgard musste ihnen immer wieder ausweichen, denn anscheinend war sie auch für diese unsichtbar. Glücklicherweise zog deren Gafferei nicht noch weitere Schaulustige an, was wohl daran lag, dass um diese Zeit, es war 9.30, schon die meisten an ihren Arbeitsplätzen waren.
Irmgard wartete, bis die beiden verschwunden waren. Dann flüchtete sie sich ins Wageninnere. Sie spürte eine leichte Übelkeit. Sie musste versuchen, ihre Gedanken zu ordnen. Es war einfach ungeheuerlich, was sie gerade erlebt hatte. Es widersprach allen Regeln der Logik, allen physikalischen Gesetzen. Dabei konnte sie sich selbst sehr wohl sehen. Ihre Hände, Arme, Beine. Auch ihr Gesicht, wenn sie in den Rückspiegel schaute. Alles an ihr war vollkommen unverändert.
Aber allem Anschein nach war sie für andere Menschen über Nacht nicht mehr sicht- und hörbar. So, als sei ihr Haar über Nacht mit einer unsichtbaren Tarnkappe verwachsen. Den Gang zu Frau Lehnert konnte sie vergessen. Wie sollte diese die unsichtbaren Haare einer unsichtbaren Kundin schneiden?
Dann fiel ihr ein, dass sie auch noch einkaufen wollte. Aber wie sollte sie das in ihrem neuen Zustand bewerkstelligen?
Sie war immer noch benommen, als sie aus der Tiefgarage fuhr. Wenn andere sie nicht sehen konnten, dann konnte sie zumindest versuchen, im nächstgelegenen Supermarkt die von ihr benötigten Waren, ohne Einkaufswagen natürlich, in ihre Einkaufstasche zu stecken und unbemerkt an der Kasse vorbei nach außen zu gehen. »Die Borgmännlein« fiel ihr ein, ein Märchen von Wichteln, die sich alles, was sie brauchten, bei den Menschen holten, das hieß borgten. In der Grundschule hatte sie die Geschichte gelesen und sich immer neue Episoden ausgedacht.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ebenso unbemerkt, wie sie Butter, Brot, Milch, Kaffee und Schokolade aus dem Supermarkt mitnahm, wieder in ihre Wohnung zurück- kehren konnte. Ohne durch Türen, die sich scheinbar durch unsichtbare Hand öffneten, Aufmerksamkeit zu erregen.
Wie heute Morgen bauschten sich ihre weißen Haare immer noch um den Kopf, aber das sollte jetzt ihre kleinste Sorge sein. Auf ihre äußere Erscheinung brauchte sie in der Öffentlichkeit nicht mehr zu achten, wusste sie doch, dass sie niemand mehr beachtete. Was ebenso wie das mühelose Entwenden fremden Eigentums etwas prickelnd Neues einschloss, bei dem sie nicht die geringsten Gewissensbisse hatte, im Gegenteil, sie verspürte so etwas wie Genugtuung vor dem Hintergrund der Vielzahl an Einschränkungen, die ihr eigentümlicher Zustand mit sich bringen würde.
Um sich abzulenken, auch um die bleierne Müdigkeit aus ihrem Kopf zu vertreiben, brühte sie frischen Kaffee auf. Aus der neuen Möwenpick-Kaffee-Packung. Während die Kaffeemaschine gurgelte und zischte, verstaute sie die anderen Lebensmittel in Kühlschrank und Speisekammer.
Sie hatte die dunkle, dampfende Flüssigkeit in eine ihrer geblümten Porzellantassen gegossen, als wolle sie wenigstens an Ritualen der Normalität festhalten. Da klingelte das Telefon. Irmgards erster Gedanke war nicht, wer sie wohl anrief, sondern ob der Anrufer oder die Anruferin sie überhaupt hören könnte, sobald sie sich meldete.
»Irmgard Kroner« – »Hallo, ich bin´s – Katja. Ist irgendetwas? Deine Stimme klingt so matt. Irgendwie erschöpft.« Irmgard zögerte. Erst einmal war sie nur erleichtert darüber, dass Katja sie am Telefon hören konnte. Somit gab es diese Verbindung zur Außenwelt für sie immer noch. Sollte sie Katja, der zehn Jahre jüngeren ehemaligen Kollegin und langjährigen Freundin, ihre aberwitzige Situation beschreiben? Irgendwann musste diese es doch erfahren. Besser, ihr gleich reinen Wein einschenken, auch wenn sie riskierte, dass ihr Katja kein Wort glaubte.
So war es denn auch. »Das gibt es doch gar nicht…das bildest du dir ein…du wärst der erste Mensch, der solch eine Metamorphose erlebt hätte…« waren Katjas immer wiederholten Kommentare. Bis Irmgard verzweifelt schrie. »Kannst du dir überhaupt vorstellen, in welcher Falle ich sitze? Das ist wie Hausarrest. Ein grotesker Hausarrest. –Wofür? Ich bin eingesperrt und ausgesperrt.«
Katja sagte, sie würde am Nachmittag kommen. Sie wollte Irmgard eh zu einer Kinovorstellung im Universum abholen. Es laufe, ja, es war schon zum Lachen, gerade »Die Unsichtbaren«. Irmgard wisse sicher, wovon der Film handle. Nein? Von Juden, die im Dritten Reich in Deutschland untertauchten, um der Deportation und damit ihrer Ermordung zu entgehen. Der Film beginne um 16 Uhr, sie würde gegen 14 Uhr zu Irmgards Wohnung kommen – in der Wohnung könne man sie doch noch sehen? Sie würde Kuchen mitbringen, dann könnten sie erst einmal bei Kaffee und Kuchen alles Weitere besprechen.
Katja umarmte die Freundin, wie man ein armes Hündchen knuddelt. »Aber ich seh doch, dass du leibhaftig vor mir stehst. Von Astralleib keine Spur.« Und später am Kaffeetisch konnte sie sich die Bemerkung nicht verkneifen, Irmgard solle doch psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Solch ein Fall käme gewiss sehr selten vor, aber ein guter Therapeut kenne bestimmt Mittel und Wege, ihr aus ihrem Dilemma zu helfen.
»Wo bist du denn mit einem Mal?« Katja, die eben noch mit Irmgard gemeinsam aus der Wohnungstür getreten war, wollte in den Aufzug steigen, als die Freundin spurlos verschwunden schien. Versteckte sie sich irgendwo? »Irmgard«, rief sie, »Irmgard, jetzt mach nicht solch einen kindischen Blödsinn, komm jetzt…!« Sollte wirklich etwas an der Mär des Unsichtbar-Werdens dran sein? »Ich warte jetzt nicht länger, komm jetzt«, rief sie noch, bevor sie mit dem Lift nach unten fuhr. Mit der automatischen Türentriegelung öffnete sie ihren Wagen, setzte sich auf den Fahrersitz. In dem Moment sah sie, wie sich von unsichtbarer Hand die Beifahrertür öffnete, wenig später wieder schloss. »Bist du hier, Irmgard? Mensch, mach´ doch nicht solche Faxen!« Statt eine Antwort zu hören, sah sie, wie sich das Handschuhfach öffnete. Und ein Zettel zum Vorschein kam, auf dem in großen Buchstaben »Ich bin hier. Irmgard« stand.
»Na, immerhin können wir noch schriftlich kommunizieren.« Katja musste sich beherrschen, um nicht zu brüllen, das sei ja tollhausreif.
Sie fuhr trotzdem los. In jenes Parkhaus, in das Irmgard schon am Morgen hinein und dann gleich wieder hinaus gefahren war. Mit Zetteln, die im geöffneten Handschuhfach erschienen, wurde sie instruiert, doch nur eine Kinokarte zu kaufen und sich in eine Reihe zu setzen, in der möglichst wenige Besucher saßen.
Sie folgte den Anweisungen. Sie versuchte während der Vorstellung mehrmals, die Sitze neben dem ihren abzutasten, konnte aber außer einem geringfügigen Widerstand auf der rechten Seite nichts spüren. Das Unfassbare der Filmhandlung ließ sie wenigstens für neunzig Minuten das Aberwitzige vergessen, das sie an Irmgard wahrnehmen musste. Oder nicht mehr wahrnehmen konnte.
Als sie vor dem Eingang des Wohntrakts Güldenstraße 5 b hielt, sah sie einen neuen Papierfetzen im geöffneten Handschuhfach. »Danke« stand darauf und »Komm doch bitte noch mit in meine Wohnung!« - Nein, das gehe nun leider nicht, so gerne sie mit käme, sagte Katja. Jetzt sei schon 17.50. In zehn Minuten käme Werner. Sie wollten dann gleich zu Abend essen und sich schon um 19 Uhr mit Freunden zum Bridge treffen. »Aber ich ruf dich morgen Mittag an, sobald ich von der Schule zurück bin.« Dann hörte sie nur die Beifahrertür ins Schloss fallen, sah auch noch, wie sich die Haustür öffnete und schloss, bevor sie aus dem Leerlauf in den ersten Gang schaltete und losfuhr.
Wollte selbst Katja jetzt nichts mehr mit ihr zu tun haben? War die Entschuldigung, sie müsse sogleich nach Hause fahren, nicht vorgeschoben, um sich nicht weiter mit ihrer, Irmgards, Kalamität auseinander setzen zu müssen? Ohne unangenehme Zwischenfälle war sie in ihre Wohnung gelangt. Hatte den Mantel auf einen Stuhl geworfen, sich aufs Bett fallen lassen.
Nur alle viere von sich strecken wie ein auf den Rücken gefallener Käfer. Zur Besinnung kommen. Immerhin hatte sie sich nicht wie Gregor Samsa in Kafkas »Verwandlung« in einen überdimensionalen Käfer verwandelt. Sie würde sich noch einmal Kaffee aufbrühen, ihr Lebenselixier, das sie zu jeder Tages- und Nachtzeit trinken konnte.
Ein wenig war sie mit ihrer eigentümlichen Verwandlung versöhnt, wenn sie daran dachte, dass sie nun kostenlos jede Menge Kinovorstellungen besuchen konnte, natürlich nicht gerade die Premieren, wenn die Säle bis auf den letzten Platz besetzt waren. Dass sie ohne Geldbeutel einkaufen konnte. Ein Restaurant oder Café zu besuchen, allein oder mit Freunden, war dagegen vollkommen ausgeschlossen, wenn sie nicht nur die anderen beim Essen beobachten wollte. Auch selbst ihr Auto zu steuern, sollte sie lieber in Zukunft unterlassen, wenn sie nicht riskieren wollte, dass es von der Polizei beschlagnahmt und wortwörtlich aus dem Verkehr gezogen würde. Sie würde mit öffentlichen Verkehrsmitteln vorlieb nehmen müssen, etwas, was sie wegen der Umständlichkeit und des Zeitaufwands schon immer gehasst hatte. Wenngleich sie von nun an mit Bussen, Straßenbahnen, Nah- und Fernzügen gewissermaßen als blinder Passagier fahren konnte, wohin sie wollte.
Am Abend rief noch Elke an. Auch eine Freundin, verheiratet, bereits zweifache Großmutter. 69 Jahre, also vier Jahre älter als Irmgard. Sie war vollkommen aufgelöst, als sie die Annullierung ihrer Existenz in der Außenwelt beschrieb. Immerhin habe sie Georg, den Guten, der ihr versprochen habe, Einkäufe etc. in der Zukunft zu übernehmen. Auch wenn er ihr bis jetzt ihre temporäre Nicht-Existenz nicht wirklich glaube. Das merke sie daran, wie er sie seit Neuestem von der Seite ansehe. So als könne sie jeden Augenblick überschnappen.
Irmgard versuchte, Elke zu beruhigen. Konnten Sie sich nicht immer noch gegenseitig in ihren Wohnungen besuchen? Selbst wenn Georg seine Mithilfe in Zukunft verweigere, brauche Elke nicht zu verhungern: Sie könne es machen wie sie, Irmgard, und sich gratis in Geschäften und Supermärkten bedienen. Sie verabredeten, dass Irmgard Elke in zwei Tagen besuchen würde. Schon am späten Vormittag gegen elf Uhr. Da wäre Georg zu Sohn, Schwiegertochter und Enkeln gefahren. Dann könnten sie ungestört reden.
An jenem Freitag, Georg hatte um zehn das Haus verlassen, fuhren beide nach einem üppigen Brunch gratis per Bus in die Stadt. Sie gingen zu »Rossgarten«, dem feinsten Modegeschäft in H. Sie nahmen die elegantesten Röcke und Hosen von den Kleiderstangen. Zogen ihre Kleidungsstücke ungeniert mitten im Geschäftsraum aus und die neuen an. Diejenigen, die am besten saßen und, wie sie fanden, ihnen am besten standen, behielten sie an. Steckten ihre eigene Kleidung in ihre Einkaufstaschen. Sie wollten gerade das Geschäft verlassen, als sie eine Verkäuferin zur anderen sagen hörten. »Weißt du, wo die beiden beigen Wollhosen hingekommen sind? Die aus Gabardine mit dem asymetrischen Schnitt? Die wurden doch gestern Morgen…« Mehr hörten sie nicht, denn sie machten sich eilig aus dem Staub, eine völlig überflüssige Vorsichtsmaßnahme, wie ihnen nach einer Minute einfiel.
Mehrmals wöchentlich trafen sie sich in ihren Privaträumen. Trotz Irmgards Befürchtung blieb der Kontakt zu Katja erhalten.
Irgendwann riefen Irmgards Nachbarn an. Fragten, ob sie krank sei. Man sehe sie ja überhaupt nicht mehr. Ihr Auto stehe immer auf ihrem Stellplatz.
Auf diese Frage war sie bereits vorbereitet, so dass sie eine einigermaßen plausible Erklärung auftischen konnte. Sie leide seit längerem an einer Krankheit, die mit plötzlichen Ohnmachten verbunden sei, weshalb sie natürlich nicht mehr Auto fahren könne. Selbst ihre Wohnung zu verlassen, sei für sie sehr riskant. Ob man ihr helfen könne, wollten die Nachbarn wissen. Wenn sie irgendetwas brauche, solle sie nur anrufen. Kramers aus der zweiten Etage, Frau Pohlsen, Grunerts, selbst Herr und Frau Lüders überboten sich an postulierten Hilfeleistungen. Grunerts fragten telefonisch an, ob sie ihnen nicht ihren Toyota Yaris verkaufen wolle. Er sähe doch noch gut aus, von außen wenigstens. Wie alt er denn sei? Irmgard hatte sich im Voraus für diesen Fall eine Antwort überlegt. Sie verhandle bereits mit ihrem Autohaus wegen des Verkaufs. Was wohl nicht zutraf, ihr aber – zunächst wenigstens – weitere Peinlichkeiten ersparte.
Ein Mitarbeiter jenes Autohauses kam dann wirklich in ihre Wohnung, nachdem sie ihn von ihrer geheimnisvollen Krankheit überzeugt hatte. Katja war auch anwesend, so dass sie den Herrn zur Inspektion des Autos begleiten konnte. Er hatte alle nötigen Unterlagen parat. Irmgard brauchte nur zu unterschreiben. Die Abmeldung bei der KFZ-Behörde, versicherte er, würde das Autohaus übernehmen, darüber müsse sie sich keine Gedanken machen. Die 3.900 €, die der Toyota noch wert sei, würden in den nächsten Tagen auf ihr Konto überwiesen.
In der Tat wurde nicht nur dieser Betrag drei Tage später ihrem Konto gut geschrieben, sondern auch Autoschlüssel und Auto abgeholt, ohne dass Irmgard einen Schritt vor die Wohnungstür setzen musste.
Die Medien schienen das Tarnkappen-Phänomen älterer Frauen nicht zur Kenntnis zu nehmen. In den »heute-Nachrichten« kam nur die Mitteilung, zwei Ministerinnen seien wegen schwerer Erkrankung zurückgetreten. Wegen der Schwere der Erkrankung müsse von einer öffentlichen Verabschiedung abgesehen werden. Was Irmgard und Elke stutzig machte, war die Tatsache, dass laut Internetrecherche die Frauen bereits die fünfundsechzig überschritten hatten.
Wenig später lasen sie im Lokalblatt H.s. unter der Rubrik »Verschiedenes«, dass die Zahl der Diebstähle in Warenhäusern und Supermärkten deutlich zugenommen habe, weshalb die Geschäftsleitungen gezwungen seien, verstärkt Sicherheitspersonal einzustellen. Auch die Zahl der Schwarzfahrer in Bussen und Straßenbahnen sei gestiegen. Auch hier wurden verstärkte Kontrollen angekündigt. Worüber sich Irmgard und Elke ein Lachen nicht verkneifen konnten.
Weniger zum Lachen fand Elke, dass ihr guter Georg immer öfter und für längere Zeit wegfuhr. Er wolle Sohn, Schwiegertochter und die Enkelkinder besuchen. Behauptete er. Aber Elke glaubte es ihm nicht. Richtig misstrauisch wurde sie, als sie Spuren von Lippenstift an seinem Hemdkragen entdeckte. Da sie aus denselben Gründen wie Irmgard ihr Auto schon vor einiger Zeit verkauft hatte, den Verkauf hatte noch Georg übernommen, hätte sie ein Detektivbüro beauftragen müssen, um auf Georgs Liebesschliche zu kommen. Und was wäre gewonnen, wenn die Detektive ihn in flagranti ertappten? In ihrem jetzigen Zustand könnte sie gerade noch über einen Anwalt die Scheidung einreichen, aber ihre sicht- und hörbare Anwesenheit bei einem Scheidungsprozess wäre ausgeschlossen.
Mit Irmgard beratschlagte sie, wie sie mit dieser für sie zusätzlich belastenden Situation umgehe solle, ohne sich noch mehr in die Nesseln zu setzen. Sie war gewiss nicht eifersüchtig nach so vielen Ehejahren, waren es 46 oder 47, aber sie war an Georg gewöhnt. Bis jetzt hatte sie ihm vertraut, von einigen Ehekrisen abgesehen, in denen sie ihn am liebsten verlassen hätte. Doch die lagen schon lange zurück.
»Bloß keine Szenen machen«, riet Irmgard und bot ihr Asyl in ihrer Wohnung an. Die sei wohl nur 70 qm groß, es gebe auch nur zwei Räume, aber Elke könne auf dem ausziehbaren Sofa im Wohnzimmer kampieren.
Elke zog es dann doch vor, in ihrem 240 qm großen Haus zu bleiben. Auch wenn der Anblick des treulosen Georg sie wütend machte. Wenigsten innerlich. Äußerlich wahrte sie die Contenance.
Irmgard und Elke wurden mit der Zeit immer übermütiger. Sobald es dunkel wurde, fuhren sie mit Bus oder Straßenbahn ins Stadtzentrum. Tanzten in der Fußgängerzone. Mal Foxtrott, dann mit einem imaginären Tanzpartner einen Tango. Wenn ihnen der Sinn danach stand, schnitten sie Grimassen, zogen eine Lippenhälfte nach oben, die andere nach unten. Oder umgekehrt. Stellten sich auf leere Parkbänke in der Grünanlage direkt vor dem Rathaus. Sangen laut und schrill, nicht melodiös wie der ehemalige Bundeskanzler Walter Scheel, »Hoch auf dem gelben Wagen«, aber auch »Raus mit den Männern aus dem Reichstag«. Da sie sich gegenseitig in der Öffentlichkeit ebenfalls weder sehen noch hören konnten, mussten sie sich in ihren Wohnungen erst in ihre physische Gestalt zurückverwandeln, bevor sie mit ihrem neuesten Aus-der-Rolle-Fallen prahlten.
»Weißt du, was mir das letzte Mal passiert ist, als ich bei der Postfiliale Berliner Platz Geld vom Automaten ziehen wollte?« Natürlich wusste Irmgard nichts von Elkes letztem Abenteuer, obgleich sie es bereits ahnte. »Ich bin extra an einem Sonntagvormittag gegen neun Uhr mit dem Bus zum Berliner Platz gefahren. Von dort aus sind es ja nur noch drei Gehminuten bis zur Post. Ich hab am Automaten schon meine Kontoauszüge geholt, ohne dass ein Mensch aufgetaucht ist. Aber als ich meine Geheimzahl eingebe, kommen gleich drei Personen durch die Tür. Stellen sich direkt hinter mich. Du kannst dir deren Gesichter vorstellen, als der Automat erst meine Karte wieder ausspuckt und dann noch einen Stapel Geldscheine. Die dann, Karte und Geldscheine, in Nullkommanichts spurlos verschwinden, weil ich sie natürlich gleich eingesteckt hab.
Alle drei haben durcheinander geschrien: »Das gibt’s doch nicht. Unglaublich! Jetzt spuckt der Geldautomat… Euroscheckkarten…Karten, …einen Haufen Geld…niemand da….kein Mensch… unerhört…!« Ich stand nur daneben und konnte mich vor Lachen kaum halten. Schließlich kamen sie auf den Gedanken, bei der Beschwerdestelle der Post anzurufen. Da müsse ein technischer Defekt vorliegen. Der müsse umgehend behoben oder der Geldautomat außer Betrieb gesetzt werden. Ich hab mir dann auch noch den Anfang des Telefongesprächs angehört. Wie der Mann, der anrief, zornig wurde. »Ich sag Ihnen doch, es ist aber so«, hat er immer wieder gerufen. Weil man ihm am anderen Ende der Leitung kein Wort glaubte. Irgendwann ist es mir zu dumm geworden, und ich bin zurück zur Bushaltestelle gegangen.«
Elke holte einen Crémont de Loire aus dem Kühlschrank. Die Flasche war schon geöffnet, doch noch fast voll. Sie goss die perlende Flüssigkeit in zwei Sektgläser. »Auf das Leben als Tarnkappenträgerinnen«, prostete sie Irmgard zu, die nach einem Glas Sekt gesprächig wurde.
»Weißt du, wo ich die vorletzte Nacht verbracht habe?» »Doch wohl nicht auf einer Parkbank, dazu ist es Anfang Mai noch entschieden zu kalt«, scherzte Elke. »Nein, im Schloss-Museum.« »Ach, du grüne Neune! Hast du nicht die Öffnungszeiten beachtet?« »Richtig. Früher hab ich meine Zeit nur selten mit Museumsbesuchen verbracht. Aber es ist wie in eine andere Welt einzutauchen. Zum Beispiel im Schloss-Museum in die Barock-Zeit. Was konnte die happy few doch in Silber und Gold schwelgen. In Samt, Seide und Damast. Ich hab mir angewöhnt, mir zu den feudalen Räumlichkeiten auch ein paar Geschichten auszudenken. Und so muss es passiert sein. In meine Träumereien versunken, hab ich nicht bemerkt, dass ich eingeschlossen wurde. Da ich seit meiner Verwandlung draußen zumeist einen kleinen Rucksack mit Proviant auf dem Buckel trage, war das auch nur halb so schlimm. Ich hab mir dann das prachtvollste Himmelbett der Herzogin Amalie ausgesucht und mich darauf gelegt. Meinen Sommermantel hab ich zunächst als Decke benutzt. Später hab ich den Samtüberwurf eines anderen hochherrschaftlichen Betts geholt und mich damit ordentlich zugedeckt. Natürlich bin ich zu Hause erst mal unter die Dusche. Um den Museumsstaub abspülen.«
Hie und da ließen Elke und Irmgard auch Zeitschriften oder Zeitungen bei Rewe und in anderen Supermärkten mitgehen. »Die Zeit«, »Die Süddeutsche«, »Der Spiegel«, »Brigitte Woman«. In der letzten Ausgabe von »Brigitte Woman« war ein langer Artikel über die Altersarmut von Frauen abgedruckt. Speziell über die älterer alleinstehender Frauen. Schon beim Lesen gerieten Elke und Irmgard in Wut, mehr noch, als sie später über den Text diskutierten. Spontan beschlossen sie, im Schutz ihrer öffentlichen Unsichtbarkeit ihrer Wut freien Lauf zu lassen.
Zwei Tage später, in den aktuellen H-Nachrichten, lasen sie auf der Titelseite eine Glosse über die neuesten Schmierereien an den Wänden von Kaufhof und Hertie, von Porta und MÖMA. Es sei ja gewiss ungerecht, dass viele ältere Frauen nur Mini-Renten erhielten, aber müssten deshalb saubere Wände mit Parolen wie »Schluss mit der Altersarmut von Frauen! Aufstand der verratenen Mütter!« beschmiert werden? So jedenfalls ließe sich das Problem nicht aus der Welt schaffen. Die Polizei fahnde fieberhaft nach den Schmierfinken. Hinweise auf mögliche Täter oder Täterinnen nähme jede Polizeidienststelle entgegen. Später vertrat eine Leserin die Meinung, Frauen hätten lange, viel zu lange in Fragen der Lohnungleichheit Geduld bewiesen. Deshalb müssten auch drastische Methoden erlaubt sein, um die Öffentlichkeit endlich wach zu rütteln. Doch die Öffentlichkeit war nicht so einfach wachzurütteln und somit blieb alles beim Alten.

Natürlich dachten Irmgard und Elke an den Fall, dass sie ernsthaft erkrankten. Beide schoben den Gedanken so schnell, wie er gekommen war, beiseite. Bisher war doch alles leidlich gut gegangen. Hin und wieder hatten sie sich sogar köstlich amüsiert. Die Rezepte, die sie für ihre chronischen Erkrankungen benötigten, konnten sie telefonisch bei ihren Hausärzten bestellen. Auf telefonische Bestellungen wurden ihnen auch von ihren Apotheken Medikamente etc. gebracht. Nur die Sprechstundenhilfe von Irmgards und Elkes Gynäkologin hatte unbedingt einen Termin für die alljährlich fällige Untersuchung mit ihnen vereinbaren wollen. Beide hatten immer wieder neue Erkrankungen vorgeschoben, um den jeweiligen Termin noch rechtzeitig absagen zu können. Nach der Versicherung, sich zu melden, sobald es ihnen besser gehe, wurden sie nicht weiter behelligt.
Irmgards Nachbarn riefen nur noch äußerst selten an. Sie hatten sich anscheinend an den Gedanken gewöhnt, dass Irmgard Kroner kaum noch oder überhaupt nicht mehr – so genau konnte das niemand sagen – ihre Wohnung verließ. Aber, und das wurde ebenfalls von der Nachbarschaft registriert, sie bekam Besuch, wenigstens von einer Frau mittleren Alters. Und dann brachte regelmäßig eine Bofrost-Mitarbeiterin Lebensmittel, auch eine Friseurin mit einer Mini-Friseurausstattung auf einem zusammenklappbaren Rollwagen sah man alle drei- bis vier Wochen Irmgard Kroners Wohnung betreten. Seltsam war nur, dass Frau Wiegand aus dem dritten Stock, ebenfalls eine ältere Dame von fünfundsiebzig Jahren, anscheinend an derselben Krankheit wie Frau Kroner litt. Da sie nach dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren sehr zurückgezogen lebte, gewöhnten sich die Nachbarn rasch daran, sie überhaupt nicht mehr zu sehen.
Irmgard war das Unsichtbar-Werden Frau Wiegands nicht entgangen. Nicht, das sie diese sonderlich vermisste. Wenn man sich früher im Aufzug, vor oder hinter der Haustüre oder auf dem Großraumparkplatz begegnete, hatte man sich gegrüßt und ein paar belanglose Sätze gewechselt. Da Irmgard in jener eine Leidensgenossin vermutete, fasste sie sich ein Herz und rief sie an. »Kroner, ich bin eine Mitbewohnerin aus der fünften Etage«, sagte sie ganz en passant, als sich Frau Wiegand meldete. Dann spulte sie die Sätzchen ab, die die Nachbarn ihr gegenüber gebraucht hatten. Sie habe sich Sorgen gemacht. Man sehe sie ja kaum noch… Aber Frau Wiegand nannte natürlich auch nicht Ross und Reiter, sondern fabulierte etwas von mysteriöser Körperschwäche, verbunden mit Sehstörungen. Einen kurzen Augenblick war Irmgard nahe daran, etwas von ihrer eigenen Erkrankung zu erzählen, natürlich nicht von ihrem Unsichtbar- und Unhörbar-Werden in der Öffentlichkeit, sondern von ihrer vorgetäuschten Krankheit. Sie hätte sie auf eine Tasse Kaffee in ihre Wohnung einladen können. Vielleicht hätten sie sich dann…Aber da hörte sie schon Frau Wiegands Stimme, die sich für den Anruf bedankte und noch einen guten Tag wünschte.


Seit ihrer seltsamen Metamorphose waren mehr als zwei Monate vergangen. Es war Mitte Mai und Elke und Irmgard überlegten, wie sie Urlaub machen könnten. Georg gegenüber würde eine lapidare Erklärung genügen. Das Reisen im EC oder ICE wäre auch kein Problem. Aber wie sollten sie in einem Hotel übernachten? Sich ohne Buchung in ein Hotel zu stehlen, ungesehen und -gehört im Foyer am Schlüsselbord hinter dem Tresen zwei Zimmerschlüssel entwenden? Heutzutage gab es kaum noch richtige Zimmerschlüssel, vielmehr Chipkarten, mit denen man Hotelzimmertüren öffnete. Wo wurden die aufbewahrt? Und selbst wenn es ihnen gelänge, sich in zwei Hotelzimmern einzunisten, wer garantierte ihnen, dass nicht spätestens abends der rechtmäßige Hotelgast auftauchte? Wo sollten sie dann schlafen? Sollten sie dann endlos weiter suchen, bis sie vielleicht ein wirklich leerstehendes Zimmer gefunden hätten?
Schließlich buchten sie online eine große Ferienwohnung in Freiburg. Da sie im Voraus zahlten, verzichtete der Vermieter auf eine persönliche Schlüsselübergabe. Gegen einen stattlichen Aufpreis wurden Irmgard Wohnungs- und Haustürschlüssel per Einschreiben mit Rückschein zugeschickt.
An einem Donnerstag Ende Mai, Irmgard wollte gerade unbemerkt das Haus verlassen, um im Supermarkt um die Ecke Waschpulver, Flüssigseife und Duschgel zu holen, sah sie zwei Sanitäter aufgeregt durchs Treppenhaus rennen. »Die Frau kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, schrie einer aufgeregt. »Sie ist mit uns aus ihrer Wohnung …Wenn sie nochmal zurück …dann müsste sie in ihrer Wohnung sein.« »Wir haben doch x-mal bei ihr geklingelt. Macht ja nicht auf«, schrie der andere. »Wir müssen zum Hausmeister. Vielleicht kann der mit einem Dietrich die Wohnungstür öffnen. Wenn nicht, müssen wir das ganze Haus nach ihr absuchen.« »So viel Zeit haben wir nicht«, brüllte der erste, »dass wir alles nach der Alten abkämmen. Unser nächster Einsatz ist in fünfzehn Minuten.« Irmgard sah noch, wie die beiden in Begleitung des Hausmeisters ins dritte Stockwerk fuhren, aber nach wenigen Minuten wieder unverrichteter Dinge zum Erdgeschoss zurückkehrten. »Hab keine Ahnung, wo Frau Wiegand abgeblieben ist«, hörte sie den Hausmeister brummen. »War ja schon ziemlich lange krank. Hat nicht mehr ihre Wohnung verlassen. Aber irgendwann wird sie schon wieder auftauchen«, beruhigte er die Sanitäter. »Geben Sie uns bitte sofort Bescheid, wenn Sie die Frau sehen«, sagten die beiden noch. Dann stiegen sie in den DRK-Wagen und fuhren zurück zum Krankenhaus. Was sie nicht wissen konnten: Frau Wiegand, die während der aufgeregten Suche nach ihr vor dem Sanitätsauto gewartet hatte, war mit ihnen eingestiegen. Sie stieg auch im Krankenhaus mit ihnen aus.
Zwei Tage später rief Elke Irmgard an. »Mensch, die Frau aus eurem Haus, die die Sanitäter nicht abholen konnten. Das könnte die sein, über die ein langer Artikel in der Zeitung steht. Ich les ihn dir mal vor, wenn du gerade Zeit hast.« Natürlich hatte Irmgard Zeit, mehr als genug, es stellte sich für sie eher die Frage, was mit der vielen Zeit anzufangen. Und bevor sie trübsinnigen Gedanken nachhängen, vielleicht sogar in philosophisches Gewässer abdriften konnte, las Elke bereits:
»Eine fünfundsiebzigjährige Frau wurde gestern im Kreiskrankenhaus tot auf dem Fußboden des Eingangsbereichs gefunden. Gegen die beiden mit der Abholung der alten Dame beauftragten Sanitäter werde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Wenn es schon so weit sei, dass alte, schwer kranke Menschen in Krankenhäusern nicht mehr behandelt, sondern wie Müll auf den Fußboden gekippt werden, dann sei das die Bankrotterklärung unserer demokratischen Gesellschaft.«
»Das könnte uns auch blühen, schneller als uns lieb ist«, sagte Elke und »Versuch doch herauszubekommen, ob diese Fünfundsiebzigjährige aus eurem Haus stammt und gib mir Bescheid, wenn du etwas weißt. Ich muss Schluss machen, mein Oller kommt gerade zur Tür herein. Der braucht unser Gespräch nicht mitzuhören.«
Am Abend rief Irmgard Grunerts an, denn dann konnte sie sicher sein, dass beide, Herr und Frau Grunert, zu Hause waren. Ob sie etwas über Frau Wiegand wüssten? Ob es Frau Wiegand sei, die laut Zeitungsbericht unbehandelt im Kreiskrankenhaus verstorben sei? »Ja?« »Ist das nicht schrecklich, dass man alte Menschen einfach so im Krankenhaus krepieren lässt? Aber irgendwie ist Frau Wiegand auch selbst schuld. Hat wenigstens der Hausmeister gesagt. Die Sanitäter hätten mit ihm nach ihr gesucht. Sie sei wirklich unauffindbar gewesen.« - Irmgard konnte nur »erstaunlich, seltsam, ja wenn das so ist« wiederholen und sich für die Auskunft bedanken. »Und wie geht es Ihnen«, wollte Frau Grunert noch wissen. »Ja, doch, soweit ganz ordentlich.« Man gewöhne sich an alles, und schließlich würde sie von außerhalb ganz gut versorgt.
So schnell konnte es also gehen, dass die Zeit, die ihr manchmal unerträglich lang vorkam, zu Ende war. Aus und vorbei. Irgendwie tröstlich fand sie, dass sich im Tod Frau Wiegands Körper in sichtbare Materie zurückverwandelt hatte. Er wäre nicht als Nebelwesen überall und nirgendwo zu Hause. Das vielleicht auch, aber zuvor würde sich wenigstens ihr Körper in kleinste Atome zersetzen. Nur das Skelett bliebe übrig wie bei allen anderen Säugetieren. Dass sie selbst im lebensbedrohlichen Zustand keine ärztliche Hilfe bekäme, war fatal, aber vielleicht auch nicht, denn es würde ihr ein Dahinvegetieren, an hundert Schläuchen hängend, erspart bleiben. Genauso wie ein entwürdigendes Dahinsiechen in einem Pflegeheim. Sie müsste es nur schaffen, ausreichend hochprozentige Schmerzmittel zu horten. Ja, sie müsste beim nächsten Hausbesuch ihrer Hausärztin über heftige Rücken- und Lendenschmerzen klagen. Was wegen der bereits vor einem Jahr diagnostizierten Hüftarthrose durchaus plausibel war. Dreimal hatte die Ärztin ihr schon Novaminsulfon verschrieben. Bisher hatte sie nur, über viele Tage verteilt, achtzehn Tabletten geschluckt, da sie mit täglichen Dehn-und Streckübungen die Schmerzen in Schach halten konnte. Wenn sie erst zwanzig Packungen beisammen hätte…
Mittlerweile war es kurz vor 19 Uhr. Gewohnheitsmäßig schaltete sie den Fernseher ein. Glücklicherweise hatte sie das Luxusmodell eines großen Flachbildschirms noch zu ihrer sichtbaren Zeit erstanden. Sie holte ihren eisgekühlten Bananen-Shake mit Mandelsplittern aus dem Kühlschrank und machte es sich auf ihrem Sessel bequem, der in der vorgeschriebenen Entfernung auf selber Höhe wie das Fernsehgerät stand. Irmgard hörte nur mit halbem Ohr zu, als die Nachrichtensprecherin von dem zu erwarteten Handelskrieg zwischen den USA und China berichtete. Auch davon, dass sich wegen der von Donald Trump angekündigten Strafzölle auf Waren aus EU-Ländern die Handelsbeziehungen zwischen USA und Deutschland deutlich verschlechtert hätten. Sie redete noch vom eingetrübten Ifo-Index, vom immer noch schwelenden Abgas-Skandal bei VW und von manch anderem. Irmgard unterbrach erst ihr genussvolles Schlürfen, als sie folgende Mitteilung hörte:
»Einer Recherche von Spiegel-Reportern zufolge haben sich in deutschen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen die Fälle gehäuft, bei denen ältere Frauen ohne ärztliche Versorgung zu Tode gekommen sind. Besonders alarmierend sei der Umstand, dass die schwerkranken bzw. pflegebedürftigen Frauen im Foyer der betreffenden Institutionen tot auf dem Fußboden aufgefunden worden seien. Es sei dringend geboten, dass eine Sonderkommission gebildet werde, um schnellstmöglich die Ursachen für diesen Skandal aufzudecken. Anscheinend hätten sich bisher die betroffenen Stellen nur bemüht, ihn zu vertuschen.«
Drei Monate, nachdem Elke und sie selbst feststellten, dass sie in der Öffentlichkeit für ihre Mitmenschen Luft waren, hatte die Öffentlichkeit die Auswirkung dieses eigenartigen Phänomens zur Kenntnis genommen. Wenigstens die fatalste Auswirkung. Es blieb nur zu hoffen, dass jener Ausschuss in Ermanglung greifbarer Ursachen nicht nach Bauernopfern suchte. Zum Beispiel nach Sanitätern oder Pflegepersonal, die mit der Betreuung oder dem Transport jener Frauen beauftragt waren.
Am Montag, den 2. Juni, war es dann so weit: Um 9.10 fuhr Irmgard mit dem Linienbus 8 Richtung Hauptbahnhof. In ihrer Umhängetasche befanden sich neben Geldbeutel und Ausweispapieren auch die Schlüssel zu jener Ferienwohnung in Freiburg. Der ICE, den sie mit Elke zusammen ausgesucht hatte, würde 9.41 von Gleis 3 abfahren. Wichtig war nur, dass sie ihre kleinen Handkoffer immer in der Hand behielten, oder später, wenn sie im Zugabteil saßen, sich auf den Schoß legten.
Beide hatten ein Scrabble-Set von Buchstabensteinen in ihren Handtaschen, über die sie sich im Ernstfall verständigen wollten. Sie würden sowieso nur 1.Klasse fahren, möglichst in einem vollkommen leeren Abteil mit keinen oder wenigen Platzreservierungen. Sie wollten nur zwei Sitze im selben Abteil ergattern. Eine von ihnen könnte das zum Sitz gehörende Tischchen aufklappen und die Buchstabensteine darauf so anordnen, dass ihre Botschaft für die andere sichtbar wäre. Denn wenn es zwischen ihnen und einem Gegenstand keinen Körperkontakt gab, war dieser für jede und jeden zu sehen.
Bis Frankfurt waren verhältnismäßig wenig Reisende unterwegs, so dass ihnen die Hälfte der Coupés der 1. Klasse zur Verfügung stand. Sobald Irmgard auf einem der aufgeklappten Tischchen Buchstabensteine entdeckte, konnte sie ihr Auf- und Abgehen und In-die- Coupés-Spähen im Gang beenden. Als sie sich auf den Fensterplatz gegenüber jenem Tischchen fallen ließ, erkannte sie die Wörter »Ich bin hier«, die sie mit dem Buchstaben-Arrangement »Ich auch« beantwortete. Sie konnten es sich bequem machen, ihre Vesperbrote verzehren, die Thermoskannen mit heißem Milchkaffee auf ihre Tischchen stellen, so dass sie von Zeit zu Zeit ein Tässchen trinken konnten. Zu gerne hätten sie die vorbeifliegende Landschaft goutiert, doch mussten sie immer den Gang im Auge behalten, um, sobald ein Fahrkartenkontrolleur in Sicht war, blitzschnell die Thermoskannen einzupacken, ebenso blitzschnell die Tischchen zusammenzuklappen und in die Halterungen zu schieben. Kurz vor Frankfurt war es Elke, die als erste den Bahnbeamten bemerkte, der sich ihrem Abteil näherte. Mit fliegenden Fingern verstaute sie die Thermoskanne in ihrem Handkoffer. Irmgard folgte Elkes Beispiel. Die Tischchen waren noch nicht in die Halterungen zurückgeschoben, als der Schaffner die Wagentür öffnete. Sein Ordnungssinn ertrug es nicht, dass in einem leeren Coupé zwei Tischchen aufgeklappt waren. Er hantierte reichlich grob vor Irmgards und Elkes Nase herum. Dabei schimpfte er nach Herzenslust über die schlampigen Fahrgäste, die ein Abteil nicht so verlassen konnten, wie sie es vorgefunden hatten. In Frankfurt drohte neues Unheil, als ein beleibter Herr zustieg und sich ausgerechnet auf Irmgards Fensterplatz setzen wollte. Mit seiner Körperfülle war er gerade dabei, sich auf Irmgards Schoß niederzulassen, als ihn der leichte Widerstand, den er spürte, irritierte. Wenigstens so sehr, dass er zögerte. Gerade Zeit genug für Irmgard, sich aus dem Sitz zu quetschen. Die Handtasche trug sie über Achsel und Oberkörper geschlungen, so dass auch die bei ihrem Sitzwechsel mitwanderte. Aber ihr Handkoffer stand plötzlich mutterseelenallein auf dem Boden. Natürlich registrierte der Dicke den Koffer, schob ihn beiseite und murmelte nur »Hat wohl jemand vergessen, werd´ es nachher dem Schaffner sagen«, legte sein Gepäck ins Gepäcknetz und plumpste auf Irmgards Sitz. Dass der Fahrkarten-Kontrolleur voraussichtlich so bald nicht wieder kommen würde, beruhigte Irmgard. Trotzdem war jetzt guter Rat teuer. Irgendwann zog der Dicke eine Zeitung aus der Innentasche seiner Jacke und begann zu lesen. Schnell griff Irmgard nach ihrem Koffer und legte ihn auf ihren Schoß. Natürlich rieb sich der Dicke die Augen, als er von seiner Lektüre aufschaute. »Na, so was«, murrte er. »Ja, gibt’s denn so was? Der Koffer ist weg und ich hab nichts gemerkt. Na, kann mir egal sein. War ja nicht mein Koffer.« Irmgard überlegte, ob, sobald ein Zugbegleiter in ihr Abteil käme, der Dicke doch von dem rätselhaft entschwundenen Koffer berichten würde. Ob noch eine große Suchaktion nach ihm gestartet würde? Es könnte sich ja ein Sprengkörper darin verbergen. Über diese Vorstellung fing sie zu lachen an. Sie lachte, bis ihr der Handkoffer fast vom Schoß rutschte. Sie hatte ihn schon wieder festgekrallt, als ihr die Zeilen des Nonsense-Gedichts einfielen: »Dunkel war´s, der Mond schien helle, schneebedeckt die grüne Flur, als eine Wagen blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr. Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft, als ein tot geschoss´ner Hase auf der Sandbank Schlittschuh lief.« Worauf sie in unhörbar schallendes Gelächter ausbrach.
Bevor sich kurz vor Karlsruhe wieder ein Kontrolleur ihrem Abteil näherte, hatte sich der beleibte Herr auf den Weg Richtung Speisewagen gemacht, so dass weder Irmgard noch Elke erfuhren, ob er das plötzliche Verschwinden des herrenlosen Koffers dem Zugpersonal gegenüber zu Protokoll gab.
Pünktlich um 14.10 kamen sie ohne weitere Zwischenfälle am Hauptbahnhof Freiburg an. Glücklicherweise war ihr Feriendomizil nur wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt, so dass sie ihre Handkoffer nicht weit zu tragen brauchten.
Die Wohnung mit ihren 100 qm entsprach den im Internet abgebildeten Fotos. Es gab drei Schlafzimmer, zwei mit Boxspring- Doppelbetten aus champagnerfarbenem Leder, eines mit einem Boxspring-Einzelbett, ebenfalls champagnerfarben. Das Mobiliar der Schlafzimmer und des geräumigen Wohnzimmers, die Büffets, Wand- und Kleiderschränke ebenso wie Esstisch und Beistelltische, waren aus Erle massiv. Die Einbauküche, weiß lackiert, blitzte in Chrom und Stahl. In einem Regal fand Elke sogar eine Dose halbgefüllt mit gemahlenem Kaffee, dazu Filtertüten, im Kühlschrank eine Dose Kondensmilch, so dass sie gleich in der Kaffeemaschine frischen Bohnenkaffee aufbrühen konnte.
Fast täglich wateten sie wie Kinder in den Bächle, den Wasserrinnen am Straßenrand, die ganz Freiburg durchziehen. Oder spazierten durch die Altstadt, vorbei am Wentzinger Haus und der Alten Wache, vorbei am angeblich ältesten Gasthof Deutschlands »Zum roten Bären«, in dem sie leider nie speisen konnten.
Oft fuhren sie mit der Straßenbahn vom Leopoldbrunnen aus kreuz und quer durch die Stadt. Einmal, es waren schon zwei Wochen seit ihrer Ankunft vergangen, saß Irmgard zwei alten Hutzelmännchen gegenüber. Erst beachtete sie deren durch häufiges Räuspern unterbrochenes Gespräch kaum, bis der eine sagte: »Ma glaubds nedd, awer Zeidung bringd doch jeden Dag e neue Meldung über alde Wiewer, die in Krangehäuser gschtowe sinn. Als obs nix anneres mer gäb. Irgendwann misse mer alle schterbe.« »Awwer die Wiewer sinn doch in de Krangehäuser ga nedd behandeld wodde. Ma hedd se einfach so verrecke lasse. Des gehd jo gaa nedd. Wo simm mer denn«, widersprach der andere. »Awwe s´waare doch bloß alde Wiewer«, beruhigte der erste.
Zu Hause in ihrer Ferienwohnung berichtete sie Elke von jenem Gespräch. Ihr sonderbarer Zustand im öffentlichen Raum war nicht mehr etwas, das tot geschwiegen oder mit allen möglichen Ausreden bemäntelt wurde. Zumindest eine Facette dieses Zustands wurde wahrgenommen. Abends, wenn sie von ihren Exkursionen nach Hause kamen, waren sie zu müde oder damit beschäftigt, einander von ihren Erlebnissen zu erzählen, so dass sie kaum noch Fernsehnachrichten gehört oder eine Zeitung gelesen hatten.
Aber wenn Irmgard allein in der Wohnung oder auch draußen im Colombipark auf einer Parkbank saß, dann wusste sie nur zu gut, dass all ihre hektische Betriebsamkeit weder sie noch Elke noch all die anderen alten Frauen aus ihrem unsichtbaren Gefängnis befreien konnte, trugen sie es doch in der Öffentlichkeit immer mit sich herum wie die Schnecke ihr Schneckenhaus. Ein wenig ähnelte es dem reflexartigen Übersehen-Werden, von dem vorzugsweise Frauen jenseits der fünfzig betroffen sind, wenn sie sich allein in Cafés oder Restaurants setzen. Oder auch eine Straße entlang gehen. Aber jene wurden irgendwann bedient, wenn auch nicht selten mit ostentativer Herablassung, oder hörten beleidigende Kommentare wie »Was will denn die alte Oma?« oder »Hinten Lyzeum, vorne Museum«, was ihre Existenz, wenn auch in negativer Form, bestätigte. Während sie selbst nicht einmal einen Passanten nach dem Weg fragen konnte. Am liebsten hätte sie sich dann in ihrem Feriendomizil im Bett verkrochen und wäre nicht mehr aufgestanden. Irgendwann regte sich doch ein animalischer Lebenswille, oder war es Elke, die sie wach rüttelte, so dass sie wieder, jede für sich, auf Achse gingen, sich in Modeboutiquen neu einkleideten. Sie hatten in ihrem Handgepäck kaum Kleidung mitnehmen können, sie würden die Kleidungsstücke per Kurierdienst an ihre Heimatadressen schicken, bevor sie nach Hause fuhren.
Da rief Katja an. Natürlich rief auch Georg an, aber nur sporadisch. Wenn Elke versuchte, ihn telefonisch zu erreichen, war das zumeist vergeblich. Katja und Irmgard hatten regelmäßig jede Woche ein- bis zweimal miteinander telefoniert, nicht nur, weil Katja nach Irmgards Post und Wohnung schaute. Dieses Mal bat Katja um einen Gefallen. Werner wolle unbedingt in den ersten beiden Ferienwochen, und die begännen ja schon in fünf Tagen, mit einem Kumpel ihre Wohnung renovieren, also Decken und Tapeten streichen, auch Fenster- und Türrahmen. Sie würde gerne dem zu erwartenden Chaos entfliehen. Ob sie nicht, natürlich nur, wenn es Irmgard und Elke nicht störe, zu ihnen nach Freiburg kommen könne? Die Ferienwohnung sei doch so groß.
Sie könnten dann alle gemeinsam in ihrem Audi nach H. zurückfahren. Natürlich waren die beiden mit Katjas Vorschlag einverstanden und der Vermieter nach Zahlung eines Aufpreises ebenso.
Währenddessen rissen die Meldungen im Fernsehen und in Zeitungen über ältere Frauen, die in Kliniken und Pflegeheimen ohne Hilfe zu Tode gekommen waren, nicht ab. Ein bereits gebildeter Untersuchungs-Ausschuss arbeite fieberhaft daran, Licht ins Dunkel dieser Fälle zu bringen, hieß es. Erst dann, wenn sich der Verdacht gegen einzelne Pfleger erhärte, könne die Sache der Staatsanwaltschaft übergeben und Haftbefehle erlassen werden.
Nach Katjas Ankunft erweiterte sich Irmgards und Elkes Aktionsradius beträchtlich. Katja chauffierte sie zur Hornisgrinde, durchs Höllental. Auch zum Titisee, sogar zum Bodensee. Wichtig war nur, vor der Abfahrt noch in der Ferienwohnung eine Uhrzeit zu vereinbaren, zu der sich alle an Katjas Auto treffen und wieder einsteigen würden. Diese fuhr erst zurück nach Freiburg, wenn sie die Scrabble-Wörter »Ich bin hier« und »Ich auch« in ihrem aufgeklappten Handschuhfach oder auf dem Beifahrersitz entdeckte.
Katja geriet immer aufs Neue in Wut, wenn sie wieder einmal feststellte, dass es nicht möglich war, gemeinsam in einem Café zu sitzen oder in einem Restaurant zu essen. Während man sich über Belangloses und Ernsthaftes unterhielt. Über Kurioses, über das man gemeinsam hätte lachen können. Stattdessen führte der Kellner sie als einzelne Frau mittleren Alters meist spontan zum nächsten Katzentisch und entdeckte erst nach ihrem entschiedenen Protest, dass auch noch an der Fensterfront ein Tisch frei war. »Es ist doch zum Auswachsen, dass ihr euch draußen in Luft auflöst. Dass wir draußen immer nur allein unterwegs sein können«, entrüstete sie sich, wenn sie abends in die Ferienwohnung zurückkehrten. Dann versuchten Irmgard und Elke, die sich mit ihrem Zustand weitgehend abgefunden hatten, sie zu beschwichtigen.

Bis Darmstadt verlief ihre Rückreise ohne Zwischenfälle. Die Sommerferien hatten in einigen Bundesländern, auch in Hessen, gerade begonnen. Dann gerieten sie in einen Stau. Katja war sofort, als sie die Warnblicklichter am Stauende sah, auf die Bremse getreten. Hatte ebenfalls das Blicklicht eingeschaltet. Wenige Sekunden später schien ihr Wagen, wie von einer Riesenfaust getroffen, zu zerspringen.
Als Katja auf der Intensivstation des Darmstädter Klinikzentrum wieder zu Bewusstsein kam, sie hatte bei dem Unfall einen Schädelbruch erlitten und war sofort operiert worden, dauerte es eine Weile, bis sie flüstern konnte. Mühsam, langsam. Wo sie sei? Wo Irmgard und Elke seien? Die Ärzte, die Schwestern, die Pfleger versuchten, sie zu beruhigen. Sie habe einen schweren Unfall gehabt. Sie brauche Ruhe, viel Ruhe, mehr sagten sie nicht. Wer sollten Elke und Irmgard sein? Es waren nach jenem Unfall, verursacht durch einen LKW-Fahrer, der das Stauende übersehen hatte, nur zwei Personen eingeliefert worden: die schwerverletzte Katja Schell und der ebenfalls schwerverletzte LKW-Fahrer. »Hoffentlich«, sagte Prof. Dr. Danner zu seinem Oberarzt, »hat Frau Schell keinen bleibenden Hirnschaden davon getragen.«
Was weder Katja noch das Krankenhauspersonal zu jenem Zeitpunkt wussten: Der Abschleppdienst, der Katjas völlig demolierten Audi zur Verschrottungsanlage brachte, fand in dessen Innenraum zwei Frauenleichen. Mit Verbrennungen am Körper und klaffenden Wunden am Kopf, die nur von jenem Unfall herrühren konnten. Sie fanden unter den reichlich verkohlten Habseligkeiten auch zwei Pässe mit den Namen Elke Reichelt und Irmgard Kroner. Die Meldung, die die Mitarbeiter des Abschleppdienstes an ihren Chef machten, wurde - aus welchen Gründen auch immer - nicht sofort weitergeleitet, sondern erst mit einem Tag Verspätung. Eine von der Staatsanwaltschaft angeordnete Obduktion ergab, dass bei sofortiger ärztlicher Hilfe das Leben der beiden Frauen hätte gerettet werden können.
Was natürlich, sobald dies trotz Geheimhaltungsversuchen publik wurde, zu medialer Entrüstung führte. Erst in der Reha-Klinik erfuhr Katja davon, insbesondere die Umstände und die Tatsache von Irmgards Tod drangen nur langsam in ihr Bewusstsein.
Es wurde nicht nur ein Sonderermittlungsausschuss gebildet, auch Gewebeproben wurden den Körpern der Verstorbenen entnommen und ans Max-Planck-Institut geschickt, da nach Aussage des Unfallarztes, der diensthabenden Sanitäter und Verkehrspolizisten nur zwei Schwerverletzte am Unfallort gesehen worden waren, es sich also um einen weiteren Fall handeln könne, der in die Reihe der mysteriösen, in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen wegen fehlender Behandlung zu Tode gekommenen älteren Frauen passe. Vielleicht gäbe es, so abstrus das klinge, ein ganz neuartiges Virus, welches vorübergehend zu einer Art Tarnkappenexistenz der Betroffenen führe. Natürlich könnten, bevor das Virus nicht labortechnisch nachgewiesen sei, keine verbindlichen Aussagen gemacht werden.
Nach der Veröffentlichung dieses Bulletin erlosch das öffentliche Interesse an den merkwürdigen Vorkommnissen.
 



 
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