Das Versprechen

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antjemelanie

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Das Versprechen

Er liebte den Duft des Waldes nach einem starken Regenguss. Die Luft roch nach Reinheit und der herbstliche Wind erfrischte seine ganze Lunge. Diese Zeit war seine liebste, um nach draußen zu gehen und seine gewohnten fünf Kilometer zu joggen.

Die schwarze Erde lockerte sich sanft unter seinem Laufschritt auf. Hin und wieder knackte es unter seinen Füßen, aufgrund der vielen Eicheln, die auf dem Boden lagen. Er bog nach rechts, verließ den Pfad, duckte sich und sprang umher, um den Ästen und Wurzeln zwischen den dicht stehenden Bäumen auszuweichen. Dieser Abschnitt bereitete ihm das meiste Vergnügen, er forderte ihn heraus und sein Herz pochte beim Gedanken daran, seine Rekordzeit zu übertreffen. Gerade als er zum Sprint ansetzen wollte, wurde er von einem quietschend hohen Geräusch überrascht. Sofort blieb er stehen, bückte sich und ging in Lauerstellung. Seine Ohren waren gespitzt und erneut quietschte es. Dieses Mal konnte er es orten. Schleichend setzte er seine Beine in Bewegung und schon nach ein paar Metern erblickte er ein Wildschwein, das hinter sich mehrere Frischlinge verteidigte. Der Grund für die feindseligen Geräusche des Wildschweins stand direkt vor ihm: eine junge Frau, die kerzengerade dastand und am ganze Leibe zitterte.

»Das ist eine Bache«, flüsterte der Jogger der jungen Frau zu. Geschwind drehte sie ihren Kopf in Richtung des Mannes.

»Was?«, rief sie laut und hielt sich augenblicklich die Hand vor ihren Mund. Ihre Augen waren so groß, das sie fast wirkten, als würden sie im nächsten Moment rausspringen.

»Eine Bache – das Wildschweinweibchen. Sie tut dir nichts, beißt dich höchstens, aber davon dürfest du nicht sterben.«

Ein abwertendes Lachen drang aus der Kehle der Frau. »Und das soll mich inwiefern beruhigen?«

»Na ja«, sagte der Jogger, »wenn es ein Keiler wäre, würde ich mir schon mehr Sorgen machen. Der hat rasierklingenscharfe Zähne. Aber an der langen Schnauze erkennt man, dass es ein Wildschweinweibchen ist. Glaube mir, sie hat mehr Angst vor dir, als du vor ihr.«

Die Frau schlitzte ihre Augen und zog einen Schmollmund. Und in diesem Moment hörte man das kraftvolle Trampeln mehrerer kleiner Hufen. Die Bache war mit ihren Frischlingen in Windeseile verschwunden.

Die Frau atmete auf und fing kurz darauf an, aus tiefster Erleichterung zu lachen. Der Jogger ließ sich vom Lachen anstecken und gemeinsam standen sie für ein paar Sekunden da und lachten aus vollem Herzen.

Dann hörte die junge Frau abrupt auf und ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Sie wurde bleich, und hätte der Jogger sich daraufhin nicht im Kreis gedreht, hätte er vermutet, dass das Wildschweinbündel wieder zurückgekommen war.

»Ist alles okay?«, fragte er.

Sie warf sich die Hände ins Gesicht und schüttelte den Kopf. Ein wehleidiges Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Viel mehr zu sich selbst als zu ihm, brabbelte sie vor sich hin: »Warum musstest du mich retten?!«

Im ersten Moment glaubte er, er habe sich verhört, doch dann wiederholte sie den Satz noch drei weitere Male. Er stand wie eine eingefrorene Statur da, sein Gehirn ratterte und dennoch wusste er nicht, was er sagen sollte.

Doch das musste er auch nicht.

Im nächsten Moment kam die junge Frau auf ihn zugerannt, packte ihn bei den Schultern und riss ihn auf den Boden. Sie legte sich auf ihn, drückte ihre Lippen auf die seine und stieß ihre Zunge in seinen Mund. Nach wenigen Sekunden wich sie zurück und blickte auf sein überraschtes Gesicht. Dann lehnte sie sich erneut hinab, ging so nah an sein Ohr wie möglich, und flüsterte ihm in einem bedrohlichen Ton zu: »Versprich mir zu rennen, wenn ich sage ›Renn’‹. Und komm’ nicht zurück!«

Irritiert zog er seine Brauen zusammen. Doch dann wiederholte sie ihre Aussage in einem derart ernsten Ton, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Er nickte verunsichert und dann stand sie auf, verschränkte die Arme und im nächsten Moment kamen vier Männer angestiefelt.

Sie stellten sich um die beiden herum und der Mann mit den breitesten Schultern befahl der jungen Frau, zu ihm zu kommen. Zögernd setzte sie ihre Beine in Bewegung und ging auf den scheinbaren Anführer zu. Als sie in greifbarer Nähe war, griff der Mann sie grob am Arm und zog sie zu sich heran. Er hielt die Frau in seiner Schlinge und positionierte sie vor sich, sodass der Jogger nach wie vor ihr Gesicht sehen konnte.

Mit wackligen Beinen stand der Jogger auf, streifte sich das Laub von seiner Hose und blickte dann in jedes einzelne, ihn anstarrende Augenpaar. »Was ist hier los?«, fragte er, seine zittrige Stimme innerlich verfluchend.

»Sie werden jetzt folgendes tun: Sie werden nach Hause gehen, all ihre Wertsachen in einen Rucksack packen, hierher zurückkommen und uns die Sachen überreichen.«

Der Jogger verlagerte sein Gewicht von einem Bein zum anderen. Der Schweiß lief ihm die Stirn hinab. »Warum sollte ich das tun?«

Der breitschultrige Anführer lachte zynisch. »Das liegt doch auf der Hand, meinen Sie nicht? Wir haben Sie gerade beobachtet, wie Sie das Leben der jungen Dame hier gerettet haben. Ich glaube kaum, dass Sie sie jetzt, nachdem Sie so tapfer für sie eingestanden sind, sie einfach hängen lassen werden.« Der Mann holte eine Pistole hinter dem Rücken hervor und hielt die Laufmündung direkt an die Schläfe der jungen Frau.

Der Jogger wich einen Schritt zurück. Er hatte das Gefühl, als würden Schwindel, Zorn, Angst und Lähmung ihn gleichzeitig zerreißen.

Aus voller Selbstsicherheit heraus stellten sich die drei anderen Männer nun an die Seite des Anführers, und kurz darauf spürte der Jogger, wie der schrille Schrei des einzigen Wortes »Renn!« ihn mit voller Wucht traf. Wie fremdgesteuert sprintete er los, sprang über Äste und Steine.

Die Schläge seines Herzens überschlugen sich und er hatte das Gefühl, als würde die Wärme aus seinem Körper entrissen und durch bittere Kälte ersetzt werden. Als er in seinem Haus ankam, trank er in einem Zug einen Liter Wasser. Und dann stand er wie angewurzelt mitten in der Küche und wusste nicht, was er tun sollte.

»Versprich mir zu rennen, wenn ich sage ›Renn’‹. Und komm’ nicht zurück!«, hörte er die alarmierenden Worte der jungen Frau noch immer in seinen Ohren rauschen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo antjemelanie, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Eine spannende, wenn auch nicht ganz zu verstehende Geschichte. Mal sehen, was andere Leser dazu sagen.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

antjemelanie

Mitglied
Bei Kurzgeschichten ist es ja oft so, dass nicht alles ausführlich erklärt wird und der Geist noch selbst angeregt werden soll. Ich bin gespannt auf Interpretationen :)
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo antjemelanie, herzlich willkommen!

Bis zur Stelle: Und das soll mich inwiefern beruhiegen?....Musste ich über die Frau lachen. Du hast sie gut gezeichnet, in dieser seltsamen Situation mit den Wildschweinen.
Ab da find ich die Geschichte allerdings seltsam. Die Männer? Der Jogger soll seine Sachen Zuhause holen und sie ihnen bringen? Die Frau aber warnt ihn: Renn und kehr nicht zurück! Wieviel Raum bleibt hier für Interpretationen? Ist das ein üblicher Trick der Männer, um Leute auzubeuten – aber die Frau spielt das Spiel nicht mehr mit?
Bin völlig auf´m Schlauch…
Aber mir hat gefallen, wie Du die Geschichte geschrieben hast.
Vielleicht verrätst Du ja noch Deine Interpretation.
Mit Gruss,
Ji
 



 
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