Das Vorstellungsgespräch

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Paloma

Mitglied
Franzbranntwein soll ja angeblich bei schwitzenden Händen wirken. Davon merkte Jens-Paul in diesem Moment überhaupt nichts. Mindestens dreimal hatte er heute morgen seine Hände damit abgewaschen. Jetzt waren sie wieder feucht. Er ging in dem kleinen Vorraum auf und ab und versuchte tief und lange ein- und auszuatmen. Dieses war sein drittes Vorstellungsgespräch in dieser Woche und er hoffe so sehr, dass es diesmal klappen würde. Erst vor vier Wochen war er Papa geworden und er brauchte jetzt dringender als je, einen neuen Job. Seine alte Firma hatte völlig unerwartet Konkurs gemacht. Seitdem lief er Tag für Tag von einer Firma zu andren und war bereit alles anzunehmen, was man ihm bot.

Er zog noch einmal seine Krawatte zurecht, dann ging auch schon die Tür auf und eine extragestylte, junge Frau bat ihn, doch einzutreten. Jens-Paul folgte der Aufforderung und sah sich Sekunden später dem Human Resource Manager, Tyler von Brausenbach, gegenüber. „Nehmen sie Platz. Ich habe ihre Bewerbungsunterlagen soeben durchgesehen. Abi mit 1,9 ist ja nicht sooo berauschend. Ging das nicht besser?“ Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: „Aber gut, sie haben ja genügend Referenzen aus zahlreichen anderen Firmen.“ Er sah über die Gläser seiner Designerhalbglasbrille und fragte: „Was hat sie bewogen hier bei uns vorstellig zu werden?“ Jens-Paul holte unmerklich Luft, „Ich sehe ihre Firma als sehr innovativ und ich kann mir vorstellen ein vollwertiges Mitglied ihrer Belegschaft zu werden. Außerdem meine ich, für diese Anstellung überaus qualifiziert zu sein.“ „Hmm ... der Personalleiter musterte Jens-Paul: „Welches Werkzeug benutzten sie?“ Ohne zu zögern sagte Jens-Paul: „Nur die Pistole. Ich bin perfekt auf diesem Gebiet.“ Von Brausenbach runzelte die Stirne: „Welche Ladung?“ Jetzt wurde Jens-Paul sehr viel sicherer. Da kannte er sich nur allzu gut aus und er war der Meinung, auf diesem Gebiet unschlagbar zu sein. „Ausschließlich H2O und C2H5OH mit einem Hauch von Lavendel“, antwortete er. „Einen Hauch von Lavendel? Ist das nicht ein bisschen, sage wir mal, extravagant?“, Tyler von Brausenbach stand auf und seine Stimme klang sehr geschäftig: „Aber nun gut, das ist interessant und eine Überlegung wert. Unser Gehaltsvorschlag - 1 Euro die Stunde - für sie war in Ordnung?“, auch hier wartete er eine Antwort gar nicht erst ab und fuhr fort: „Sie sind immerhin schon 36 Jahre, da muss man ja schon mal nehmen was man kriegt – nicht wahr?, fügte er schmunzelnd hinzu. Sie werden in den nächsten Tagen von uns hören. Es stehen noch eine Menge andere Bewerber für die ausgeschriebene Abstellung als Building Cleaner zur Auswahl.

@Paloma - März 2010
 

Thys

Mitglied
sehr schön, paloma :)

was gefällt mir konkret?
die bewerbungssituation kommt absolut glaubwürdig rüber. zum einen, wie sich der kandidat fühlt und zum anderen hast du auch perfekt das alberne gehabe dieser personalleute wieder gegeben.

„...Abi mit 1,9 ist ja nicht sooo berauschend. Ging das nicht besser?“

position macht arrogant, kann man da nur sagen. ich möchte nur zu gerne mal das zeugnis einiger dieser personaler sehen. manche wären wohl überglücklich, wenn sie nur in die nähe der note kämen. naja, davon abgesehen, dass man sowieso nur sehr schwer über fachfremde themen sprechen, geschweige urteilen kann, von denen man keine ahnung hat. und dieses psychologe-für-arme-gehabe der leute ist eigentlich nur lächerlich. auch optisch hast du den perfekt beschrieben. aalglatter durchgestylter geistig inhaltsleerer depp halt. frisch aus dem versandhauskatalog angeliefert. bestellnummer: pe-08/15-163893739. ein karrierist stromlinienförmig und nach der aktuellen windrichtung ausgerichtet...

nachdem ich jetzt den text zu ende gelesen habe, muss ich dir ein hübsches gelungenes verwirrspielchen bescheinigen. zwischenzeitlich dachte ich: „gut und treffend beschrieben aber ende zu offensichtlich.“ bei der pistole kam dann echtes stirnrunzeln bei mir auf. „was soll das denn jetzt werden? nimmt das jetzt etwa eine wendung zu irgendsoeiner künstlich aufgepfropften pointe?“ bei wasser dachte ich nur noch... „häää... wasserpistole?? was soll das denn für ein beruf sein?“.
ethanol und lavendel brachte mich dann wieder auf die spur :)

auch schön diese einstreuungen der unvermeidlich dämlichen anglizismen. ohne geht’s ja schließlich nicht!

gruß

thys

ps: ach ja, ich guck noch mal nach den kommata. Ich meine mal ein oder zwei überflüssige gesehen zu haben. ist aber nicht so wichtig. wer setzt die schon perfekt ;)
pss: eigentlich ist das gar keine satire. höchstens realsatire.
 

Paloma

Mitglied
Hallo Thys,

ganz lieben Dank für Deinen ausführlichen Kommentar und die lieben Worte. Ich war zwischenzeitlich in einer Reha, deshalb komme ich erst jetzt dazu Dir zu danken.

Liebe Grüße
Paloma
 
M

Marlene M.

Gast
traurig und realistisch gezeichnet, wie eine Satire sein soll.
Die Pistole ist unkonventionell, erhöht aber die Spannung, weil man evtl. denkt, da geht es um einen unseriösen Job...
Building-Cleaner mit 1,9 er Abi- ja, so weit ist es bald in unserer Gesellschaft.
Gefällt mir ausgesprochen gut, deine Satire, liebe Paloma.
Kann der Protagonist noch froh sein, dass man ihm nicht wieder nur ein Praktikum angeboten hat, sondern mal einen richtig tollen Job für1 E...
man könnte den Titel noch humorig unterlegen: vielleicht: Schuss-Fest"?
GGG von Marlene
 



 
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