Das betrogene Ferienglück

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Liebes Tagebuch,

dieser Sommer ist ganz anders verlaufen, als ich mir gewünscht habe. Dabei hatte Robert doch alles so schön für unseren Urlaub im Loire-Tal geplant.

Ich erinnere mich deutlich an den Nachmittag; wir kamen vom Besuch des Schlosses in Beaugency zurück und suchten eine Ferienpension.
Es war einer dieser sengend heißen Julitage, an dem die Kinder am liebsten ins Schwimmbad gehen und unsereins gern im Schatten einer Platane ein gutes Buch liest und einen eisgekühlten Cocktail schlürft.
Das Getreide wurde geerntet, die Mähdrescher fuhren durch die flimmernde Hitze. In der Luft lag dieser süßlich holzige Geruch der frisch geschnittenen Weizengarben.
Die Sonneblumen wiegten ihre schweren Köpfe unter der gleißenden Sonne.
Die Loire floss breit und lautlos unter der alten Steinbrücke hinweg, über die wie fuhren.
Robert hatte die Klimaanlage unseres Autos ganz aufgedreht; die Wettervorhersage im Radio sprach von Gewittern in den nächsten Tagen.
Dann kam wieder diese Meldung.
Robert machte das Radio lauter: „Hör mal, die haben sie immer noch nicht gefasst.“
Der Nachrichtensprecher verlas die Meldung: „Ungeklärt bleiben weiterhin die dreisten Diebstähle im Loire-Tal. In Hotels und Pensionen sind innerhalb einer Woche mehrere Einbrüche und Diebstähle gemeldet worden. Vom Täter fehlt jede Spur. Es kann sich um einen Hotelgast handeln, der aber sehr geschickt und äußert sportlich vorgeht. Die Polizei hofft auf Hinweise aus der Bevölkerung.“
Robert schüttelte den Kopf.
Er bog von der Landstrasse ab, fuhr einen staubigen Feldweg zweihundert Meter weit hinein, dann sahen wir unser Ferienglück vor uns.
Ein Bauernhaus im Fachwerkstil lag am Ende einer mit weißem Kies aufgeschütteten Auffahrt. Auf beiden Seiten des Wegs fanden sich Blumenbeete in voller Blüte.
Bedächtig fuhr Robert auf einen Stellplatz vor der alten Scheune. An dem Schild „Nur für Pensionsgäste“ hielt er an.
Die Hitze erschlug mich fast, als ich die Beifahrertür öffnete.
„Meine Herrschaften, darf ich Ihnen behilflich sein?“
Die Hausherrin, eine Dame in unserem Alter, also Mitte Sechzig, kam mit breitem Lächeln auf uns zu.
Robert wuchtete sich mühsam aus seinem Fahrersitz.
„Robert, soll ich dir helfen?“, fragte ich geflissentlich.
„Nein, nein, mein Schatz“, antwortete er und grüsste lächelnd und Kopf nickend die Dame.
Diese hatte schon ihre Gartenhandschuhe abgestreift und streckte ihre Hand vor unter demütigen Entschuldigungen: „Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen, dass ich Sie in diesem Aufzug empfange.“
Ich wehrte ab: „Ach, ich bitte Sie, zur Gartenarbeit muss man richtig angezogen sein. Guten Tag! Mireille Dupont und mein Mann Robert“, ich wies auf Robert, dessen Herzbeschwerden wieder offenkundig waren.
„Kommen Sie! Das ist mein Reich“, meinte die Dame mit einem Anflug von Ironie und deutete auf die bienenumschwärmten Blumen, die Obstbäume und den Gemüsegarten.
Robert folgte uns beiden schwer atmend.
Wir kamen zum offenen Hauseingang. Ein Mann stand gebückt über der schweren Kommode im Eingangsflur und füllte einen Scheck aus. Eine Schublade stand auf.
„Und das ist der Schatzmeister in meinem Königreich“, meinte die Gastgeberin etwas schwülstig; ich befürchtete, dass sie sich etwas zu ernst nahm.
Ihr Gatte, ein Herr Anfang Siebzig, drehte sich um, schaute uns über seine Lesebrille an, legte sie ab und begrüßte uns sehr freundlich, fast so herzlich, als ob wir uns kennen würden: „Jaja, Jeanne-Marie trägt immer etwas dick auf, aber wir würden uns freuen, wenn Sie sich bei uns wohl fühlen würden.“
Kurz: ein Empfang in einem Ferienparadies, wie er im Buche steht.
Wir trugen uns ein für eine Nacht.

Beim Abendessen sah ich ihn dann das erste Mal. Ich zog die Augenbrauen hoch, doch Robert beachtete mich gar nicht. Ach, Männer sehen ja gar nichts.
Er war jung, kaum Dreißig, schlank, sportlich, trotz seiner Brille eigentlich sehr gut aussehend – schade, dass ich seine Großmutter hätte sein können. Still, schweigsam saß er da und schlang die Köstlichkeiten der Gastgeberin in sich hinein. Was macht so einer in einer beschaulichen Landpension?
Er beobachtete uns alle. Ich fand ihn von Anfang an auffällig.
Die anderen Pensionsgäste waren eine mit sich selbst beschäftigte Endvierzigerin und ein junges Ehepaar mit Baby. Natürlich kreiste die abendliche Unterhaltung um das Baby und um die phantastische Küche der Pensionsinhaberin.
„Ach, schmecken Ihre Tomaten würzig“, lobte Robert.
„Die kommen aus unserem Garten.“
„Ach nein!“
„Doch, auch der Salat, alles kommt aus unserem Garten.“
Unser Pensionsvater nickte verständnisvoll: „Meine Frau ist sehr stolz auf ihren Gemüsegarten.“
„Sie hat allen Grund dazu, sie hat allen Grund“, bekräftigte ich.

Ich wachte auf. Die Nachtluft brachte kaum Kühlung. Es waren noch deutlich über 20 Grad in unserem Zimmer, trotz der weit geöffneten Fensterladen. Ich schaute auf unseren kleinen Reisewecker mit Neonzeigern: Kurz nach 3 Uhr früh.
Ich zog die Decke weg und trat ans Fenster. Der Mond war Wolken verhangen. Ich sah wenig von unserem Fenster im ersten Stock des Bauernhauses. Der Gemüsegarten, die Blumenbeete und die Stellplätze der Autos lagen unter uns im absoluten Schwarz der Nacht.
Robert grunzte; war er wach?
Leise ging ich zur Zimmertür, öffnete sie geräuschlos. Auf Fußspitzen tappte ich weiter am Treppenaufgang vorbei. Ich hörte von unten den Pendelschlag der schweren Standuhr. Es gab einen leisen Glockenklang zur Viertelstunde, dann war alles wieder still.
Alles?
Unter dem Türrahmen einer Gästezimmertür schien ein gelber Lichtschein durch. Zimmer Nr. 3. Das war sein Zimmer. Das wusste ich. Kein Laut kam an mein Ohr, doch ich war sicher, dass er nicht schlief. Stille Wasser sind tief! Was machte so ein Typ in einem Rentner-Paradies?
Ich mochte ihn nicht und sollte Recht behalten.
Es gab eine Gemeinschaftstoilette hier im Obergeschoss, eine im Erdgeschoss.
Ich zögerte einen Moment, dann wandte ich mich dem Treppenabsatz zu und schwebte ins Erdgeschoss. Nur nicht diesem Mann zur nachtschlafenden Zeit begegnen.

Ich wachte durch die Sonnenstrahlen auf, die durchs offene Fenster fielen und unsere Bettdecken warm berührten.
„Robert?“
„Ja mein Schatz.“
Ein Blick auf den Reisewecker.
„Müssen wir schon?“
„Ich fürchte ja, mein Täubchen, in zehn Minuten ist die offizielle Frühstückszeit vorbei.“

Sie saßen da aufgereiht wie die Hühner auf der Leiter.
Die Vierzigjährige runzelte die Stirn, als sie uns kommen sah, und befragte mit verzogenem Mund ihre Armbanduhr.
Der junge Mann schlürfte mit leerem Blick an seinem frisch gepressten Orangensaft.
Die jungen Eltern fütterten mit viel „Eiteitei“ ihr Baby, das über und über mit Brei verschmiert war.
„Haben Sie gut geschlafen?“, eilte die Gastgeberin uns entgegen, so als ob unsere unhöfliche Verspätung in ihrem Ferienparadies keine Rolle spielen würde. Ihre Frage war natürlich keine Frage, sondern eine fast flehentliche Bitte, die nur eine Antwort kannte: „Ja natürlich, ganz ausgezeichnet“, gab ich sie, und Robert nickte zustimmend.
„Womit darf ich Ihnen etwas Gutes tun: Kaffee, Tee, eine heiße Schokolade?“, fragte die Gastgeberin unterwürfig.
„Kaffee“, meinten wir beide fast gleichzeitig.
„Und etwas frisch gepressten Orangen- und Grapefruit-Saft?“, flötete die Herrin der Pension.
„Gern.“
Sie flog in die Küche.
Wir setzten uns.
„Haben Sie gut geschlafen?“, fragte ich das Baby-Elternpaar.
Die beiden nickten.
„Die Croissants sind ganz exzellent“, versuchte die Vierzigjährige einen höflichen Einwurf.
„Trauben-Gelee…“, die Gastgeberin war an unseren Tisch zurückgeeilt und deutete auf ein grünliches Marmeladen-Glas, „ganz ohne Kerne.“
„Nein“, tat ich interessiert.
„Doch, ich hole sie einzeln heraus.“ Sie verlor sich in Erklärungen, die niemanden interessierten.
Er hatte Ringe unter den Augen und stützte den Kopf. Übernächtigt ohne Frage. Ich ging in die Offensive, ich wollte es einfach wissen: „Junger Mann, haben Sie die Radiomeldung gehört?“
„Hä?“, seine Stirn runzelte sich fragend.
„Da wurde doch mehrfach gestern und vorgestern von diesen Diebstählen berichtet“, wandte ich mich jetzt, Interesse heischend an die Gastgeberin. „Hier im Loire-Tal sind doch mehrfach heimtückische Diebstähle verübt worden!“ ich suchte Bestätigung in Jeanne-Maries Gesicht, die nickte leicht zu meiner Freude. Gleichzeitig merkte ich, wie die Pensionsbesitzerin nachdenklich wurde.
„Die Polizei geht von einem geschickten, sportlichen, wahrscheinlich recht jungen Mann aus“, konfrontierte ich den jungen Mann mit meinem Verdacht. Jetzt schaute ich ihn direkt an: „Was halten Sie denn von diesem Verdachtsmoment?“
Das blasse, übernächtigte Gesicht errötete.
„Mireille, Mireille“, tadelte mich Robert, und jetzt an den Mann gewandt: „Meine Frau ist ein großer Fan von Kommissar Maigret. Das Einzige, was sie ihm vorwirft, ist, dass Georges Simenon seine Kriminalfälle nicht origineller gestaltet hat. Meine Frau hätte das mit Leichtigkeit geschafft!“
„Robert!“, fauchte ich meinen Mann an.
„Och, doch, meine Liebe!“, wehrte Robert ab. Das Baby-Ehepaar grinste. Und er fuhr fort: „Du hast einen natürlichen Hang zur Übertreibung!“
„Robert!“, sagte ich jetzt noch lauter.
Ohne mich zu beachten, fragte Robert den Pensionsvater: „Kann ich zahlen, bitte?“
Alle lachten. Robert hatte mich bloß gestellt.
„Kann ich Sie kurz sprechen?“, fragte der junge Mann die Pensionsmutter. Der fühlte wohl Oberwasser, der Schleimer, dachte ich.
Ich ging geknickt ins Obergeschoss, wo ich unser Zimmer leer räumte.
Mit unserem Koffer kam ich wieder in die Eingangshalle und verließ grußlos die Damen und Herren, die sich über mich lustig gemacht hatten.
Robert kam ans Auto nach. Wortlos packten wir das Auto. Doch bevor er den Zündschlüssel drehte, drehte er sich zu mir und gab mir eine dicken Kuss auf den Mund: „Du bist die Größte!“
Ich lächelte.
Er fuhr los. Der Kies knirschte unter den Reifen.
Robert schaute in den Rückspiegel.
„Oh“, sagte er, „die sind aber aufgeregt.“
Ich drehte mich um, schaute nach hinten heraus.
Jeanne-Marie und ihr betagter Ehemann waren aus dem Haus gekommen. Sie gingen, nein sie liefen unserem Auto nach. Die Fäuste wütend in die Luft gerichtet. Rot im Gesicht. Uns irgendetwas nachrufend.
„Du meinst, sie haben etwas gemerkt“, fragte ich Robert.
„Ach, Täubchen, zu spät ist zu spät…“
Ich lachte befreit auf.
„Du warst wirklich toll als hysterische Rentnerin“, beglückwünschte er mich.
„Und du erst“, gab ich das Lob zurück, „als herzkranker Opa.“

Wir fuhren den Feldweg zurück bis zur Landstrasse.
Robert setzte den Winker und erstarrte.
Ein Blaulicht kam auf uns zugeschossen.
„Die Polizei!“, rief ich.
„Ich seh’s“, knurrte er.
„Was machen wir jetzt“, schrie ich in einem Anflug von Panik.
„Vor allem beruhigst du dich jetzt“, zischte Robert.
Dann fuhr er langsam los.
Nach kaum einer Minute hatte uns der Polizeiwagen eingeholt, überholte uns, verlangsamte und zwang uns, stehen zu bleiben.
Einer Bulle sprang heraus und kam zu Roberts Seite.
„Was ist denn, Herr Gendarm!“, fragte mein Mann erstaunt und doch ruhig.
„Routinekontrolle“, murmelte der Mann. „Personalausweis, Wagenpapiere…“
Robert gab ihm die Papiere.
Er entfernte sich.
Als er wiederkam, hatte er sein Handy ans Ohr gepresst und wiederholte: „OK einen Rollstuhl, eine goldene Halskette, ein Diamantring, Bargeld mit mindestens drei hundert Euro-Scheinen.“
„Herr Gendarm, erlauben Sie bitte…“, wollte Robert sich Klarheit verschaffen.
„Bitte verlassen Sie das Auto“, unterbrach ihn der Polizist.
„Wie bitte?“ Robert tat so, als ob er falsch verstanden hätte. Ich begann zu zittern.
„Bitte verlassen Sie Ihr Auto.“ wiederholte der Beamte.
Stumm stiegen wir aus.
Es dauerte eine Stunde. Eine Stunde am Straßenrand. Die drei Beamten durchsuchten alles, nahmen die Sitze heraus, durchsuchten alle Hohlräume des Kofferraums.
Der befehlshabende Inspektor wurde immer schweigsamer.
Nach genau 65 Minuten Schweigen fragte schließlich Robert mit sehr bissiger Stimme: „Haben Sie jetzt gefunden, was Sie suchen, Herr Gendarm?“
Dieser tat so, als ob nichts gehört hätte.
Dann brach er die Suche ab.
Er gab Robert die Papiere wieder und meinte halb enttäuscht, halb sich entschuldigend: „Unser Kollege in Zivil hat uns auf eine falsche Fährte geschickt. Gute Weiterfahrt.“

Wir setzten uns wieder ins Auto.
Robert fuhr los.
„Dein Rollstuhl, den du beim letzten Bruch benutzt hast“, sagte ich.
„Ich weiß.“
„Wir sollten ihn aus dem stillgelegten Fabrikgelände wieder herausholen.“
„Irgendwann mal.“
„Und die Beute von diesmal?“, fragte ich.
„Wo hast du sie denn versteckt?“, war seine Gegenfrage.
„Wie immer um 3 Uhr morgens, nahe am Haus.“
„Wo genau?“
„An der Scheune.“
„In einem Blumenbeet?“
„Ich bitte dich, bei dieser Gärtnerin! Doch nicht in einem Beet!“
„Sondern?“
„Im Kies. Es war ja nicht viel. Nur die goldene Halskette, der Diamantring und das Bargeld.“
„Ich weiß“, wiederholte er.

Zwischen den Hügeln breitete sich das Flussbett aus. Majestätisch durchfloss die Loire das Tal. Alte Dörfer, Kirchen, Burgen flogen an meinem Autofenster vorbei. Sie standen aufgereiht am Flussufer wie bei einem königlichen Empfang. Mir schien, dass sie der Beherrscherin stummen Tribut zollten.
 



 
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