Das bittere Herz
Als sein Vater ihn zum ersten Mal sah, war Marcello zwei Tage alt, und er lag in einem Sarg. Rosalindas Erklärung, dies sei kein gläserner Sarg, sondern ein Brutkasten für zu früh geborene Kinder, verstörte Antonio. „Er sieht ganz blau aus und hat Falten“, stellte er fest. „Seine Arme sind so dünn wie Streichhölzer. Und sieh nur seine Beine. Kaum kräftiger als mein Finger.“
Das war nun also die Frucht seiner Hoffnungen. Sein Sohn, sein Erbe, der Nachfolger für „Dalla & Sohn“, auf den alle voller Sehnsucht gewartet hatten. Ein blaues Strickmützchen von der Größe eines Eierwärmers lag auf seinem winzigen Kopf, auf der kaum handbreiten Brust klebten Kabel, die zu seelenlosen Bildschirmen und Apparaturen führten. Ein Wurm war’s; kein Knabe, in dem Mann heranwuchs. Wie sollte diese Zerbrechlichkeit jemals einen Stein auf den anderen setzen?
„Du kannst ihn streicheln“, sagte Rosalinda. „Vorsichtig.“
Antonio blickte auf seine Hände. Rau waren sie und schwielig, von Sonne und Zement wie mit Leder überzogen. „Er würde aufreißen“, sagte er und wandte sich ab.
Marcello war mit einem Herzfehler geboren worden. Später, wenn er groß genug sein würde, könne er nur mit einem fremden Herzen weiterleben. „Wenn er es bis dahin schafft“, hatte der Arzt gesagt. „Sie müssen für ihn sorgen. Immer.“
Antonio Dalla war ein Mann, dem man nachsagte, er könne die Moniereisen für den Betonguss mit bloßen Händen biegen. Seit er denken konnte, baute er Häuser, die viele Leben überdauerten. Sein Vater hatte es ihm gezeigt, der wiederum hatte die Baufirma von seinem Vater übernommen. „Dalla & Sohn“ stand für Unvergänglichkeit. Seit Generationen für Generationen. Ein ungeschriebener Vertrag, den das Schicksal nun durch eine zu frühe Geburt brach. So muss ich denn bauen, bis meine Hände zu alt sind, eine Schaufel zu halten, dachte Antonio. Weil der Herrgott mir einen Sohn untergeschoben hat, von dem ich mir niemals einen Ruhestand erwarten kann. Ein Kind, das zu nichts taugt.
An diesem Tage beschloss Antonio Dalla, kinderlos zu sein. Mochte Rosalinda sich kümmern, mochte sie Sorge tragen und Mutter sein. Er, Antonio, fühlte sich nicht als Vater. In seinem Herzen hatte er keinen Sohn.
So wuchs Marcello heran in dem Glauben, es gebe nur ihn und die Mutter. Der Mann, den er nur an den Sonntagen oder an den hohen Feiertagen im Haus sah, war ihm fremd. Und obgleich er ahnte, dass da eine Verbindung bestand zwischen ihm und dem Mann, wagte er nie, ihn anzusprechen, hoffte er nie auf eine Berührung, bemühte er sich zu schrumpfen in seiner Anwesenheit. Dass dieser Koloss sein Vater war, wusste er aus den Worten Rosalindas; die Bedeutung des Begriffs jedoch entzog sich ihm.
Jede körperliche Anstrengung erschöpfte Marcello über die Maßen. So lernte er erst im Alter von drei Jahren laufen, als er fünf war, konnte er seinen roten Plastikball gerade so weit werfen, dass er zehn erschöpfende Schritte benötigte, ihn wieder aufzuheben. Doch besaß der Junge eine Gabe, für welche die pure körperliche Kraft unwichtig war: Marcello verstand die Sprache der Schwalben, und er summte die Lieder, die der Wind im Garten vor dem Haus ihm sang. Er sah, wie die Rose wuchs und er erkannte die traurigen Seelen in den fliehenden Wolken. Und all dies wusste er zu malen. Mit Kohle und mit Blei, mit Buntstiften und Wasserfarben erschuf er Bilder, die eine Wirklichkeit in sich trugen, wie sie nur von wenigen wahrgenommen wurde. Seine Bilder berührten jene, die sie sahen, bewirkten ein inneres Zittern, ließen Freude empfinden und Schmerz, Trauer und wiedererweckte Liebe. Rosalinda war stolz auf ihren Sohn; sein Vater jedoch wusste nichts von der Welt, wie Marcello sie sah.
„Er ist klug“, sagte Rosalinda zu ihrem Mann, „seine Seele ist so zart. Vielleicht wird er eines Tages ein berühmter Künstler. Vielleicht ein Architekt, der die schönsten Häuser entwirft.“
Antonios Blick, voller Verachtung, stach sie wie ein Messer. „Wir malen keine Häuser“, sagte er. „Wir bauen sie.“
Er ging in die Taverne, wo die Männer sich am Abend trafen und mit Wein den Staub und den Schweiß aus ihren Mündern wuschen.
„Tonio“, begrüßte ihn Matteo, der den Wein ausschenkte, „du verirrst dich selten zu uns. Seht nur, Männer, wir haben hohen Besuch. Antonio Dalla gibt uns die Ehre! Komm, Tonio, setz dich, trink!“
Antonio nahm das Glas und leerte es in einem Zug. „Gib mir mehr, Matteo. Heute muss ich trinken, damit meine Beine schwach werden, weil ich sonst davonlaufe. Und meine Hände sollen zittern, damit sie nicht zu Fäusten werden.“
Ein Glas nach dem anderen leerte er, und er sprach nicht dabei, und er suchte keines anderen Blick. Nur in sich hineinstarrend saß er da und füllte seine Gedanken mit Trunkenheit. Betäuben sollte sie ihn und ihm Vergessen schenken.
„Ich habe dich nie mehr als ein oder zwei Gläser trinken sehen, mein guter Tonio“, sprach Matteo ihn an. „Es muss ein sehr bitterer Geschmack auf deiner Zunge sein, dass du nun so viel brauchst, um ihn loszuwerden.“
„All dein Wein wird nicht ausreichen, um diese Bitternis wegzuspülen“, meinte Antonio. „Sie liegt ja nicht auf meiner Zunge. Mein Herz schmeckt nach ihr, Matteo, mein Herz.“
Die Jahre ließen den Ort wachsen und die Straßen sich strecken und Brücken über Täler sich spannen. Antonio baute mehr Häuser, als es sein Vater und sein Großvater zuvor getan hatten. Häuser aus Stein und aus Stahl, aus Zement und Holz, die allen Unwettern trotzten und in deren Mauerwerk es keine Risse gab und keine Feuchtigkeit. Als ein Erdbeben die Gegend erschütterte, waren es die Häuser von „Dalla & Sohn“, die stehenblieben; andere, schnell und lieblos errichtete, fielen zusammen, brachen auseinander. Ein Haus muss stark sein, war Antonios Überzeugung, und ein starkes Haus kann nur von einem starken Mann erbaut werden.
Marcello, inzwischen fünfzehn Jahre alt, würde niemals ein starkes Haus bauen. Antonio stand verborgen hinter dem Fenster und beobachtete ihn, wie er im Garten saß, Löcher in die Luft starrte und malte. Langsam war der Junge, schmächtig und zerbrechlich. Stand er auf, keuchte er; tat er drei Schritte, hustete er; bückte er sich, um einen Stein oder einen Käfer oder einen Grashalm zu betrachten, wurde sein Gesicht blau. Die Kinder des Ortes spielten auf der Straße Fußball. Sie jagten einander, lachten, schrieen mit hohen Stimmen: „Marcello, Marcello, komm heraus! Wir brauchen noch einen Dummkopf!“
Stiche waren’s in Antonios Ohren. Worte, die wie Gift in seinen Eingeweiden gärten. Doch waren es nicht die Kinder, denen sein Zorn galt. Die Fäuste zu Hämmern geballt, sah er Marcello sich gemächlich abwenden und keine Miene verziehen. Warum wehrte er sich denn nicht? Warum nahm er denn alles hin? Geh, dachte Antonio voller Wut, geh hin und nimm dir den größten der Schreihälse und schlag ihm ein blaues Auge. Brich ihm den Arm, würge ihn, erschieße ihn, wenn es sein muss! Ich gebe dir Großvaters Revolver!
Doch Marcello tat nichts. Hinters Haus schlich er, wo seine Stifte waren und seine Papierbögen. In welcher Farbe, dachte Antonio, malt man Demütigung? Warum nur, Gott, hast du mir das gegeben? So klein, so schwach – was soll ich denn damit?
In dieser Nacht stand Antonio in Marcellos Zimmer und betrachtete still den Schlafenden. Seine großen Hände öffneten und schlossen sich unaufhörlich, während er den Puls unter der dünnen Haut am Hals des Jungen sah. Ein einziger Griff nur und der Schlag dieses schwachen Herzens wäre zum Erliegen gekommen. Besser wär’s womöglich für alle. Ein krankes Fohlen wird von der Stute verstoßen. Bricht sich ein Hund das Bein, so schläfert man ihn ein. Aus Barmherzigkeit, auch wenn sie grausam scheint. Besser wär’s womöglich, dieses Kind wäre niemals lebend zur Welt gekommen. In einen Sarg hatte man es ja schon gelegt. Warum war es da nicht gestorben? Warum, Gott, nicht diese Barmherzigkeit?
„Sein Herz wird schwächer“, sagte Rosalinda eines Tages, als sie aus dem Krankenhaus in der Stadt kam, in das sie alle paar Wochen mit Marcello zur Untersuchung fahren musste. „Der Arzt sagt, es wächst nicht mit, so wie sein Körper wächst.“
Antonio schwieg.
„Er sagt, Marcello bräuche eine neues Herz“, fuhr Rosalinda fort.
„Ein neues Herz? Wie soll man denn ein neues Herz bekommen?“, fuhr Antonio nun auf. „Man wird mit einem Herzen geboren, und wenn es stillsteht, dann stirbt man. So einfach ist das, Rosalinda, so einfach!“
„Der Arzt sagt, heute kann man auch ein fremdes Herz eingesetzt bekommen. Das wird oft gemacht, man muss nur jemanden finden, dessen Herz passt“, ereiferte Rosalinda sich. „Ein Spenderherz von jemandem, der verunglückt ist vielleicht. Eines, das die richtige Größe hat von jemandem, dessen Blutgruppe die gleiche ist.“
„Das Herz eines Toten?“
„Das Herz eines Menschen, der es nicht mehr braucht. Weil er doch auch mit seinem Herzen stirbt. Marcello aber – er kann leben, wenn er ein solches Herz bekommt!“
„Leben?“, rief Antonio verbittert. „Sag mir, was soll das für ein Leben sein, das einen Toten braucht? Besser soll sterben, was schon längst tot ist, damit die Lebenden lebendig sein können!“
Rosalindas Tränen rührten ihn. Doch war Antonio Dalla kein Mann, der Tränen trocknete, der tröstete. Zu grob waren seine Finger, um über die Wangen einer Frau zu streichen, zu kräftig seine Arme, um einen zarten Leib zu umschließen.
„Hast du denn keine Liebe für deinen Sohn?“, fragte sie.
„Habe ich denn einen Sohn?“, antwortete er und ging.
Als Antonio die Taverne betrat, verstummte das Lachen. „Gib mir Wein, Matteo!“
„Ein Glas oder eine Flasche? Wie soll’s denn heute sein, Tonio?“
„Gib mir ein Glas und stell keine Fragen.“
Antonio trank und schaute in die Gesichter der anderen Männer. Still waren sie, nur ihre Blicke waren laut. „Was ist – hat euch Matteos Essig die Zungen verätzt?“
Nur einer, dessen Augen bereits trüb und dessen Zunge schwer war, lachte Antonio an. „Wir haben gerade über deinen Sohn gesprochen. Dein Marcello – sag, warum sieht man ihn nie mit den anderen Burschen und den Mädchen im Ort? Allein ist er Tag für Tag. Hat keinen Freund und keine Braut, dein Marcello. Sitzt immer nur im Haus, als würde deine Frau ihn hüten wie einen Schatz, den niemand anrühren darf. Sag, Tonio: Ist er denn aus purem Gold, dein Sohn?“
„Was willst du mir sagen, Francesco?“
„Nichts. Nichts will sich sagen, Tonio. Wir fragen uns nur, wie’s weitergehen soll. Du weißt, die meisten von uns stehen bei dir in Brot und Arbeit. Und du wirst eines Tages nicht weiterarbeiten können. Was dann, Tonio? Was wird dann aus unseren Söhnen?“
Antonio nahm einen kräftigen Schluck des bitteres Weines. „Dann wird ein anderer euch und euren Söhnen Arbeit geben.“
„Aber dein Sohn wird es nicht sein. Einer wie er ist ja kein Chef.“
„Pass auf, was du sagst, Francesco“, meinte Antonio. „Ich gebe dir nicht das Recht, über meinen Sohn zu reden.“
„Dein Sohn!“ Francesco lachte. „Es heißt, er sei ein Krüppel!“
Mit einem Satz war Antonio bei ihm. Seine Hand umklammerte Francescos Hals, das nur noch ein Röcheln aus dessen Mund kam. „Niemand nennt meinen Sohn einen Krüppel!“
Francesco versuchte, der Zange zu entkommen, doch seine harten Schläge in Antonios Bauch verpufften wie die eines Kindes.
„Was, wenn ich dir den Hals umdrehe? Schwingst du dann noch so große Reden, Francesco? Wage nie mehr, den Namen meines Sohnes in den Mund zu nehmen, hörst du! Und ihr anderen, ihr seid auch still!“
Er ließ den röchelnden Francesco fallen und ging ohne ein weiteres Wort. Wut verspürte er und Scham. Zum Gespött wurde er ja, zum Hanswurst. Doch hatten sie nicht recht, wenn sie sagten, der Junge sei ein Krüppel? Was unterschied ihn, dessen Herz so schwach war, denn von einem, dem ein Bein fehlte oder ein Arm? Treten konnten beide nicht und auch nicht zuschlagen. Vorneweg laufen nicht und keine Steine heben.
Und doch – es war sein Sohn. Niemand hatte das Recht, sich über ihn lustig zu machen. Mein Fleisch und Blut ist er, dachte Antonio, dagegen kann ich nichts tun. Und ob er nun das Herz eines Ochsen hat oder das eines Mäuserichs, so ist es doch auch mein Herz. Wenn nur das Leben einen Platz hätte für einen, der mit den Schwalben spricht und mit dem Wind singt; für einen, der mehr Geist ist denn Körper, mehr Denken denn Tun. Wenn nur ich einen Platz für so einen hätte.
Das Haus lag dunkel und still. Antonio hörte den Atem des Jungen, der zu flach ging und zu schnell. Er sah im Mondschein Marcellos Gesicht, welches in seiner durchscheinenden Blässe wirkte wie das eines der Engel, die von den bunt bemalten Fenstern der Kirche Santa Ana auf die Betenden herablächelten. So rein und verletzlich, die Haut wie Seidenpapier, die Wimpern schwarz und lang unter einer hohen Stirn.
Kann denn ein Engel Schande bringen?, dachte Antonio. Reicht denn ein einziges Herz, um mit seiner Schwäche alle Hoffnung zunichte zu machen, die aus alter Tradition geboren ist? Wie kann ein zartes Wesen, das einem gläsernen Sarg entkommen ist, eine Welt aus Steinen und Beton in Schutt und Asche legen? Das darf nicht sein! Die Familie Dalla ist eine starke. Und sie soll bestehen in alle Ewigkeit!
Er öffnete seine Hand, im fahlen Licht sah er sie zittern. Langsam näherte sich das Grobe dem Zarten, zögerte, wich zurück, wagte sich erneut vor. Und dann, zum ersten Mal, berührte Antonio Dalla seinen Sohn Marcello. Wie ein Hauch nur legte sich sein Finger auf die Wange des Jungen, strich langsam darüber. Sie riss nicht auf.
An seinem siebzehnten Geburtstag ließ Marcello seinen Stift fallen und rutschte vornüber von der Bank im Garten. Auf dem Boden blieb er liegen und regte sich nicht, atmete nur schwer und bekam ein blaues Gesicht. Der Arzt sagte Rosalinda, nun bliebe ihr nichts mehr als zu beten. „Nur ein Spenderherz kann ihn noch retten. Sonst gibt es keine Hoffnung mehr.“
Antonio saß auf eben jener Bank im Garten, auf der er beinahe noch Marcellos Wärme zu spüren glaubte, und wartete. Darauf, dass die Sonne unterging. Darauf, dass es vorbei war. In der Hand hielt er die Bilder, die Marcello gemalt hatte. So fein, mit all seinen Unebenheiten und Adern gezeichnet, hatte Antonio noch nie einen Stein gesehen. Auch noch keinen solchen Grasalm, durch dessen Grün das Tageslicht schimmerte, sodass er wie lebendig wirkte. Rosalinda. So schön, in all den Jahren auf Papier gebannt, jedes weiß gewachsene Haar war festgehalten, jede Falte in ihrem Gesicht und auch jedes Lachen, das wohl nur Marcello allein zu sehen bekommen hatte. Und dann er selbst, Antonio. Wie grimmig er auf den Zeichnungen wirkte. Besaßen seine Augen denn wirklich so wenig Güte? Waren denn seine Lippen in Wahrheit so verhärtet? Wie ein Fremder stand er da vor dem Haus, welches sein Großvater erbaut hatte, und nur die hellen Fenster wirkten freundlich, die offene Tür wie eine Einladung. Dahinter jedoch war es finster. Das Dach von der Sonne beschienen, die Grundmauern zeigten selbst gemalt noch Unerschütterlichkeit. Doch er, der Mann davor, sah aus wie einer, dessen Fundament zerbrochen war. Starr wirkte er, ein Toter in einer Welt voller Leben.
„Nun ist es Zeit“, sagte Antonio leise zu sich selbst. „Dem muss ein Ende gemacht werden, damit es einen Anfang geben kann.“
Im Krankenhaus stand er vor dem Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Rot wie starker Wein starrte das narbige Gesicht des Mondes ihn an, füllte den Himmel beinahe ganz aus und verhöhnte ihn. „Ewig bin ich“, schien der Mond zu sagen, „und du nur ein Augenblick. Aus Stein bin ich und du nur aus Fleisch. Wir beide, du und ich, sind nicht vom selben Blut!“
Antonio antwortete nicht. Er hörte die rastlosen Zikaden und roch das Harz der nahen Pinien, spürte seine Gedanken so schwer werden wie das Gewicht in seiner Jackentasche, welches ihn zu Boden ringen wollte.
Dies ist nun also das Ende, dachte er. Hier endet die stolze Familie Dalla. Kein Haus mehr, dessen Grundstein diesen ehrenvollen Namen eingestanzt bekommt, kein Fundament, auf dessen Unerschütterlichkeit noch Kinder und Kindeskinder vertrauen können.
Der Revolver in seiner Tasche wurde schwerer. Doch er, Antonio Dalla, war stärker! Er konnte Eisen mit den bloßen Händen biegen.
Er folgte dem Arzt in das Zimmer, in dem Marcello von der Gewichtigkeit eines zu schwachen Herzens niedergerungen wurde.
„Gibt es Hoffnung auf ein starkes Herz?“, fragte er leise den Arzt. „Eines, mit dem er gesund wird?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „So schnell, wie Ihr Sohn eines braucht, wird sich nun keines mehr finden lassen.“
„Wie schnell müsste es gefunden werden?“
„Ein Tag noch, vielleicht zwei. Länger nicht. Nehmen Sie Abschied.“
Rosalindas Schultern bebten, sie hatte das Gesicht in der Decke vergraben, die den schrumpfenden Leib des Jungen unter sich nur erahnen ließ. Als sie Antonio hinter sich spürte, hob sie den Kopf. „Er stirbt“, sagte sie. „Dein Sohn stirbt.“
„Leidet er Schmerzen?“
„Er ist ohne Bewusstsein. Und doch leidet er. Ich spüre es. Spürst du es denn nicht, Antonio? Er ist doch dein Sohn.“
Er sah ihre Tränen, sah ihr Zittern. Zögernd näherte sich seine Hand ihrem Gesicht. Er fing ihre Tränen auf, sie machten seine Finger zarter; er umarmte sie und drückte sie an sich, die Schwere floh aus seiner Seele. Frei war er nun. Frei und besänftigt, als wäre er von einer Krankheit genesen.
In seiner Tasche spürte er den Revolver.
„Sag mir, Antonio: Hast du ihn denn nie geliebt? Spürt man denn keine Liebe im Herzen für einen Sohn, dessen Herz einen anderen Takt schlägt?“
Seine Hand fuhr in die Tasche, ertastete den kalten Stahl.
„Wie viele Qualen muss er erleiden, um dein Mitleid zu bekommen, Antonio? Dein Segen war doch alles, wonach er sich je gesehnt hat, die Liebe seines Vaters, deine Liebe!“
Antonio fasste den Griff den Revolvers fester. Mit der anderen Hand strich er über Rosalindas Haar, in welches sich kostbare Silberfäden gewoben hatten, über ihre Wangen, ihren Hals. „Ich liebe dich“, sagte er. „Dich und Marcello, meinen Sohn. Immer habe ich ihn geliebt, vom Tag seiner Geburt an.“
„Und doch lässt du ihn leiden.“ Ihre Stimme brach in einem Schluchzen.
„Nicht länger, Rosalinda, nicht länger. Sein Leiden soll beendet sein. Für immer.“
Der Arzt betrat das Zimmer, sah die Waffe, die auf den Jungen gerichtet war. „Bei Gott dem Allmächtigen!“, rief er. „Versündigen Sie sich nicht!“
„Wenn sein Herz die Last des Lebens nicht erträgt, dann soll er meines haben“, sagte Antonio ganz ruhig. „Mein Herz ist stark und endlich frei von jeder Bitternis. In seiner Brust soll es schlagen. Dies ist mein Wunsch, mein Testament. Sie sind mein Zeuge. Sie und der Schöpfer allen Lebens.“
Antonio hob den Revolver, der nun ganz leicht war, hielt ihn an seine Stirn. Er sah des Arztes verstörtes Gesicht, er hörte Rosalindas Aufschrei, er spürte die Liebe seines Sohnes. Mit den Schwalben lief er, schneller als der Wind, dessen Lieder er sang. „Mein Herz für Marcello“, sagte Antonio Dalla. Er schoss.
Als sein Vater ihn zum ersten Mal sah, war Marcello zwei Tage alt, und er lag in einem Sarg. Rosalindas Erklärung, dies sei kein gläserner Sarg, sondern ein Brutkasten für zu früh geborene Kinder, verstörte Antonio. „Er sieht ganz blau aus und hat Falten“, stellte er fest. „Seine Arme sind so dünn wie Streichhölzer. Und sieh nur seine Beine. Kaum kräftiger als mein Finger.“
Das war nun also die Frucht seiner Hoffnungen. Sein Sohn, sein Erbe, der Nachfolger für „Dalla & Sohn“, auf den alle voller Sehnsucht gewartet hatten. Ein blaues Strickmützchen von der Größe eines Eierwärmers lag auf seinem winzigen Kopf, auf der kaum handbreiten Brust klebten Kabel, die zu seelenlosen Bildschirmen und Apparaturen führten. Ein Wurm war’s; kein Knabe, in dem Mann heranwuchs. Wie sollte diese Zerbrechlichkeit jemals einen Stein auf den anderen setzen?
„Du kannst ihn streicheln“, sagte Rosalinda. „Vorsichtig.“
Antonio blickte auf seine Hände. Rau waren sie und schwielig, von Sonne und Zement wie mit Leder überzogen. „Er würde aufreißen“, sagte er und wandte sich ab.
Marcello war mit einem Herzfehler geboren worden. Später, wenn er groß genug sein würde, könne er nur mit einem fremden Herzen weiterleben. „Wenn er es bis dahin schafft“, hatte der Arzt gesagt. „Sie müssen für ihn sorgen. Immer.“
Antonio Dalla war ein Mann, dem man nachsagte, er könne die Moniereisen für den Betonguss mit bloßen Händen biegen. Seit er denken konnte, baute er Häuser, die viele Leben überdauerten. Sein Vater hatte es ihm gezeigt, der wiederum hatte die Baufirma von seinem Vater übernommen. „Dalla & Sohn“ stand für Unvergänglichkeit. Seit Generationen für Generationen. Ein ungeschriebener Vertrag, den das Schicksal nun durch eine zu frühe Geburt brach. So muss ich denn bauen, bis meine Hände zu alt sind, eine Schaufel zu halten, dachte Antonio. Weil der Herrgott mir einen Sohn untergeschoben hat, von dem ich mir niemals einen Ruhestand erwarten kann. Ein Kind, das zu nichts taugt.
An diesem Tage beschloss Antonio Dalla, kinderlos zu sein. Mochte Rosalinda sich kümmern, mochte sie Sorge tragen und Mutter sein. Er, Antonio, fühlte sich nicht als Vater. In seinem Herzen hatte er keinen Sohn.
So wuchs Marcello heran in dem Glauben, es gebe nur ihn und die Mutter. Der Mann, den er nur an den Sonntagen oder an den hohen Feiertagen im Haus sah, war ihm fremd. Und obgleich er ahnte, dass da eine Verbindung bestand zwischen ihm und dem Mann, wagte er nie, ihn anzusprechen, hoffte er nie auf eine Berührung, bemühte er sich zu schrumpfen in seiner Anwesenheit. Dass dieser Koloss sein Vater war, wusste er aus den Worten Rosalindas; die Bedeutung des Begriffs jedoch entzog sich ihm.
Jede körperliche Anstrengung erschöpfte Marcello über die Maßen. So lernte er erst im Alter von drei Jahren laufen, als er fünf war, konnte er seinen roten Plastikball gerade so weit werfen, dass er zehn erschöpfende Schritte benötigte, ihn wieder aufzuheben. Doch besaß der Junge eine Gabe, für welche die pure körperliche Kraft unwichtig war: Marcello verstand die Sprache der Schwalben, und er summte die Lieder, die der Wind im Garten vor dem Haus ihm sang. Er sah, wie die Rose wuchs und er erkannte die traurigen Seelen in den fliehenden Wolken. Und all dies wusste er zu malen. Mit Kohle und mit Blei, mit Buntstiften und Wasserfarben erschuf er Bilder, die eine Wirklichkeit in sich trugen, wie sie nur von wenigen wahrgenommen wurde. Seine Bilder berührten jene, die sie sahen, bewirkten ein inneres Zittern, ließen Freude empfinden und Schmerz, Trauer und wiedererweckte Liebe. Rosalinda war stolz auf ihren Sohn; sein Vater jedoch wusste nichts von der Welt, wie Marcello sie sah.
„Er ist klug“, sagte Rosalinda zu ihrem Mann, „seine Seele ist so zart. Vielleicht wird er eines Tages ein berühmter Künstler. Vielleicht ein Architekt, der die schönsten Häuser entwirft.“
Antonios Blick, voller Verachtung, stach sie wie ein Messer. „Wir malen keine Häuser“, sagte er. „Wir bauen sie.“
Er ging in die Taverne, wo die Männer sich am Abend trafen und mit Wein den Staub und den Schweiß aus ihren Mündern wuschen.
„Tonio“, begrüßte ihn Matteo, der den Wein ausschenkte, „du verirrst dich selten zu uns. Seht nur, Männer, wir haben hohen Besuch. Antonio Dalla gibt uns die Ehre! Komm, Tonio, setz dich, trink!“
Antonio nahm das Glas und leerte es in einem Zug. „Gib mir mehr, Matteo. Heute muss ich trinken, damit meine Beine schwach werden, weil ich sonst davonlaufe. Und meine Hände sollen zittern, damit sie nicht zu Fäusten werden.“
Ein Glas nach dem anderen leerte er, und er sprach nicht dabei, und er suchte keines anderen Blick. Nur in sich hineinstarrend saß er da und füllte seine Gedanken mit Trunkenheit. Betäuben sollte sie ihn und ihm Vergessen schenken.
„Ich habe dich nie mehr als ein oder zwei Gläser trinken sehen, mein guter Tonio“, sprach Matteo ihn an. „Es muss ein sehr bitterer Geschmack auf deiner Zunge sein, dass du nun so viel brauchst, um ihn loszuwerden.“
„All dein Wein wird nicht ausreichen, um diese Bitternis wegzuspülen“, meinte Antonio. „Sie liegt ja nicht auf meiner Zunge. Mein Herz schmeckt nach ihr, Matteo, mein Herz.“
Die Jahre ließen den Ort wachsen und die Straßen sich strecken und Brücken über Täler sich spannen. Antonio baute mehr Häuser, als es sein Vater und sein Großvater zuvor getan hatten. Häuser aus Stein und aus Stahl, aus Zement und Holz, die allen Unwettern trotzten und in deren Mauerwerk es keine Risse gab und keine Feuchtigkeit. Als ein Erdbeben die Gegend erschütterte, waren es die Häuser von „Dalla & Sohn“, die stehenblieben; andere, schnell und lieblos errichtete, fielen zusammen, brachen auseinander. Ein Haus muss stark sein, war Antonios Überzeugung, und ein starkes Haus kann nur von einem starken Mann erbaut werden.
Marcello, inzwischen fünfzehn Jahre alt, würde niemals ein starkes Haus bauen. Antonio stand verborgen hinter dem Fenster und beobachtete ihn, wie er im Garten saß, Löcher in die Luft starrte und malte. Langsam war der Junge, schmächtig und zerbrechlich. Stand er auf, keuchte er; tat er drei Schritte, hustete er; bückte er sich, um einen Stein oder einen Käfer oder einen Grashalm zu betrachten, wurde sein Gesicht blau. Die Kinder des Ortes spielten auf der Straße Fußball. Sie jagten einander, lachten, schrieen mit hohen Stimmen: „Marcello, Marcello, komm heraus! Wir brauchen noch einen Dummkopf!“
Stiche waren’s in Antonios Ohren. Worte, die wie Gift in seinen Eingeweiden gärten. Doch waren es nicht die Kinder, denen sein Zorn galt. Die Fäuste zu Hämmern geballt, sah er Marcello sich gemächlich abwenden und keine Miene verziehen. Warum wehrte er sich denn nicht? Warum nahm er denn alles hin? Geh, dachte Antonio voller Wut, geh hin und nimm dir den größten der Schreihälse und schlag ihm ein blaues Auge. Brich ihm den Arm, würge ihn, erschieße ihn, wenn es sein muss! Ich gebe dir Großvaters Revolver!
Doch Marcello tat nichts. Hinters Haus schlich er, wo seine Stifte waren und seine Papierbögen. In welcher Farbe, dachte Antonio, malt man Demütigung? Warum nur, Gott, hast du mir das gegeben? So klein, so schwach – was soll ich denn damit?
In dieser Nacht stand Antonio in Marcellos Zimmer und betrachtete still den Schlafenden. Seine großen Hände öffneten und schlossen sich unaufhörlich, während er den Puls unter der dünnen Haut am Hals des Jungen sah. Ein einziger Griff nur und der Schlag dieses schwachen Herzens wäre zum Erliegen gekommen. Besser wär’s womöglich für alle. Ein krankes Fohlen wird von der Stute verstoßen. Bricht sich ein Hund das Bein, so schläfert man ihn ein. Aus Barmherzigkeit, auch wenn sie grausam scheint. Besser wär’s womöglich, dieses Kind wäre niemals lebend zur Welt gekommen. In einen Sarg hatte man es ja schon gelegt. Warum war es da nicht gestorben? Warum, Gott, nicht diese Barmherzigkeit?
„Sein Herz wird schwächer“, sagte Rosalinda eines Tages, als sie aus dem Krankenhaus in der Stadt kam, in das sie alle paar Wochen mit Marcello zur Untersuchung fahren musste. „Der Arzt sagt, es wächst nicht mit, so wie sein Körper wächst.“
Antonio schwieg.
„Er sagt, Marcello bräuche eine neues Herz“, fuhr Rosalinda fort.
„Ein neues Herz? Wie soll man denn ein neues Herz bekommen?“, fuhr Antonio nun auf. „Man wird mit einem Herzen geboren, und wenn es stillsteht, dann stirbt man. So einfach ist das, Rosalinda, so einfach!“
„Der Arzt sagt, heute kann man auch ein fremdes Herz eingesetzt bekommen. Das wird oft gemacht, man muss nur jemanden finden, dessen Herz passt“, ereiferte Rosalinda sich. „Ein Spenderherz von jemandem, der verunglückt ist vielleicht. Eines, das die richtige Größe hat von jemandem, dessen Blutgruppe die gleiche ist.“
„Das Herz eines Toten?“
„Das Herz eines Menschen, der es nicht mehr braucht. Weil er doch auch mit seinem Herzen stirbt. Marcello aber – er kann leben, wenn er ein solches Herz bekommt!“
„Leben?“, rief Antonio verbittert. „Sag mir, was soll das für ein Leben sein, das einen Toten braucht? Besser soll sterben, was schon längst tot ist, damit die Lebenden lebendig sein können!“
Rosalindas Tränen rührten ihn. Doch war Antonio Dalla kein Mann, der Tränen trocknete, der tröstete. Zu grob waren seine Finger, um über die Wangen einer Frau zu streichen, zu kräftig seine Arme, um einen zarten Leib zu umschließen.
„Hast du denn keine Liebe für deinen Sohn?“, fragte sie.
„Habe ich denn einen Sohn?“, antwortete er und ging.
Als Antonio die Taverne betrat, verstummte das Lachen. „Gib mir Wein, Matteo!“
„Ein Glas oder eine Flasche? Wie soll’s denn heute sein, Tonio?“
„Gib mir ein Glas und stell keine Fragen.“
Antonio trank und schaute in die Gesichter der anderen Männer. Still waren sie, nur ihre Blicke waren laut. „Was ist – hat euch Matteos Essig die Zungen verätzt?“
Nur einer, dessen Augen bereits trüb und dessen Zunge schwer war, lachte Antonio an. „Wir haben gerade über deinen Sohn gesprochen. Dein Marcello – sag, warum sieht man ihn nie mit den anderen Burschen und den Mädchen im Ort? Allein ist er Tag für Tag. Hat keinen Freund und keine Braut, dein Marcello. Sitzt immer nur im Haus, als würde deine Frau ihn hüten wie einen Schatz, den niemand anrühren darf. Sag, Tonio: Ist er denn aus purem Gold, dein Sohn?“
„Was willst du mir sagen, Francesco?“
„Nichts. Nichts will sich sagen, Tonio. Wir fragen uns nur, wie’s weitergehen soll. Du weißt, die meisten von uns stehen bei dir in Brot und Arbeit. Und du wirst eines Tages nicht weiterarbeiten können. Was dann, Tonio? Was wird dann aus unseren Söhnen?“
Antonio nahm einen kräftigen Schluck des bitteres Weines. „Dann wird ein anderer euch und euren Söhnen Arbeit geben.“
„Aber dein Sohn wird es nicht sein. Einer wie er ist ja kein Chef.“
„Pass auf, was du sagst, Francesco“, meinte Antonio. „Ich gebe dir nicht das Recht, über meinen Sohn zu reden.“
„Dein Sohn!“ Francesco lachte. „Es heißt, er sei ein Krüppel!“
Mit einem Satz war Antonio bei ihm. Seine Hand umklammerte Francescos Hals, das nur noch ein Röcheln aus dessen Mund kam. „Niemand nennt meinen Sohn einen Krüppel!“
Francesco versuchte, der Zange zu entkommen, doch seine harten Schläge in Antonios Bauch verpufften wie die eines Kindes.
„Was, wenn ich dir den Hals umdrehe? Schwingst du dann noch so große Reden, Francesco? Wage nie mehr, den Namen meines Sohnes in den Mund zu nehmen, hörst du! Und ihr anderen, ihr seid auch still!“
Er ließ den röchelnden Francesco fallen und ging ohne ein weiteres Wort. Wut verspürte er und Scham. Zum Gespött wurde er ja, zum Hanswurst. Doch hatten sie nicht recht, wenn sie sagten, der Junge sei ein Krüppel? Was unterschied ihn, dessen Herz so schwach war, denn von einem, dem ein Bein fehlte oder ein Arm? Treten konnten beide nicht und auch nicht zuschlagen. Vorneweg laufen nicht und keine Steine heben.
Und doch – es war sein Sohn. Niemand hatte das Recht, sich über ihn lustig zu machen. Mein Fleisch und Blut ist er, dachte Antonio, dagegen kann ich nichts tun. Und ob er nun das Herz eines Ochsen hat oder das eines Mäuserichs, so ist es doch auch mein Herz. Wenn nur das Leben einen Platz hätte für einen, der mit den Schwalben spricht und mit dem Wind singt; für einen, der mehr Geist ist denn Körper, mehr Denken denn Tun. Wenn nur ich einen Platz für so einen hätte.
Das Haus lag dunkel und still. Antonio hörte den Atem des Jungen, der zu flach ging und zu schnell. Er sah im Mondschein Marcellos Gesicht, welches in seiner durchscheinenden Blässe wirkte wie das eines der Engel, die von den bunt bemalten Fenstern der Kirche Santa Ana auf die Betenden herablächelten. So rein und verletzlich, die Haut wie Seidenpapier, die Wimpern schwarz und lang unter einer hohen Stirn.
Kann denn ein Engel Schande bringen?, dachte Antonio. Reicht denn ein einziges Herz, um mit seiner Schwäche alle Hoffnung zunichte zu machen, die aus alter Tradition geboren ist? Wie kann ein zartes Wesen, das einem gläsernen Sarg entkommen ist, eine Welt aus Steinen und Beton in Schutt und Asche legen? Das darf nicht sein! Die Familie Dalla ist eine starke. Und sie soll bestehen in alle Ewigkeit!
Er öffnete seine Hand, im fahlen Licht sah er sie zittern. Langsam näherte sich das Grobe dem Zarten, zögerte, wich zurück, wagte sich erneut vor. Und dann, zum ersten Mal, berührte Antonio Dalla seinen Sohn Marcello. Wie ein Hauch nur legte sich sein Finger auf die Wange des Jungen, strich langsam darüber. Sie riss nicht auf.
An seinem siebzehnten Geburtstag ließ Marcello seinen Stift fallen und rutschte vornüber von der Bank im Garten. Auf dem Boden blieb er liegen und regte sich nicht, atmete nur schwer und bekam ein blaues Gesicht. Der Arzt sagte Rosalinda, nun bliebe ihr nichts mehr als zu beten. „Nur ein Spenderherz kann ihn noch retten. Sonst gibt es keine Hoffnung mehr.“
Antonio saß auf eben jener Bank im Garten, auf der er beinahe noch Marcellos Wärme zu spüren glaubte, und wartete. Darauf, dass die Sonne unterging. Darauf, dass es vorbei war. In der Hand hielt er die Bilder, die Marcello gemalt hatte. So fein, mit all seinen Unebenheiten und Adern gezeichnet, hatte Antonio noch nie einen Stein gesehen. Auch noch keinen solchen Grasalm, durch dessen Grün das Tageslicht schimmerte, sodass er wie lebendig wirkte. Rosalinda. So schön, in all den Jahren auf Papier gebannt, jedes weiß gewachsene Haar war festgehalten, jede Falte in ihrem Gesicht und auch jedes Lachen, das wohl nur Marcello allein zu sehen bekommen hatte. Und dann er selbst, Antonio. Wie grimmig er auf den Zeichnungen wirkte. Besaßen seine Augen denn wirklich so wenig Güte? Waren denn seine Lippen in Wahrheit so verhärtet? Wie ein Fremder stand er da vor dem Haus, welches sein Großvater erbaut hatte, und nur die hellen Fenster wirkten freundlich, die offene Tür wie eine Einladung. Dahinter jedoch war es finster. Das Dach von der Sonne beschienen, die Grundmauern zeigten selbst gemalt noch Unerschütterlichkeit. Doch er, der Mann davor, sah aus wie einer, dessen Fundament zerbrochen war. Starr wirkte er, ein Toter in einer Welt voller Leben.
„Nun ist es Zeit“, sagte Antonio leise zu sich selbst. „Dem muss ein Ende gemacht werden, damit es einen Anfang geben kann.“
Im Krankenhaus stand er vor dem Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Rot wie starker Wein starrte das narbige Gesicht des Mondes ihn an, füllte den Himmel beinahe ganz aus und verhöhnte ihn. „Ewig bin ich“, schien der Mond zu sagen, „und du nur ein Augenblick. Aus Stein bin ich und du nur aus Fleisch. Wir beide, du und ich, sind nicht vom selben Blut!“
Antonio antwortete nicht. Er hörte die rastlosen Zikaden und roch das Harz der nahen Pinien, spürte seine Gedanken so schwer werden wie das Gewicht in seiner Jackentasche, welches ihn zu Boden ringen wollte.
Dies ist nun also das Ende, dachte er. Hier endet die stolze Familie Dalla. Kein Haus mehr, dessen Grundstein diesen ehrenvollen Namen eingestanzt bekommt, kein Fundament, auf dessen Unerschütterlichkeit noch Kinder und Kindeskinder vertrauen können.
Der Revolver in seiner Tasche wurde schwerer. Doch er, Antonio Dalla, war stärker! Er konnte Eisen mit den bloßen Händen biegen.
Er folgte dem Arzt in das Zimmer, in dem Marcello von der Gewichtigkeit eines zu schwachen Herzens niedergerungen wurde.
„Gibt es Hoffnung auf ein starkes Herz?“, fragte er leise den Arzt. „Eines, mit dem er gesund wird?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „So schnell, wie Ihr Sohn eines braucht, wird sich nun keines mehr finden lassen.“
„Wie schnell müsste es gefunden werden?“
„Ein Tag noch, vielleicht zwei. Länger nicht. Nehmen Sie Abschied.“
Rosalindas Schultern bebten, sie hatte das Gesicht in der Decke vergraben, die den schrumpfenden Leib des Jungen unter sich nur erahnen ließ. Als sie Antonio hinter sich spürte, hob sie den Kopf. „Er stirbt“, sagte sie. „Dein Sohn stirbt.“
„Leidet er Schmerzen?“
„Er ist ohne Bewusstsein. Und doch leidet er. Ich spüre es. Spürst du es denn nicht, Antonio? Er ist doch dein Sohn.“
Er sah ihre Tränen, sah ihr Zittern. Zögernd näherte sich seine Hand ihrem Gesicht. Er fing ihre Tränen auf, sie machten seine Finger zarter; er umarmte sie und drückte sie an sich, die Schwere floh aus seiner Seele. Frei war er nun. Frei und besänftigt, als wäre er von einer Krankheit genesen.
In seiner Tasche spürte er den Revolver.
„Sag mir, Antonio: Hast du ihn denn nie geliebt? Spürt man denn keine Liebe im Herzen für einen Sohn, dessen Herz einen anderen Takt schlägt?“
Seine Hand fuhr in die Tasche, ertastete den kalten Stahl.
„Wie viele Qualen muss er erleiden, um dein Mitleid zu bekommen, Antonio? Dein Segen war doch alles, wonach er sich je gesehnt hat, die Liebe seines Vaters, deine Liebe!“
Antonio fasste den Griff den Revolvers fester. Mit der anderen Hand strich er über Rosalindas Haar, in welches sich kostbare Silberfäden gewoben hatten, über ihre Wangen, ihren Hals. „Ich liebe dich“, sagte er. „Dich und Marcello, meinen Sohn. Immer habe ich ihn geliebt, vom Tag seiner Geburt an.“
„Und doch lässt du ihn leiden.“ Ihre Stimme brach in einem Schluchzen.
„Nicht länger, Rosalinda, nicht länger. Sein Leiden soll beendet sein. Für immer.“
Der Arzt betrat das Zimmer, sah die Waffe, die auf den Jungen gerichtet war. „Bei Gott dem Allmächtigen!“, rief er. „Versündigen Sie sich nicht!“
„Wenn sein Herz die Last des Lebens nicht erträgt, dann soll er meines haben“, sagte Antonio ganz ruhig. „Mein Herz ist stark und endlich frei von jeder Bitternis. In seiner Brust soll es schlagen. Dies ist mein Wunsch, mein Testament. Sie sind mein Zeuge. Sie und der Schöpfer allen Lebens.“
Antonio hob den Revolver, der nun ganz leicht war, hielt ihn an seine Stirn. Er sah des Arztes verstörtes Gesicht, er hörte Rosalindas Aufschrei, er spürte die Liebe seines Sohnes. Mit den Schwalben lief er, schneller als der Wind, dessen Lieder er sang. „Mein Herz für Marcello“, sagte Antonio Dalla. Er schoss.