Anonym
Gast
Aktuelle Fassung (28.3.2018) weiter hinten Thread
Ines lief ins Badezimmer und ließ sich eiskaltes Wasser über die Pulsadern laufen. Ihr dünnes Long-Shirt klebte am Körper. Sie atmete durch den Mund und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und wusch die blaue Farbe ab, die sich auf ihren Händen und Armen verteilt hatte. Ein blauer Strudel strömte in den Abfluss. Sie erahnte den schwarzen Schlund, der unter der Öffnung lauerte. Aus dem Dachfenster ihrer Atelierwohnung schaute sie in den großstädtischen Hochsommerhimmel. Harmlose Wölkchen verzierten das Himmelsblau.
Am Morgen war sie ganz früh vor der Hitze ins Theresienheim gefahren. Ihre ältere Schwester saß im Garten auf einem Korbstuhl. Diagnose Alzheimer mit dreiundvierzig Jahren. Sie zog sich einen Hocker heran und hielt ihre Hand.
„Was machst du heute?“, fragte Ines.
„Hallo Mama!“, rief ihre Schwester und rutschte auf dem knarzenden Stuhl herum.
„Ich bin nicht Mama, ich bin Ines, deine Schwester.“
„Mama, wo warst du so lange?“
„Ich bin Ines, und ich komme jeden Tag zu dir.“ Sie strich ihr über die Wange.
„Gestern war ich im Zirkus“, stammelte die Schwester.
„War es schön?“
„Was war schön?“
„Der Zirkus.“
„Ich war lange nicht im Zirkus.“
Ines war aufgestanden und hatte ihrer Schwester ein Glas mit Saft gereicht.
Nun eilte sie barfuß auf dem kühlen Steinboden zurück ins schwüle Atelier. Eine großformatige, auf Keilrahmen aufgezogene, Leinwand lag auf dem Boden und glänzte nass. Ultramarin, Preußischblau, Bergblau waren angerührt in Töpfen und Schalen auf dem Boden verteilt, versetzt mit feinkörnigem Sand und kaltem bröckeligem Kaffeesatz. Ines nahm den Rundpinsel in die Hand und verteilte die Farbe, dickflüssig und üppig. Mit einer Rakel verstrich sie die pastöse Paste. Sie ritzte Zeichen mit dem Griff des Pinsels in die noch feuchte Farbe, verwischte alles wieder. Verletzte die Leinwand. Schnitt sie. Malte neue Farbschichten. Die Leinwand ächzte unter der Last. Der Geruch nach Terpentin und Firnis lag wie eine Nebelwolke im Raum.
Sie hatte ihren eigenen Stil entwickelt. Nächste Woche sollte eine Werkschau in der angesagten Galerie ‚Paul Silber‘ eröffnet werden.
Ines holte die Flasche mit der schwarzen Tusche aus dem Regal. Sie glitt in ihrer verschwitzten Hand hin und her. Plötzlich verschüttete sie Flüssigkeit. Wie Quecksilber rollte sie glitzernd über das Bild, bevor sie hineinrutschte in das Gewebe, versackte und einen zerfaserten tiefschwarzen Fleck hinterließ.
Sie hielt inne.
Der Klecks wurde zu einer Hand. Sie schälte sich aus der Leinwand heraus, dunkel und fordernd, und griff nach ihren Waden. Erst packte sie fest zu, lockerte anschließend den Griff und streichelte über ihre Gänsehaut.
Ines schrie auf.
„Geh weg, ich will dich nicht mehr sehen und spüren! Immer wieder kommst du, in jedes Bild!“
Sie lief keuchend und röchelnd im Atelier auf und ab und stolperte zurück zum Bild. Sofort kam die Hand hervorgeschossen und angelte nach ihr. Sie goss die blaue Farbe, die noch im Eimer schwamm, über die Leinwand. Die Hand befreite sich und wollte sie wieder greifen. Ines stieß den Atem aus. Schnaufte. Kälte breitete sich in ihren Beinen aus. Die Füße kribbelten.
Der Deckenventilator gab ein gleichmäßiges Geräusch von sich. Ein Quietschen, wie ein nicht geöltes Scharnier. Ines lief ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Erst schoss es heiß heraus. Sie brüllte. Dann kalt. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen. Sie wischte ihn klar.
Erst nahm sie das Klingeln nicht wahr. Aber es gab nicht auf. Sie benutzte die Gegensprechanlage und drückte den Türöffner. Es war Paul, der Galerist.
Sie lauschte dem Stapfen, das im Treppenhaus immer näher kam. Paul lächelte vor sich hin und schüttelte seine schwarzen Haare, bis sie in Fransen in die Stirn hingen.
„Was für eine Hitze!“, rief er.
Ines nickte und ließ ihn herein. Er ging ins Atelier und blieb vor dem blauen Bild stehen. Er starrte es an. Er versank im Blau. Er ertrank im Blau und schwieg. Lange. Sie auch.
„Das ist das Beste! Noch viel besser als die, die schon in der Galerie sind“, stieß er hervor, „das bekommt den Platz gleich am Eingang.“
„Es ist noch nicht fertig“, sagte sie und strich sich mit der Hand über das Gesicht.
„Wann kann ich es holen?“
„Nächste Woche.“
Sie stand vor dem Bild, ihm den Rücken zugewandt. Er näherte sich und presste sie an sich. Er tastete mit seinen Händen unter ihrem Shirt und streichelte wimpernzart ihre Brustwarzen. Seine Fingerspitzen umrundeten den Bauchnabel. Umkreisten ihn wie eine Libelle den Blütenkelch. Beflügelt loteten sie die Tiefe aus. Seine Lippen berührten ihren Nacken. Paul fasste mit der rechten Hand in ihren Slip. Sie stöhnte auf und drängte sich an seinen Bauch. Ihr langes Haar floss über seine Schulter. Sie keuchte und ihre Knie gaben nach.
Die Hand auf der Leinwand schnappte und grapschte nach ihr. Sie berührte ihren Fuß. Mit einer raschen Bewegung stieß die Hand Paul nach hinten. Er taumelte.
„Was war das? Warst du das?“
Atemlos spuckte er die Sätze aus, seine Lippen vibrierten, und er sackte auf dem Fußboden zusammen. Eine lange Pause entstand.
Schließlich stand er auf und ging um das Bild herum, fixierte es.
„Kann ich es nächste Woche abholen?“
„Ja, klar.“
Sie brachte ihn zur Tür und verschloss sie sofort hinter ihm, ging ins Badezimmer und duschte. Kalte Nadeln massierten ihren Körper. Sie duschte lange, bis die Haut an den Füßen schrumpelte. Sie zog eine dünne Leinenhose an und ein T-Shirt und ging zum Discounter um die Ecke. Ein Tiefkühlgericht, zwei Flaschen Wasser und Weißwein. Zurück in ihrer Wohnung, schob sie die Mahlzeit in den Ofen. Trank gierig die Wasserflasche leer. Sie schaute aus dem Fenster, Schwalben tanzten hoch oben im Azurblau. Im Stehen aß sie vor dem Bild. Schlang das fade Essen herunter.
Die Hand war noch da.
Sie nahm einen Stock und tauchte ihn in Glas mit Zinnoberrot. Sie schrieb, sie stach krakelige Buchstaben in die Farbschichten, auf die Hand: ‚Ich töte dich‘. Der rote Farbstoff schmiegte sich blutend an das Blau.
Am Morgen war sie ganz früh vor der Hitze ins Theresienheim gefahren. Ihre ältere Schwester saß im Garten auf einem Korbstuhl. Diagnose Alzheimer mit dreiundvierzig Jahren. Sie zog sich einen Hocker heran und hielt ihre Hand.
„Was machst du heute?“, fragte Ines.
„Hallo Mama!“, rief ihre Schwester und rutschte auf dem knarzenden Stuhl herum.
„Ich bin nicht Mama, ich bin Ines, deine Schwester.“
„Mama, wo warst du so lange?“
„Ich bin Ines, und ich komme jeden Tag zu dir.“ Sie strich ihr über die Wange.
„Gestern war ich im Zirkus“, stammelte die Schwester.
„War es schön?“
„Was war schön?“
„Der Zirkus.“
„Ich war lange nicht im Zirkus.“
Ines war aufgestanden und hatte ihrer Schwester ein Glas mit Saft gereicht.
Nun eilte sie barfuß auf dem kühlen Steinboden zurück ins schwüle Atelier. Eine großformatige, auf Keilrahmen aufgezogene, Leinwand lag auf dem Boden und glänzte nass. Ultramarin, Preußischblau, Bergblau waren angerührt in Töpfen und Schalen auf dem Boden verteilt, versetzt mit feinkörnigem Sand und kaltem bröckeligem Kaffeesatz. Ines nahm den Rundpinsel in die Hand und verteilte die Farbe, dickflüssig und üppig. Mit einer Rakel verstrich sie die pastöse Paste. Sie ritzte Zeichen mit dem Griff des Pinsels in die noch feuchte Farbe, verwischte alles wieder. Verletzte die Leinwand. Schnitt sie. Malte neue Farbschichten. Die Leinwand ächzte unter der Last. Der Geruch nach Terpentin und Firnis lag wie eine Nebelwolke im Raum.
Sie hatte ihren eigenen Stil entwickelt. Nächste Woche sollte eine Werkschau in der angesagten Galerie ‚Paul Silber‘ eröffnet werden.
Ines holte die Flasche mit der schwarzen Tusche aus dem Regal. Sie glitt in ihrer verschwitzten Hand hin und her. Plötzlich verschüttete sie Flüssigkeit. Wie Quecksilber rollte sie glitzernd über das Bild, bevor sie hineinrutschte in das Gewebe, versackte und einen zerfaserten tiefschwarzen Fleck hinterließ.
Sie hielt inne.
Der Klecks wurde zu einer Hand. Sie schälte sich aus der Leinwand heraus, dunkel und fordernd, und griff nach ihren Waden. Erst packte sie fest zu, lockerte anschließend den Griff und streichelte über ihre Gänsehaut.
Ines schrie auf.
„Geh weg, ich will dich nicht mehr sehen und spüren! Immer wieder kommst du, in jedes Bild!“
Sie lief keuchend und röchelnd im Atelier auf und ab und stolperte zurück zum Bild. Sofort kam die Hand hervorgeschossen und angelte nach ihr. Sie goss die blaue Farbe, die noch im Eimer schwamm, über die Leinwand. Die Hand befreite sich und wollte sie wieder greifen. Ines stieß den Atem aus. Schnaufte. Kälte breitete sich in ihren Beinen aus. Die Füße kribbelten.
Der Deckenventilator gab ein gleichmäßiges Geräusch von sich. Ein Quietschen, wie ein nicht geöltes Scharnier. Ines lief ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Erst schoss es heiß heraus. Sie brüllte. Dann kalt. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen. Sie wischte ihn klar.
Erst nahm sie das Klingeln nicht wahr. Aber es gab nicht auf. Sie benutzte die Gegensprechanlage und drückte den Türöffner. Es war Paul, der Galerist.
Sie lauschte dem Stapfen, das im Treppenhaus immer näher kam. Paul lächelte vor sich hin und schüttelte seine schwarzen Haare, bis sie in Fransen in die Stirn hingen.
„Was für eine Hitze!“, rief er.
Ines nickte und ließ ihn herein. Er ging ins Atelier und blieb vor dem blauen Bild stehen. Er starrte es an. Er versank im Blau. Er ertrank im Blau und schwieg. Lange. Sie auch.
„Das ist das Beste! Noch viel besser als die, die schon in der Galerie sind“, stieß er hervor, „das bekommt den Platz gleich am Eingang.“
„Es ist noch nicht fertig“, sagte sie und strich sich mit der Hand über das Gesicht.
„Wann kann ich es holen?“
„Nächste Woche.“
Sie stand vor dem Bild, ihm den Rücken zugewandt. Er näherte sich und presste sie an sich. Er tastete mit seinen Händen unter ihrem Shirt und streichelte wimpernzart ihre Brustwarzen. Seine Fingerspitzen umrundeten den Bauchnabel. Umkreisten ihn wie eine Libelle den Blütenkelch. Beflügelt loteten sie die Tiefe aus. Seine Lippen berührten ihren Nacken. Paul fasste mit der rechten Hand in ihren Slip. Sie stöhnte auf und drängte sich an seinen Bauch. Ihr langes Haar floss über seine Schulter. Sie keuchte und ihre Knie gaben nach.
Die Hand auf der Leinwand schnappte und grapschte nach ihr. Sie berührte ihren Fuß. Mit einer raschen Bewegung stieß die Hand Paul nach hinten. Er taumelte.
„Was war das? Warst du das?“
Atemlos spuckte er die Sätze aus, seine Lippen vibrierten, und er sackte auf dem Fußboden zusammen. Eine lange Pause entstand.
Schließlich stand er auf und ging um das Bild herum, fixierte es.
„Kann ich es nächste Woche abholen?“
„Ja, klar.“
Sie brachte ihn zur Tür und verschloss sie sofort hinter ihm, ging ins Badezimmer und duschte. Kalte Nadeln massierten ihren Körper. Sie duschte lange, bis die Haut an den Füßen schrumpelte. Sie zog eine dünne Leinenhose an und ein T-Shirt und ging zum Discounter um die Ecke. Ein Tiefkühlgericht, zwei Flaschen Wasser und Weißwein. Zurück in ihrer Wohnung, schob sie die Mahlzeit in den Ofen. Trank gierig die Wasserflasche leer. Sie schaute aus dem Fenster, Schwalben tanzten hoch oben im Azurblau. Im Stehen aß sie vor dem Bild. Schlang das fade Essen herunter.
Die Hand war noch da.
Sie nahm einen Stock und tauchte ihn in Glas mit Zinnoberrot. Sie schrieb, sie stach krakelige Buchstaben in die Farbschichten, auf die Hand: ‚Ich töte dich‘. Der rote Farbstoff schmiegte sich blutend an das Blau.
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