Das fünfte Kind

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Homosapiens

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Die Feiertage. Wieder mal Anlaß für das große Familientreffen, natürlich bei Mutter, dem nie bestrittenen Oberhaupt. Ihr neuester Ehemann hat das sehr schnell begriffen, und ist, politisch klug, in die repräsentativen Handlangerdienste zurückgetreten. Fünf Kinder kommen zu Besuch, alle wohlgeraten, die Hälfte schon wieder selbst verheiratet, mit eigenem Nachwuchs. Die Hälfte? Von Fünfen?
Nun ja, das fünfte Kind war eigentlich ihr erstes, Gabriel, der Älteste, einst gewollt, gewählt, willkommen. Auf niemanden paßt nun das Bild vom fünften Rad am Wagen so genau wie auf ihn. Er hat es nie zu einer Ehe, geschweige denn zu eigenen Kindern gebracht, nicht zu geistigen noch materiellen Gütern. Ein wenig schwierig, der Gute, und nun, im fortgeschrittenen Alter, ist auch nicht mehr mit der großen Wende zu rechnen. Er ist das, was man mit gut untergebracht bezeichnet, ein Stück weit ab von den übrigen, aber dennoch niemals vergessen, natürlich nicht. Welche Mutter liebt denn ihre Kinder nicht alle absolut gleich, würde gar eines zurückstellen? Das könnte Frau Doktor auch nicht mit ihrem Selbstbild vereinbaren. Die anderen vier sind aber irgendwie einfach angepaßter, griffiger, könnte man sagen, mehr oder weniger.

Der zweite Sohn soll erst noch werden, aber er hat sich jetzt orientiert und auch erstmals eine patente, vernünftige Freundin mitgebracht, die seiner Mutter immerhin treuherzig in die Augen schaut.
Mutter lächelt kräftig in die Runde, jedoch mit scharfem Blick, der über ihre beiden Töchter schweift, die ältere schon verheiratet, sie hat die beiden Enkelchen mitgebracht. Wenn doch nur der Schwiegersohn.....gut, er ist erfolgreich und liebt Frau und Kinder, aber er lächelt nur, wenn ihm danach ist. Bei Schwiegermutter sehr selten, sie kann ihn nicht dazu erziehen, und außerdem ist er, wenn auch kaum merklich, etwas kleiner als seine Frau, deren Gesicht in Gegenwart der Mutter einen schmerzlichen Zug bekommt, als würden die Augenbrauen seitlich herabgezogen. Sie ist sich nie sicher, ob sie der Mutter das Richtige angetan hat.
Die jüngere Tochter aus der fernen Großstadt tobt sich irgendwie noch aus, sie bleibt auch nur kurz in der Runde, immer in Bewegung, wie auf der Flucht. Ständig ruft ein dringender Termin nach ihr, eine Zugverbindung, leider.

Erst beim jüngsten Sohn, Nick, bleibt der mütterliche Blick hängen, und ihr Lächeln erreicht nun auch ihre Augen. Ihr Strahlemann von Geburt an! Für alles hat er sie entschädigt, sogar für die kurz darauf erfolgte erste Ehescheidung. Nick hat sie nie enttäuscht, nie verunsichert. Wer sie so anlacht wie er, macht sie zur Königin. Seine Ehefrau Janette ist mit Bedacht gewählt. Sie beherrscht die weibliche Demutsgeste, eine Hand aus Hüfthöhe lose herabhängen zu lassen, zu schwach, um sie zu tragen. Sie hat einen Knick im Hals und legt den Kopf schelmisch schief, einen weiteren Knick in der Hüfte, der ihr Knie zierlich nach vorn winkelt. Nie wird sie es wagen, den Mann zu überragen. Sie versprüht Schalk aus blanken Augenwinkeln und erinnert an das hübsche rosa Pony aus der Spielzeugkiste, dem der buschige Nylon-Pferdeschwanz neckisch wippt und das muntere Lächeln bei der Herstellung aus Plastik eingegossen wurde. Zwei wohlgeratene Enkelchen hat sie ebenfalls zuwege gebracht.

Gabriel hat dergleichen nicht anzubieten, er ist auch nicht so gewandt und eloquent wie alle anderen. Mutters scharfe Forderung, sich nichts gefallen zu lassen, wölbt zwar seine Heldenbrust nach vorn, aber gleichzeitig sind seine Schultern und der Nacken leicht gebeugt, während er an Mutters Gesicht hängt, ihrer etwas schrillen Vogelstimme lauscht, und sie ihn nicht ansieht, allenfalls einmal maßregelnd. Gabriel ist eigentlich der Schönste der Geschwisterschar, der größte, ein Bild von einem Mann, mit heller Haut wie Creme, die silberne Lockenpracht im Nacken ausrasiert, dort, wo die Mutter lastet. Große, stets etwas erschrockene Augen beherrschen das sanft gealterte Gesicht, während sein Blick fleht, längst verstummt.

Er wird später, allein wieder zurück in seinem Stübchen, am Computer sitzen, um für Mama eine ganz besondere, noch nie dagewesene Dankesmail zu formulieren. Aber dann wird ihm keines der Worte gut genug für sie sein, er wird alles nach und nach wegfeilen, bis nur noch die Anrede seiner ersten und einzigen Königin übrig bleibt. Was könnte er denn mehr in sich finden als ein angstvolles, von stummer Liebe berstendes Herz? Er wird vielleicht wagen, ihre Telefonnummer zu wählen und dann nichts vorbringen als die Frage: "Hast du mich so lieb wie die anderen? Ich bin so traurig."
Ach, der Gabriel, der macht doch immer nur Probleme! Die schrille Stimme schneidet ihm das Wort ab: "Also, nun hör' mal gut zu, du hast allen Grund, glücklich zu sein, so gut versorgt und untergebracht, andere mit deinen - nun ja - Beeinträchtigungen würden sich glücklich schätzen, danke jeden Tag dem lieben Gott auf Knien dafür, daß du....."

Gabriel spürt einen bekannten, wehen Ruck in sich, er gräbt mühsam seinen wohltönenden Baß aus, der dem Erwachsenen angemessen ist. Und während er mit fester Stimme, ohne zu stocken oder zu schluchzen, einlenkt: "Du hast ja recht, ich will ja auch, ich werde mich bemühen.....", sieht sie wieder nicht, wie Bäche von Tränen über sein kummervolles Gesicht rinnen, sein unbewegtes Gesicht, das plötzlich grau und eingefallen wirkt.
 
Ausgezeichnetes Familienbild, Homosapiens. Was auffällt, ohne dass ich es bemängeln möchte: Der neue Ehemann bleibt sehr blass. Vielleicht ist das ja eben seine Funktion?

Zu dem Schlussdialog möchte ich als Leser die Vermutung äußern dürfen, dass er nur imaginiert ist, nur in Gabriels Vorstellung stattgefunden hat. Denn tatsächlich so geführt, würde er die Verhältnisse noch schwieriger werden lassen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Homosapiens

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Hallo Arno Abendschön, der neueste Ehemann ist in der Tat eine austauschbare Hintergrundfigur, das weibliche Familienoberhaupt gestaltet Politik wie die "Großen" im kleinen Gefüge, in der Familie. Leider hat der Schlußdialog zwischen Mutter und Sohn mehrmals in dieser und ähnlicher Form stattgefunden. In einer Diktatur wird alles geleugnet oder beschnitten, was dem Diktator nicht passend erscheint. Ja, schwierig ist es vor allem für den, der liebt, zumindest wollte ich ihm eine Stimme geben. Danke für Deine Anteilnahme. LG Homosapiens
 



 
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