Das kann man gar keinem erzählen

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flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
. . . aber es ist wahr!

Vor einiger Zeit ist ein Formwandler auf der Erde notgelandet. Es war zu jener Zeit, als es sich noch nicht herumgesprochen hatte, dass die Erdmenschen nun auch den Kosmos erstürmen wollen. Ein amerikanischer Sputnik – der seitdem als verschollen gilt – stieß mit dem Flugobjekt eines Formwandlers zusammen. Der Sputnik wollte gerade seine letzte Antriebsstufe zünden und wurde durch den Zusammenprall von der Erde weggeschleudert, das UFO trudelte zu ihr hinunter. Da man glaubte, es sei die letzte Antriebsstufe, wurde danach gesucht, aber das außerirdische Material verglühte in der Atmosphäre. Der Formwandler konnte sich mit Müh und Not retten. Natürlich trug er einige Schäden davon, aber er konnte sich selbst heilen, wozu ist man denn sonst Formwandler?
Er war nahe einer Autobahn gelandet. Nachdem er eine Weile den Autos nachgeschaut hatte, beschloss er, selbst ein Auto zu werden und in die große Stadt zu fahren. Dort reihte er sich am Straßenrand in die Reihe der parkenden ein und erkannte nun, dass nicht Autos diesen Planeten bewohnen, sondern Menschen. Diese aber waren überaus komplex und kompliziert. So nahm er nun in einem unbeobachteten Augenblick die Form einer Straßenlaterne an. Ja, er musste einen passenden Augenblick abwarten, weil es eine recht belebte Straße war und das Fahrzeug, welches er kreiert hatte, kein handelsüblicher Typ war.
Da stand er viele Tage und beobachtete die Leute. Immer, wenn er glaubte, genug zu wissen, um ein Mensch werden zu können, erlebte er, dass auf die Menschen noch viele, viele weitere Adjektive passen. Er wollte aber – das ist so die Art der Formwandler – in seiner neuen Gestalt möglichst perfekt sein. Er musste noch weiter abwarten, bis er alle Eigenschaften wirklich leben könnte. Ein Formwandler packt das, ein Mensch würde daran wahnsinnig werden. Doch leider blieb dem armen Außerirdischen nicht Zeit genug auf dieser Erde, um das zu erkennen.
Als er sich nach seiner zwölften Regeneration (zu diesem Zwecke ließ er sich in den Keller des gegenüberliegenden Hauses gleiten, dort stand gleich unter dem Kellerfenster ein sauberer Zinkeimer) endlich entschloss, sich in einen Menschen zu verwandeln, war dieser ein Prachtexemplar, wie Sie sich sicher denken können. Launisch, hochbegabt, fleißig, höflich, experimentierfreudig, wissbegierig, musikalisch, bestechlich, intrigant, freundlich, freigebig, engstirnig, lustig, listig, und was Menschen noch so alles sein können. Ja, er brachte es sogar fertig, gleichzeitig hässlich und schön zu sein, denn Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Und ein Mensch mit Charisma wird stets mit unterschiedlichen Augen betrachtet.
Eines Tages hatte er sich verplaudert – noch so eine menschliche Eigenschaft, nicht wissen, wann man aufhören sollte! – und fand nicht schnell genug in „seinen“ Eimer zurück zum Regenerieren. Er musste mit einem Waschbecken vorlieb nehmen in einer Küche. Er hielt die Wohnung für im Moment unbewohnt und machte sich in der Eile keine großen Gedanken, es kommt ja öfter vor, dass Leute verreisen oder einen zweiten Wohnsitz haben. Er verstöpselte das Becken und ließ sich aufseufzend hineingleiten.
Ein paar Stunden später kam meine Nachbarin von der Arbeit und wunderte sich, was da für eine goldbraune Brühe in ihrem Waschbecken waberte. Angeekelt zog sie den Stöpsel heraus und spülte Odos Verwandten hinfort. Ich hätte gleich gewusst, wen oder was ich da vor mir habe, aber sie hat niemals „Star Trek“ angesehen. Also, das kann man doch wirklich keinem erzählen!
Fußnote: Odo ist eine Gestalt aus der amerikanischen Fernsehserie "Star Trek", Kategorie "Deep Space Nine".
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Wunderbar locker. Am besten fand ich den Satz "Ein Formwandler packt das, ein Mensch würde daran wahnsinnig werden." – Keine Ahnung warum.

Anmerkung 1: In „Er musste noch weiter abwarten, bis er alle Adjektive wirklich leben könnte.“ würde ich statt „Adjektive“ „Eigenschaften" schreiben. Erstens, damit es sich nicht doppelt und zweitens, weil man Adjektive noch viel viel viel weniger als Eigenschaften leben kann.

Anmerkung 2: Ich würde „Star Trek“ statt „Enterprise“ schreiben – denn ausgerechnet in der Serie, in der Odo mitspielt, ist die Enterprise (in welcher Ausführung auch immer) nur von nebensächlicher Bedeutung.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh,

vielen dank. habe deine guten änderungsvorschläge eingearbeitet.
ich glaube, daß ein mensch niemals alle eigenschaften haben kann, die man menschen im allgemeinen nachsagt. und wenn einer versucht, alles zu sein, dann geht er daran kaputt, denke ich.
ganz lieb grüßt
 
E

Edgar Güttge

Gast
Wer ist Odo ... habs auch nicht gesehen

Hallo Flammarion,

sehr gut aufgebaut die Story. Hat mir gefallen. Ein Gewinn.

Ich habe allerdings - wie deine Nachbarin - auch nicht Startrek (oder Entreprise) gesehen und kenne Odo nicht. Dewegen kann ich mit allem, was nach "Angeekelt zog sie den Stöpsel heraus" nichts anfangen.
Auf Musiktitel und Filme zu verweisen, finde ich nicht schlecht, aber hier kommt der Filmtitel zum ersten Mal in der Schlusspointe vor.
Wäre es nicht eine Überlegung wert, die Geschichte aufhören zulassen mit
"Angeekelt zog sie den Stöpsel heraus und spülte ihn fort."
oder noch pointierter:
"Angeekelt zog sie den Stöpsel heraus." ?
Den Rest können wir uns denken. Und damit könntest du deinen Leserkreis um einige Nichtgucker erweitern.

Viele Grüße
Edgar
 

visco

Mitglied
Hallo flammarion,

Mit Sputnik PS1, vollständig "Iskusstwennji Sputnik Semlja", was soviel heißt wie "künstlicher Begleiter der Erde", hat die damalige UdSSR Ende 1957 den ersten künstlichen Erdtrabanten ins All geschossen. Wenn Du in Deiner Geschichte von einem "amerikanischen Sputnik" schreibst, dann klingt das - entschuldige - irgendwie komisch. Immerhin sprach man gleich nach dem Start vom "Sputnik-Schock", ganz besonders in den USA, da die Amerikaner nie damit gerechnet hätten, den Wettkampf zu verlieren.

Wenn Du nicht "Eine russische Sputnik-Rakte" schreiben möchtest, amerikanische Rakten waren zum Beispiel Atlas oder Titan.

Von dieser kleinen Anmerkung einmal abgesehen gefällt mir Deine Geschichte recht gut. Ich finde sie ideenreich und auch ein wenig hinterlistig ;-), bleibt sie doch nicht so oberflächlich, wie der wundervoll lockere Erzählstil vielleicht zunächst noch suggeriert.

Eine Verständnisfrage hätte ich allerdings.
Doch leider blieb dem armen Außerirdischen nicht Zeit genug auf dieser Erde, um das zu erkennen.
Hat Odos Verwandter (klar kenne ich Odo, nicht persönlich, aber man guckt ja Star Trek!!) denn im Abfluß gar keine Überlebenschance? So ist das doch gemeint, oder?

Lieb grüßt,
[ 6]visco
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh,

vielen dank fürs lesen und die wertvollen hinweise.
ja, ich denke, dass odo in seinem flüssigen zustand verwundbar ist und stirbt, wenn man ihn mit wasser verdünnt.
und star trek nicht zu kennen ist ne bildungslücke! jedenfalls für sifi fans.
ganz lieb grüßt
 
E

Edgar Güttge

Gast
Star Trek

Hallo Flammarion,

bin ich wirklich der einzige SF-Konsument, der nur liest und (so gut wie) keine Filme und Serien guckt?!?
Dann habe ich nichts gesagt!
(Und er greift zum Fernsehprogramm, um diese Bild(ungs)lücke schnellstmöglich zu schließen ;) ... und siehe da: :confused: Es geht nicht. Er hat kein's! :()

Viele Grüße :)
Edgar
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

du armer!
komm mich besuchen, ich habe den ganzen schrank voll star trek video kassetten . . .
ganz lieb grüßt
 
E

Edgar Güttge

Gast
danke für die Einladung

Hallo flammarion,

was habe ich nur angerichtet, Edgar Güttge, der einzige SF-Autor in dieser Lupe, der noch nie einen StarTrek gesehen hat!?!
Wahrscheinlich habe ich diesen Beitrag sowieso nur gefunden, weil ich in der Lupe gewühlt habe, während alle anderen vor dem anderen Bildschirm saßen und StarTrek guckten. Da kann mensch mal wieder sehen. ;)

Aber so kannst du es natürlich auch machen. Statt die Pointe zu ändern, um den Leserkreis zu erweitern, erweiterst du den Leserkreis, um die Pointe nicht ändern zu müssen. :)

Auf jeden Fall weiß ich jetzt, wo ich Odo kennen lernen kann.
Ach übrigens: da ist mir doch letztens so'ne zähflüssige Masse aus dem Kran gekleckert :eek: ... das wird doch nicht irgendein Verwandter gewesen sein? :D

Vielen Dank und viele Grüße
Edgar
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

lieber edgar, du befindest dich in guter gesellschaft, was das desinteresse an star trek angeht. ich kenne hier auf der lupe noch n paar, die da noch nie reingeschaut haben.
aber ich bin echt der meinung, dass man es gar nicht kennen muss, um zu sehen, was ich mit dieser geschichte aussagen möchte: dass wir menschen aus unkenntnis bedenkenlos wunderbares zerstören.
ganz lieb grüßt
 

visco

Mitglied
zierlich

Hallo flammarion,

Bescheidenheit ist eine Zier, sagt man. Ich denke, in Deiner kurzen Geschichte steckt so viel mehr als die von Dir beschriebene Kernaussage. Wundervoll finde ich zum Beispiel, wie Du auf die Komplexität des Mensch-Seins hindeutest, was m.E. einen ganz besonderen Aspekt dieser Geschichte ausmacht. So wundert mich nicht, daß man unter den vielen Adjektiven später vergeblich nach einer Erklärung oder Rechtfertigung für das Verhalten der Nachbarin sucht.
Tiefsinnig ist sicher auch die Wahl eines "Formwandlers", dem zwar über die täuschend echte Nachbildung hinaus auch die Nachahmung gelingt und als Mensch unter Menschen überzeugen kann, sich aber offenbar der Risiken nicht bewußt ist, die dieser Umgang für ihn mit sich bringt. So führt der Moment, in dem sich seine Fremdartigkeit offenbart, zu einer lebensbedrohlichen Situation. Schutzlos ist er einer Facette der menschlichen Natur ausgeliefert und findet den Tod.

Und ich stimme Dir zu. Für das Verständnis Deiner Geschichte muß man mit Star Trek und der Figur des "Odo" nicht vertraut sein. Es wird hinreichend klar, was unter einem "Formwandler" zu verstehen ist.

Gruß,
[ 6]visco
 
E

Edgar Güttge

Gast
Es geht gar nicht um StarTrek

Hallo Flammarion, hallo Visco,

ich habe das vage Gefühl, dass ich missverstanden worden bin. Also Spaß beiseite. Es geht nicht darum, ob ich StarTrek gucke, da haben wir nur ein paar Witzchen gemacht.
Was ich sagen wollte, ist folgendes: Erst das Ende mit Odo und StarTrek macht das Verständnis des Textes schwierig.

Versetzt euch doch mal in meine Lage als Nichtgucker! (Ich gucke übrigens nicht nur StarTrek nicht, sondern habe seit Time Bandits von Monty Python so gut wie keine Filme und Serien mehr gesehen, aber das ist hier nicht entscheidend.)

Beim Lesen des Textes hatte ich ungefähr das empfunden, was ausgesagt werden sollte und was Visco geschrieben hat. Das Menschsein, die Adjektive, der Formwandler - alles deutlich. Für mich war der Text eine abgeschlossene Einheit, amüsant, witzig, verständlich, mit Pointe ... bis der Odo ins Spiel kam.
Da wurde ich plötzlich ins Grübeln gebracht. Ich fragte mich: Wer ist Odo? Muss ich den kennen?
Die ganze gute Wirkung der Geschichte bis dahin war auf einmal verpufft. Ich hatte das Gefühl, in eine Leere gestoßen zu werden. Ich hatte in dem Moment gedacht, dass mir irgend etwas fehlte, dass ich den Text gar nicht verstanden haben kann.

Deswegen mein gutgemeinter Vorschlag mit dem Ende für Nichtgucker.

Und ihr bestätigt mir nun meinen ersten Eindruck, den ich bis zum "Stöpsel" hatte, nämlich, dass man den StarTrek nicht gesehen haben muss, um die Geschichte zu verstehen.

Also um es noch einmal deutlich zu sagen: der Teil der Geschichte bis "... Stöpsel heraus." gehört zum Besten, was ich in dieser Lupe bisher gelesen habe.
Das ich am Ende rumgenörgelt habe, tut mir Leid.

Viele Grüße
Edgar
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
aber,

aber! ist doch alles bestens. gut, dass du noch einmal auf odo aufmerksam machst. ihn weg zu lassen, das kann ich mir nicht antun. es wird eine fußnote geben.
ganz lieb grüßt
 

Mazirian

Mitglied
Hallo Flammarion,

versehentlich habe ich meinen Kommentar im normalen SF-Forum der lupenautoren gepostet. Darf ich ihn da stehen lassen? Deswegen hab ich auch die bisherigen Kommentare noch nicht gelesen (gehabt). Bitte entschuldige also schon mal die Überschneidungen.

@Edgar
Kopf hoch - ich guck auch keine Serien (außer Sponge Bob, wenn ich kann), mittlerweile gibt's einfach viel zu viele.

schönen Gruß

Achim

Mein Beitrag enthält einen Hinweis auf Textarbeit
 



 
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