Das kurze, strahlende Leben der Sonnenblume

Kadira

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Das kurze, strahlende Leben der Sonnenblume

Sie konnte den Atem der anderen Frau gegen ihren Nacken fühlen, heiß und gerade eine so kleine Spur unregelmäßig, dass sie wusste, dass sie nicht die einzige war, die von der Situation berührt war. Es freute sie mehr als sie dachte, war es doch nicht Teil ihres Kontrakts. Nicht das irgendwas von dem hier es war, angefangen mit der letzten Stunde, von dem Moment an, als sie die andere Frau in ihrer Wohnung überrascht hatte, über ihr Verlegenheitsteestündchen, bis jetzt, zu dieser neuen, noch überraschenderen Entwicklung.

Aber vielleicht lag es auch nur an ihr. Sie hatte nicht wirklich viel Erfahrung, was man von solchen Leuten erwarten sollte. Vielleicht gehörte das ja zum Standartprogramm, und man hatte es ihr nur vergessen zu sagen. Oder sie war der tausendste Kunde oder so was in der Art. Sie lachte innerlich, über die Unsinnigkeit ihrer Gedanken.

»Gehört das mit zum Vertrag? Kann mich gar nicht daran erinnern«, fragte sie nach einem Moment, als sie sich in die Arme der anderen Frau fallen ließ und ihren Kopf zur Seite drehte, so das die weichen Lippen der anderen Frau leichter Zugang zu ihrer Haut hatte.

»Nur bei ganz speziellen Kunden. Natürlich auch nur, wenn besagte Kunden es wollen«, sagte die Frau hinter ihr, wobei sie sich eng gegen sie presste. In der Halbdämmerung und mit dem Rücken zu ihr gedreht, konnte sie das Grinsen nur erahnen. In ihren Gedanken jedoch, hatte sie ein sehr klares Bild. Auch ohne die andere Frau jemals bei voller Beleuchtung gesehen zu haben, wusste sie irgendwie, dass die kurzen Haare, die sich gerade gegen ihre Wange pressten, schwarz waren, vielleicht noch mit blauen Strähnchen durchsetzt, die das eisblau ihrer Augen, den einzigen Teil, den sie wirklich deutlich gesehen hatte und was sie von Anfang an fasziniert hatte, noch unterstrichen. Und leicht stachelig, so als wenn sie mit Haargel oder Schaum fixiert waren. Es war ein angenehmes Gefühl.

Ein wohliger Schauder durchfuhr sie, als Lippen an ihren Hals entlang wanderten. Sie konnte ein leichtes Seufzen nicht unterdrücken. »Diese Kundin will«, erklärte sie nach einem Moment, Stimme leicht belegt.

»Ist diese Kundin sich auch ganz sicher?«, leise, sanft, verführerisch. Die Stimme lullte sie ein, berauschte sie, während sie sich zur gleichen Zeit lebendiger fühle, als jemals zuvor, oder zumindest mehr als sie sich erinnern konnte.

Sie nickte, und presste sich gegen die andere Frau, sicher das sie keine Worte brauchen würde. »Man sagt ja, dass man alles mal ausprobiert haben soll, und das fehlt noch auf meiner Palette.« Sie war jetzt dankbar für die Dunkelheit, die ihre Rotwerden wenigstens oberflächlich verdeckte, wenn sie sich auch sicher war, dass die andere Frau die Hitze, die von ihrer Haut ausging, fühlen konnte.

»In der Tat«, murmelte die andere Frau gegen ihr Ohr. Der sanft-warme Atem ließ sie schaudern. »Das sollte man. Obwohl ich überrascht bin. Angenehm natürlich. Jemand mit deiner Ausstrahlung und deinem Aussehen ... «

Eine warme Hand strich ihr über die Kehle, dann hinunter, über ihre Seidenbluse, so leicht, dass die Berührung kaum mehr als eine Illusion schien. Sie hatte beinahe Angst zu atmen, vor Furcht, dass die Seifenblase zerplatzen und die Leere zurückkehren würde. Ein leises Stöhnen entfuhr ihr, als ihrem Ohrläppchen auf einmal besonders viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, erst mit Lippen, dann, ganz sanft mit Zähnen, gerade so viel Druck, dass sie es merkte. Beinahe wie ein Langzeitliebhaber, der genau wusste, welche Knöpfe er zu drücken hatte, um ihren Körper wie ein perfektes Instrument zu spielen.

Und genau wie ein Instrument sich seinem Musiker hingeben würde, gab sie sich der anderen Frau hin, Körper und Seele, wenigstens für diesen flüchtigen Augenblick alles andere um sich herum vergessend, sogar wie es zu dieser Begegnung kam. Wie ein Instrument von einem Musiker zum Leben erweckt wurde, wenn er die richtigen Noten spielte, erwachte auch sie unter den Händen und Lippen der anderen Frau zu neuem Leben.

~.~.~.~.

Im gelblichen Licht der Straßenlaterne, untersetzt von einem roten Streifen auf ihrer Wange von der Leuchtreklame der Getränkefabrik gegenüber, stand die andere Frau am Fenster und ging Papiere durch. »Es scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln, bevor sie die Unterlagen auf ihre Tasche zurücklegte. »Du kannst jetzt nicht mehr zurück, dass weißt du, oder? Wir treten niemals zurück, wenn einmal unterschrieben wurde. Es würde gegen unsere Ethik verstoßen.«

Sie nickte. Nicht das sie es jemals vor hatte, so schön die letzten Stunden auch waren. »Und du willst es wirklich so haben? Das gibt eine ganz schöne Sauerei...« Die andere Frau sah sie zögernd an. Die unnatürlichen Lichtverhältnisse gaben ihren Augen einen beinahe dämonischen Schein. » Es wäre Schade um dein Gesicht. Würde auch kein schönes Bild bei der Beerdigung geben.«

Sie zuckte mit den Schultern, öffnete die Wasserflasche und nahm einen tiefen Schluck. »Mich wird's wohl nicht mehr sonderlich stören«, sagte sie dann mit einem leichten Lachen. Merkwürdigerweise verspürte sie keinerlei Angst mehr. Tatsächlich hatte sie die nicht mehr gespürt, seit dem die andere Frau in ihr Leben getreten war. Auf einer verkorksten Art und Weise, fühlte sie sich sicher bei und mit ihr, trotz ihrer Profession, trotzdem, dass sie nicht mal ihren Namen kannte, und trotzdem, dass sie das letzte Gesicht war, das sie jemals sehen würde.

Die andere Frau grinste leicht. »Das stimmt. Trotzdem legen da viele unserer Kunden noch wert drauf.«

»Ich nicht. Außerdem haben mir deine Leute gesagt, dass es eine todsichere Art wäre. Wesentlich sicherer als Tabletten und ähnliches.«

»Metal dieser Art so tief im Körper ist in der Tat sehr sicher«, sagte ihr Gegenüber, mit einem leichten Lachen. »Es ist normalerweise gegen unsere Police zu fragen, aber warum willst du es überhaupt?«

Sie strich sich eine lange blonde Strähne aus dem Gesicht und zuckte ein weiteres Mal mit den Schultern. »Ich kann es nicht sagen. Es ist die einzige logische Konsequenz für mich. Die war es schon, als ich mich bei euch gemeldet habe, und sie ist es noch immer. Ich habe alles erreicht und gemacht, was ich jemals wollte. Es ist die ideale Zeit um abzutreten.«

»Verlustangst?«

»Hat man die nicht immer auf die eine oder andere Art und Weise? Aber das ist nicht der Grund. Ich will einfach nicht mehr. Es ist an der Zeit, einen Schritt weiterzugehen für mich.«

»Und was machst du wenn es danach nichts mehr gibt?«

»Das stört mich dann wohl auch nicht mehr.«

Die andere Frau sah sie einen Moment nachdenklich an, nickte dann. »Das ist wohl wahr. Viel zu viele Leute fürchten sich vor dem Tod für nichts. Deine Ansicht kann ich respektieren. Selbst erkennen, wann es Zeit ist abzutreten ... Ich kann nur hoffen, dass ich es auch irgendwann sehe. Gibt es noch irgendetwas, dass du machen willst, oder bist du bereit?«, wechselte sie dann das Thema.

»Ich bin bereit«, erklärte sie, und es war die Wahrheit. Alles was sie noch zu tun gehabt hatte, wie Briefe an ihre Familie schreiben, ihr Testament aufsetzen, den Teufel von einem Hund ihrem Exfreund nachzuschicken, hatte sie schon vor Wochen erledigt. Heute nachmittag, auf dem Weg zum Bäcker um ihre Dauerbestellung für das Kürbisbrot und die Sonnenblumenkernbrötchen zu kündigen, hatte sie noch die offenen Rechnungen bezahlt und besagte Briefe eingeschmissen.

Es gab für sie definitiv nichts mehr zu tun. Nun noch weniger, als während der letzten Monate schon.

»Wird es wehtun?«, fragte sie aus einem plötzlichen Impuls heraus. Es war das Einzige, was ihr wirklich Sorgen bereitete. Sie hatte genauso wenig Angst vor dem Tod, wie sie es vor dem Leben gehabt hatte. Die Aussicht auf Schmerz hingegen, konnte sie, wenn sie es denn zu lassen würde, in Panik versetzen.

»Es geht so schnell, du wirst nichts merken«, sagte die andere Frau, ihre Stimme leise und beruhigend.

Sie nickte. »Und wie ...?« Sie wollte es nicht sagen, aber nach den letzten Stunden würde es ihr zu unpersönlich vorkommen, einfach aus der Ferne, vom Fenster aus, erschossen zu werden.

»Wie immer du willst«, sagte die andere Frau, während sie sich eine dieser dünnen Gummihandschuhe, wie Ärzte sie benutzten, anzog.

»Ich ... ich möchte, das du mich hältst«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. »Wenn das geht«, fügte sie mit einem unsicheren Lächeln hinzu.

Das kurze Zögern der anderen Frau ließ sie mit einer Absage rechnen. Dann: »Natürlich geht das. Ich würde es sogar gerne machen.«

Sie stieß einen unhörbaren Seufzer der Erleichterung aus und ließ sich nach hinten sinken, auf ihr Kopfkissen. Sie schloss ihre Augen für den Moment, und hörte in die Stille hinein, die nur hier und da von einem leisen Knacken unterbrochen war. Noch nicht einmal das sonst gleichmäßige Gesumme des Kühlschranks war zu hören, da sie ihn einige Stunden vorher schon vom Netz genommen hatte. Die Stille war nicht nur beruhigend, sondern beinahe befreiend.

Sie öffnete ihre Augen erst wieder, als die Matratze sich unter ihr bewegte, und die andere Frau sich neben sie setzte. Für einen Moment sahen sie sich nur an, sprachen wortlos miteinander, auf einer Ebene, wie es wohl nur Leute in ihrer Situation konnten.

»Danke«, sagte sie dann mit einem Lächeln. »Für alles.«

Die andere Frau beugte sich vor und küsste sie leicht auf die Wange. »Es war mir eine Freude.«

Sie machte bereitwillig Platz, als die andere Frau sich hinter sie legte, und kuschelte sich gegen den warmen Körper, seufzte leise, zufrieden, als ein Arm sich um ihren Körper wand und sie festhielt. Es war perfekt, fand sie, als der Geruch der anderen Frau ihre Sinne benebelte, bis außer ihr nichts mehr wichtig zu sein schien. »Schließ deine Augen und versuch etwas zu schlafen. Ich werde bei dir bleiben.«

Es war eine Aufforderung, der sie nur zu gerne folgte, und als sie schon am wegdösen war, fühlte sie noch die Lippen ihrer Einmal-Liebhaberin auf ihrer Stirn und glaubte ein 'Es war schön dich kennen gelernt zu haben' zu hören.

~.~.~.~.

Die Ermittlungen im Fall der Emilia Kartig (31) wurden trotz vehementer Proteste von Familienangehörigen eingestellt.

Die national bekannte und gefeierte Künstlerin, war am Freitag vergangener Woche tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Es wurde eine Routineuntersuchung durchgeführt, diese wurde aber eingestellt, als man keinen Hinweis auf äußerliche Einwirkung finden konnte.

Wie aus Briefen an Freunden und Verwandten, so wie ihrem Testament hervorging, war sie des Lebens müde, was zu Selbsttötung durch Kopfschuss führte.

Die Beisetzung wird im engsten Familien- und Freundeskreis stattfinden.


Zufrieden faltete sie den ausgerissenen Zeitungsausschnitt wieder vorsichtig zusammen und steckte ihn in die Hosentasche ihrer ausgewaschenen Jeans. Das Gesicht versteckt unter ihrer Mütze, wartete sie darauf, dass sich auch die letzten Trauernden verziehen würden. Es erstaunte sie, wie weit dehnbar der Begriff 'eng' doch war. Bei Trauergast 150 hatte sie aufgehört zu zählen. Berühmtheit schien den Bekannten- und Familienkreis doch nicht unerheblich zu vergrößern.

Sie beobachtete, wie ein älteres Paar weiße Rosen auf das Grab legte. Sie waren die beinahe letzten in einer langen Reihe. Wie viele der hier Anwesenden hatten sie wohl wirklich gekannt und wie viele waren nur hier, damit sie später davon berichten konnten?

Es war beinahe ekelerregend und machte sie froh, dass sie normalerweise nichts mit solchen Leuten zu tun hatte. Es erstaunte sie selber, dass sie heute hier war. Es ging gegen alles, wofür sie eigentlich einstand. Nicht nur ihre persönliche Ethik, die hatte sie ja schon vor einigen Tagen spontan über den Haufen geworfen, sondern auch gegen ihren Arbeitsvertrag. 'Erledige deinen Job', und das war es. Es war die erste und wichtigste Regel und sie war gerade dabei sie zum zweiten Mal zu brechen.

Sie blinzelte, als die Sonne zwischen den dunklen Wolken durchbrach und das graue Licht für einen Moment schmutziggelb erschienenen ließ, bis sie den Kampf gewann und die Grabsteine erstrahlten. Sie lächelte leicht. Irgendwie war sie sich sicher, dass ihr das gefallen würde.

Sie wartete noch einen Moment nach dem der letzte Trauergast gegangen war, bis sie sich aus dem Schatten der kleinen Kapelle herausbewegte und, mit einem letzten Blick umher, auf das blumenüberhäufte Grab zusteuerte. Ihre Situation war prekär genug, auch ohne das sie noch ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zog.

Vorsichtig legte sie die einzelne Sonnenblumen auf das Grab. Anstatt in der Blumenpracht unterzugehen, schien sie in ihrem ganzen Glanz hervorzustechen. Es war ein Spontanentschluss gewesen -- wie beinahe alles, was Emilia Kartig und sie scheinbar betraf. Sie war nicht sehr gut in solchen Dingen, aber wusste, dass ihr die Blume gefallen würde, sobald sie sie gesehen hatte. Nicht nur wegen des Bildes mit dem Sonnenblumenfeld, das fast die ganze Wand über ihrem Bett eingenommen hatte, sondern weil es einfach zu der Frau passte, die für so kurze Zeit in ihr Leben getreten war, es erstrahlt hatte, und es geschafft hatte, dass sie mal eben alle ihre Prinzipien über den Haufen geworfen hatte.

»Ich hoffe du hast gefunden, wonach du gesucht hast«, sagte sie leise, während ihr Blick über den kalten Marmorgrabstein strich, in dem in goldenen, verschnörkelten Buchstaben ein einfaches 'Beloved' stand.

»Kannten sie Emilia?« Sie zuckte zusammen, als auf einmal die Stimme hinter ihr ertönte. »Ich habe sie gar nicht bei der Beerdigung gesehen?«

Die Ähnlichkeit war unverkennbar, als sie den Kopf leicht wand, und ihr Blick auf eine Frau fiel. Es war die gleiche Nase und die gleichen Augen. Die einzigen Unterschiede bestanden in zwei Nuancen dunklere Haare, welches hier nur schulterlang waren und ungefähr 5 Jahre weniger. »Ich habe sie nur einmal getroffen. Vor langer Zeit«, erklärte sie. »Es schien mir nicht passend an den Feierlichkeiten teilzunehmen.«

Die jüngere Frau zuckte mit den Schultern. »Es war eh alles nur eine Farce. Zum großen Teil wenigstens. Ein letzter Versuch noch was vom großen Kuchen abzubekommen. Kaum einer von ihnen kannte sie wirklich. Als sie anfing zu malen, hielten es alle für Spinnerei. Erst als sie erfolgreich wurde, wollten sie auf einmal alle Gutfreund sein. Aber am Ende hat sie es ihnen alle gezeigt«, sagte die andere Frau mit einem leichten Lächeln. »Sie war meine große Schwester, wissen sie? Und obwohl ich bei weitem nicht sagen kann, dass ich sie wirklich kannte, war ich ihr wohl mit am nahsten. Wenigstens kann ich behaupten, dass ich ihr weder vollkommen gleichgültig war, noch das sie mich gehasst hat.«

Die Stimme ihrer Gesprächspartnerin - nein, besser: der Monologistin - zitterte leicht. Aber obwohl die Situation unangenehm war, drehte sie sich nicht um und ging. Ihre Neugier war zu groß dafür. Stattdessen lächelte sie die andere Frau so unverbindlich an, dass sie es so interpretieren konnte wie sie wollte, entweder zum weiterreden oder als peinliche Erkenntnis, dass sie gerade einer völlig Fremden das Herz ausschüttete.

»Letzten Monat habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Wir haben uns zum Mittagessen getroffen. Sie war anders als sonst, beinahe euphorisch. Da wusste ich, dass sie einen Weg gefunden hatte. Jeder hier sagt, dass ein Selbstmord unmöglich sein kann, dass sie zu lebensfroh dafür war. Irgendwie war sie es auch, aber es gab da auch die andere Seite an ihr. Sie wollte immer weiter. Wenn es nichts neues mehr für sie gab, erkundete sie das nächste Thema. Im letzten Jahr war sie besessen vom Tod. Sie las alles, was es dazu gab und alle ihre Bilder drehten sich darum. Weder unsere Eltern noch ihre Kritiker haben die Zeichen richtig gedeutet. Sie haben es als Schaffenskrise bezeichnet. Schaffenskrise und Emilia!« Das Lachen klang freudlos. »Niemals.«

»Aber du glaubst an Selbstmord?«, fragte sie vorsichtig.

»Sie sagte mir bei einem unserer Treffen, dass es nichts mehr für sie zu erkunden gibt. Sie hat alles erreicht was sie jemals wollte. Und dann waren da noch ihre Abschiedsbriefe... Ja, ich denke schon, dass es das war. Oder sie hat jemand gefunden, der es für sie gemacht hat.« Sie zuckte innerlich zusammen. »Aber auf jeden Fall war es kein wirklicher Mord. Sie wollte sterben! Es gab für sie hier nichts mehr! Sie wollte wissen, was danach kommt! Nur will das hier keiner wahr haben. Den Aufruhr den es gab, als die Polizei keine Hinweise auf Mord gefunden hat und ihre Ermittlungen eingestellt hat...«

Dann, mit funkelnden Augen: »Sie sind doch keine Reporterin, oder?«

Sie lachte leise. »Wenn ich es wäre, wäre es jetzt wahrscheinlich schon etwas spät, oder? Aber ich bin nur jemand der sie getroffen hat, und den sie sehr beeindruckt hat.«

Die andere Frau lächelte. »Das glaube ich gerne. Emilia hatte ein Talent dafür, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst war. Sie imponierte den Leuten einfach und ließ sich so unvergesslich werden.«

Sie nickte zustimmend. Daran hatte sie gar keinen Zweifel.

»Karla! Wo bleibst du denn?«, erklang es auf einmal aus Richtung des Parkplatzes. »Wir müssen los! Die Leute werden schon ungeduldig.«

Karla verdrehte leicht die Augen. »Ich muss. Der Leichenschmaus wartet. Mehr Herumgehschleime und debattieren über etwas, was so offensichtlich ist. Möchten sie vielleicht mitkommen? Es wäre schön einen Menschen dabei zu haben, der wenigstens ansatzweise normal ist. Es wäre sicherlich auch in Emilias Sinne.«

»Ich denke --« Sie wurde von ihrem Piepser gerettet. »Ich habe leider keine Zeit. Die Arbeit ruft. Ich wollte mich nur noch mal von ihr verabschieden«, sagte sie mit einem tiefen Gefühl innerer Erleichterung.

Karla zuckte mit den Schultern, unfähig ihre Enttäuschung komplett zu verbergen, dass ihr Rettungsanker - und als das sah Karla sie offensichtlich - gerade vor ihrer Nase weggezogen worden war. Mit einem: »Na dann. Es war schön sie kennen gelernt zu haben«, drehte sie sich um und ging mit entschlossenen Schritten auf das Tor zu.

Sie beneidete Karla nicht. Erst als die andere Frau endgültig aus ihrer Sicht verschwunden war, drehte sie sich noch einmal zu dem Grab um. »Es war mir eine Ehre dich kennen gelernt zu haben, Emilia«, sagte sie und strich über die blumenbedeckte Oberfläche, bevor auch sie sich entfernte.

Im Auto öffnete sie ihr Arbeitshandy und rief die Piepsernummer an. »Warum hast du so lange gebraucht?«, Jacks irritierter Ton ließ sie lächeln.

»Was gibt es?«

»Ich wollte dich nur noch mal an deinen Auftrag heute Nachmittag erinnern.«

»Dafür rufst du mich an?«

»Ich wollte einfach nur sicher gehen, dass du es nicht vergisst.«

»Habe ich jemals einen Auftrag vermasselt?«, fragte sie und schaffte es zugleich beleidigt und amüsiert zu klingen.

»Natürlich nicht, aber du schienst in den letzten Tagen etwas zerstreut. Ist denn alles in Ordnung?«

Sie dachte an Emilia, ihr Lächeln, und an das Bild mit den Sonneblumen über ihrem Bett. Sie dachte daran, wie die andere Frau sich in ihren Armen angefühlt hatte, ihre Bestimmtheit und ihre Stärke, an das Gespräch mit ihrer Schwester und an ihr Grab.

'Danke. Für alles.'

»Erde an Manu.«

»Du sollst mich nicht so nennen. Es ist Manuela«, sagte sie resigniert, als sie den Motor startete. Es war ein verlorener Kampf, wie sie sehr wohl wusste. »Und ja, es ist alles in Ordnung. Ich musste nur gerade an was denken. Und nein, es wird mich nicht von meiner Arbeit ablenken«, nahm sie die Frage vorweg, die mit Sicherheit jetzt gekommen wäre.

»Gut! Nicht das ich was anderes erwartet hätte«, fügte Jack beinahe entschuldigend hinzu. »Dein letzter Auftrag, die Künstlerin, wurde mittlerweile auch als Selbstmord ad acta gelegt. Gute Arbeit.«

Sie lächelte in das Telefon hinein. »Was hältst du heute von Abendessen? Ich könnte etwas Gesellschaft gebrauchen und mir wäre mal wieder nach griechisch.«

»Gerne. Wann glaubst du, dass du fertig bist?«

»Nach Zeitplan um 7. Du könntest mich um 10 zu Hause abholen.«

»Werde ich machen«, sagte Jack und unterbrach die Verbindung.

Sie ließ das Telefon wieder in ihre Tasche gleiten und verließ dann den Parkplatz. Der Friedhof verschwand langsam in der Ferne und dann endgültig aus ihrer Sicht, als sie in die Schnellstrasse einbog.

Das Leben ging weiter. Wenigstens für sie, und vielleicht gab es ja doch noch mehr nach dem Tod. Ein Teil von ihr wünschte es. Nicht nur für Emilia, sondern für alle ihre Klienten, und auch letztendlich für sich selber, wenn der Zeitpunkt denn da sein würde. Auch wenn sie hoffte, dass es noch lange nicht so weit sein würde.

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