Das kurze und bewusste Leben eines Tropfens Öl

4,00 Stern(e) 1 Stimme

lukey

Mitglied
Es begab sich zu einer unbekannten Zeit an einem unbekannten Ort, irgendwo in einem kleinen rundlichen Ding, dass ein Öltropfen ein Bewusstsein erlangte.
Zuerst war er sehr erschrocken, als er sah, was ihn umgab. Denn da war nichts als Schwärze. Und feucht war diese noch dazu. Doch anstatt Angst zu bekommen und nach einem Ausweg zu suchen, begann er, über den Sinn des Lebens nachzudenken - so wie es jede intelligente Lebensform irgendwann im Laufe ihres Lebens tut.

So wie es den Anschein hatte, lebte der Öltropfen zusammen mit vielen anderen Öltropfen in einem großen und tiefen See. Er tauchte ab und zu an die Oberfläche, nur um festzustellen, dass das Schwarz dort genauso schwarz war wie am Boden. Ihm kam der Gedanke, dass Schwarz eine schrecklich deprimierende Farbe sein müßte. Aber da er keine anderen Farben kannte, war Schwarz für ihn der Inbegriff des Lebens.
Der See, in dem er sich befand, schwankte ab und zu, und an seiner Oberfläche bildeten sich Wellen, die für ihn zwar nicht sicht-, aber deutlich spürbar waren. Er zog daher den ruhigen Boden vor.

Nach einiger Zeit begann er sich zu fragen, was eigentlich ein Boden ist. Er konnte darauf herumturnen und seinen Kopf - bzw. einen Teil seiner Moleküle - dagegen schlagen, ohne dass etwas geschah. Er versuchte auch, an der Oberfläche nach oben zu hüpfen. Doch mit Bedauern musste er feststellen, dass er nicht hüpfen konnte. Zudem gab es noch Wände, die er aber erst fand, als etwas in ihm zu der Erkenntnis gekommen war, dass "irgendwo da hinten" etwas anderes sein musste. Und obwohl er in vier Richtungen schwamm, um seine Erkenntnis zu überprüfen, fand er immer nur eine Wand. Die Schwärze um ihn begann nun, ihn wirklich zu deprimieren.

Schließlich wurde ihm dies alles zu blöd. Er verzog sich in die Mitte von dem, in dem er sich befand, und wartete darauf, bis ihn irgend jemand ansprach. Denn es konnte doch nicht sein, so dachte er, dass er der einzige war, der sich Gedanken darüber machte, wo er sich befand. Er wartete. Er begann zu schreien. Doch niemand antwortete auf seine Klagen.

Wenn der Öltropfen nicht so mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre, wenn er nicht die ganze Zeit mit Nachdenken darüber verbracht hätte, wie er eine Partnerin finden konnte, um mit ihr Nachkommen zu zeugen, dann wäre es ihm auch nicht entgangen, wie er immer weiter hingezogen wurde zu einem Teil seiner Umgebung, dicht an einer Wand, den er bisher noch nicht näher erforscht hatte. Es war ihm - ebenfalls aus diesem Grund - auch nicht bewusst geworden, dass der Weg vom Boden bis zur Oberfläche immer kürzer wurde.

Deshalb überraschte es ihn umso mehr, als er plötzlich einen heftigen Ruck verspürte und mit einem Affenkaracho durch etwas flitzte, was er nicht definieren konnte, weil er es noch nie gesehen oder gespürt hatte. Es war auch schwarz, aber dies war er mittlerweile gewohnt.
Nach einem heftigen Ritt, der ihm viel länger vorkam, als er tatsächlich dauerte, wurde ihm warm und er begann sich aufzulösen. Es war nicht gerade ein schlechtes Gefühl. Es würde wohl zu seinem Leben gehören, dachte er. Nach kurzer Zeit, die ihm ebenfalls wie eine Ewigkeit vorkam, schwebte er und sah Teile von sich neben sich fliegen.

Diese Erkenntnis machte ihm jedoch viel weniger Sorgen als die andere Erkenntnis, die aus einem großen Feuerball bestand, den er nur kurz aufblitzen sah. Er hatte nicht mehr genug Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen, ob dies das Ende des Lebens war und ob es einen Himmel oder gar eine Hölle gab.
Mit einem leisen Zischen wurde das bewusste Leben des kleinen Tropfens Öl besiegelt. Es reichte ihm nicht einmal mehr zu der Erleuchtung, dass der Sinn seines ganzen Lebens daraus bestand, einen Fünfzylinder-Mercedes um etwa zweikommadrei Mikrometer nach vorne zu bewegen.
 



 
Oben Unten