Das letzte Blatt

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KESCH

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DAS LETZTE BLATT

Gestern war es noch eines von vielen, mit denen der Wind spielte, die er hoch oben in luftiger Höhe einen bunten Reigen tanzen ließ. Heute hängt es einsam und verlassen an einem kahlen Ast, der sich gespenstisch in den grauen Himmel reckt. Die anderen sind über Nacht gefallen, haben sich zu einem rostroten Teppich mit goldenen Schatten ausgebreitet, der geheimnisvoll raschelt.

Das letzte Blatt behauptet sich auf verlorenem Posten, trotzt noch seinem unausweichlichen Schicksal. Die anschwellende Brise läßt es sich immer schneller drehen, immer aufgeregter auf und ab hüpfen wie ein sich vergnügendes Kind. Noch scheint es voller Leben zu sein, ein farbenfrohes Relikt eines längst vergangenen Sommers; und doch ist es nur der abgestorbene Rest einer grünenden Pracht. Da leuchtet es noch einmal wie ein Stern, als sich ein kalter Sonnenstrahl zur graugewordenen Erde verirrt, ehe es zur Nacht hin der herabsinkende Nebel einhüllt in seinen feuchten Mantel.

Am Morgen erwacht es in einem weißen, glitzernden Kleid, das ihm der Rauhreif übergeworfen hat. Jetzt hängt es still in der klaren Morgenluft, sonnt sich ein letztes Mal. Die feinen Eiskristalle beginnen in der höher steigenden Sonne zu tauen und funkeln wie Edelsteine.

Als das letzte Blatt fällt, gleicht es einem mit Diamanten besetzten, in Purpur und Gold schimmernden Stück eines königlichen Gewandes, das zu Füßen seines Trägers liegt. Jetzt ist es wieder eines von vielen.
 



 
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