Das mulmige Gefühl

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brain

Mitglied
Das mulmige Gefühl

Irgendetwas hat deinen Schlummer unterbrochen. Der Wecker kann es nicht gewesen sein; schweigend verkündet er in rot leuchtenden Lettern die späte Stunde.
Verdammt! Verschlafen!
Dein Zug wird noch vor den 3 großen K´s (Kaffee, Kippe, Kacken) seinen Bestimmungsort erreicht haben, während dein Anschlusszug unerreichbar weit weg sein wird.
Keine Zeit zu frühstücken!
Keine Zeit zum Trödeln!
Keine Zeit!
Wenn du dich beeilst, dann … vielleicht schaffst du es noch!
Mit torkelnden Bewegungen schlüpfst du in eine halbwegs saubere Jeans, arbeitest dir sockenähnliche Lappen an die Füße, wirfst dir ein Shirt und einen Kapuzenpullover über und schulterst deinen Rucksack, den du in weiser Voraussicht schon am Abend zuvor mit den nötigsten Accessoires für deine Reise ausgestattet hast.
Die Fahrt zum Bahnhof wird zum Belastungstest für Fahrrad und Fahrer.
Keuchend erreichst du Dein Ziel. du kettest dein Fahrrad an und rennst los.
Lauf!, sagst dud ir. Lauf, als ob es um dein Leben ginge!
Die Last des Rucksacks, die dich an den Schultern gepackt hat wie ein bösartiger Sukkubus, zerrt dich ruckweise und unerbittlich Richtung Erdkern.
Zwischen gut drei Dutzend Leibern erkämpfst du dir einen Platz auf dem Gleis, an dem deine Reise beginnen soll. Der Wind weht dir eine Haarsträhne ins Gesicht. Irgendwo erklingt die Rückkopplung eines übersteuerten Lautsprechers. Und plötzlich spürst du es.
Ein leichtes Stechen in der Magengegend. Schwindelgefühl. Gallenflüssigkeit, die Deine Speiseröhre hinauf kriecht, wie ein Wurm aus Essig. Schwerelose Gedanken.
Du ignorierst es.
Nicht der erste Kater. Und bestimmt auch nicht der letzte.
Kopfschüttelnd und beseelt von dem dringenden Bedürfnis einen Eimer Aspirin zu vertilgen, stehst du am Gleis, als der Zug einfährt. Er ist ebenfalls verspätet.
Die Türen öffnen sich mit einem zischenden Geräusch und du hastest ins Innere, drängelst dich an Ellenbogen und Koffern vorbei, auf der Jagd nach einem Fensterplatz für die lange Fahrt. Jemand rempelt dich an und du plumpst in einen Sitz.
Auch gut.
Doch plötzlich ist das merkwürdige Gefühl wieder da, stärker und beißender als zuvor. Erneut verlieren deine Gedanken den Boden unter ihren Füßen.
Du denkst an den Aspirineimer und schließt die Augen.
Die Türen machen es dir nach und mit einem Ruck setzt sich der Zug in Bewegung.
Ein Knacken ertönt.
Und dann kommt eine Nachricht, die auf einen Schlag deine ganze Anspannung von dir abfallen lässt. Zufrieden und erleichtert lehnst du im Sitz zurück und genießt die Wiederholung der Meldung: "...wiederhole, meine Damen und Herren! Ihr Anschlusszug wartet auf Sie ... in Eschede!"
 
P

Pete

Gast
Originelle Geschichte mit gut gelungenen Parallelen:
Er ist ebenfalls verspätet, so als hättet ihr Euch abgesprochen. (...)
Du denkst an den Aspirineimer und schließt die Augen.
Die Türen machen es Dir nach ...
Mit den drei "Ks" und den "Lappen" hatte ich so meine Schwierigkeiten, weil sie meine Identifikation unterbrochen haben und auch nicht sehr apetitlich sind (schüttel). Die Ks lassen sich problemlos im Zug nachholen (Okay, Kaffee gibt's nich' im Nahverkehrszug). Ich persönlich hätte nur die Morgendusche vermisst. Socken hätte ich frisch aus dem Schrank genommen, meine alten Fußlappen hätte ich im Katermodus nicht so schnell gefunden. Das sind aber nur Problemchen, die ich als spezielles Individuum habe.

Mit Deinen Vorahnungen ("FLIEH" - "FLIEH ODER BETE!") hatte ich die Vorahnung, dass dieser Zug gewiss entgleisen würde, oder Schlimmeres (Zugbombe). Danach kam mir das Ende - notgedrungen - etwas lasch vor. Du hast bei mir damit zu hohe Erwartungen geweckt! Einen Fluchtwunsch im Falle eines Katers, oder gar ein "Kopfschütteln" mit Katerschädel kann ich mir nicht vorstellen, wohl aber Deine Schilderungen:
Ein leichtes Stechen in der Magengegend. Schwindelgefühl. Gallenflüssigkeit, die Deine Speiseröhre hinauf kriecht, wie ein Wurm aus Essig.
Hat mir gut gefallen.

Was meinst Du mit "schwerelosen Gedanken"? Das Gefühl von Schwerelosigkeit? Leichte Gedanken? Gedanken, die davontreiben, bevor Du sie greifen kannst? Das könntest Du präziser ausdrücken!

Du hörst, was Du hören musst: Dein Anschlusszug wartet in Eschede.
Das ist für mich missverständlich. Vielleicht wäre es wirkungsvoller, wenn der Protagonist von seinen Gefühlen oder der Wirkung dieser Nachricht spricht, beispielsweise:
>> Dann kommt eine Nachricht, die auf einen Schlag deine ganze Anspannung abprallen lässt. Zufrieden lehnst du im Sitz zurück und genießt die Meldung, dass dein Anschlusszug in Eschede wartet. <<

Die persönliche Anrede gehört, außerhalb eines persönlichen Briefes, klein geschrieben. Habe ich bis vor Kurzem auch immer falsch gemacht.

Insgesamt ist es Deine Erzählung wert, noch einmal überarbeitet zu werden. Deinem Stil gelingt es, zu fesseln.
 

brain

Mitglied
Servus:)

Also...

...die Lappen und die K´s müssen sein, die find ich gut.

Die FLIEHEREI kam bisher generell net so an in den anderen Foren. Zu offensiv, man weiß dann zu schnell: Aha, da bumsts gleich, gell! Das mach ich weg.

Den Schluss finde ich auch nich so pralle. Ich hab deinen Vorschlag genommen. Das mit dem In-Sicherheit-wiegen- durch "Zufrieden lehnst du dich zurück" is echt gut. Danke auch dafür:)

Schwerelose Gedanken... ja, was ist das? Schon die Tatsache, dass Du so viele Vorschläge für diese Universalmetapher hast, spricht dafür die Frage nicht zu beantworten. Wenn ich selber diese Worte lese ... schwerelose Gedanken ... bedeuten sie für mich immer etwas anderes. je nachdem halt.

Sie wird klein geschrieben? na, wenn sie sich da mal nich irren:)

Grüße

Alexander Boehm
 



 
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