Das rote Kleid

Rakun

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Das rote Kleid

Keine warmen Sommerabende mehr, an denen sie draußen auf dem Bürgersteig vor dem Bistro ihre unbequemen Stühle eng aneinander geschoben hatten.
Der Winter legte seine Dunkelheit jetzt schon früh über alle Häuser und Straßen, gab der Umgebung ein gespenstisches Aussehen, vor dem sie sich fürchtete. Es war kaum etwas zu erkennen in dem fahlen Licht der Laternen. Kaltes Licht, das ihr jedes Jahr um diese Angst machte. Angst, alleine ihre Wohnung zu verlassen. Überall fühlte sie sich verfolgt von fremden Schatten, von Geräuschen.
Letztes Jahr hatte er ihr versprochen sie mitzunehmen.
„In den Süden müssen wir! Dort wirst du alles vergessen.“, hatte er ihr zugeflüstert.
Sie hörte seine Worte immer noch, als ob es gestern gewesen wäre. Dieses Mal hatte sie ihm einfach geglaubt. Sie hielt sich an seinen Worten fest, als ob ihr Leben davon abhinge.
Wie oft hatte er sein Versprechen schon gebrochen? Wie viele Ausreden hatte sie sich seitdem anhören müssen? Wie viele Geschenke hatte er ihr mit jeder Enttäuschung gemacht?

„Sei nicht traurig, bitte sei nicht traurig! Du musst es verstehen, bitte!“ hatte er sie gebeten, als er ihr den neuen gelben Hut vorsichtig aufgesetzt und den neuen blauen Wintermantel um ihre Schultern gelegt hatte. Extra für sie hatte er Pelz aufnähen lassen am Kragen und an beiden Ärmeln. In den Manteltaschen fand sie die Handschuhe, die ihr genau passten. Er kannte sie genau, er wusste alles von ihr. Doch das machte sie nicht glücklicher. Nie wusste sie, ob er wirklich die Wahrheit sagte oder ob er sie nicht abspeisen, beruhigen wollte mit all seinen Geschenken. Doch dieses Mal wollte sie ihm glauben, sie wollte an ihn glauben, sie musste an ihn glauben. Nein, dieses Mal wird er mich nicht enttäuschen, dachte sie und umklammerte ihre Tasse. Der heiße Tee wärmte ihre Finger. Ihren neuen Mantel hatte sie nicht abgelegt, den linken Handschuh nicht ausgezogen.

„Ich werde den Heizkörper höher stellen.“, sagte der Wirt. Rechts von ihr stand ein kleiner alter Heizkörper, gelblich war er gestrichen, er hatte fast die selbe Farbe wie ihr Hut. Sie fror am ganzen Körper.
Nicht einmal frische Blumen standen auf dem runden Tischchen, an dem sie saß, nur die Fensterbank war mit einem Strauß dekoriert, doch der war aus Plastik.
Sie wollte die künstlichen Blumen nicht sehen und hatte sich mit dem Rücken zu ihnen gesetzt. Sie wollte auch nicht durch das riesige eckige Fenster hinaus sehen, sie könnte doch nichts erkennen. Sie fühlte sich beobachtet, fühlte sich beinahe wie auf einer hell erleuchteten Bühne. Jeder konnte sie von draußen sehen, konnte sie sehen, wie sie fror, wie sie allein an dem Tisch saß, wie sie ihre Tasse fest hielt, wie sie sich nicht zu bewegen wagte. Doch niemand konnte ihr Gesicht sehen, keiner konnte erkennen, wie ihre Ungeduld immer größer wurde, konnte sehen, wie sie vor sich hin starrte, wie sie beinahe das Atmen vergaß und auf jedes Geräusch hörte.
Niemand sah, dass sie unter ihrem Mantel ein ausgeschnittenes Kleid trug. Er hatte es ihr geschenkt. Rot war der feine Stoff, rot für das Zeichen ihrer Liebe, rot für all die Sonnenuntergänge. Die sie ab heute jeden Abend im Süden zusammen erleben wollten.

Gut, dass sie ihren Mantel nicht ausgezogen hatte, denn die runde Marmorplatte fühlte sich so kalt an wie nie zuvor. Die langen Ärmel wärmten ihre nackten Arme. „Dein letzter Wintermantel“, hatte er geflüstert. Jetzt schützte er sie vor fremden, neugierigen Blicken, denn jeder hätte sie nur ungläubig angestarrt, in ihrem schönen roten Kleid, das nicht in diese Jahreszeit passte und auch nicht in dieses Bistro.

Die runden Deckenlampen warfen ihr mattes Licht durch die Fensterscheibe nach draußen in den dunklen Abend. Das Spiegelbild bildete eine gleichmäßige Lichterkette. Zwei Reihen, wie die Positionslampen auf dem Rollfeld. Es war kein warmes Licht, es war kalt und ungemütlich.
Der kleine Rippenheizkörper rechts neben ihr war so alt, dass er alleine den Raum nicht beheizen konnte. Sie hätte eine gute Ausrede gehabt, warum sie ihren Mantel noch trug.
Keiner wäre auf die Idee gekommen, dass sie ihn noch trug, ihren Mantel, weil sie einfach nur auf dem Sprung war, weil er gleich kommt, sie abzuholen und dann wollte sie keine kostbare Zeit verlieren. Ihren Tee hatte sie schon bezahlt, als der Wirt ihn an ihren Tisch gebracht hatte. Jede Minute, die sie verschwenden würde, wäre viel zu wertvoll. Jede Sekunde an diesem Abend brachte sie näher in ihr neues Leben.
 



 
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