Das ungezogene Rotkäppchen

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Der Titel dieser etwas länger ausfallenden Geschichte schockiert. Das soll er auch, weil zu viele falsche Vorstellungen über das ach so artige Rotkäppchen kursieren. Der leichtgläubige Leser verharrt in seiner Kindheitserinnerung, es sei brav und folgsam gewesen. So jedenfalls gaukelten es die beiden Märchenonkel, die Gebrüder Grimm, vor. Die Realität sah aber anders aus.
Es hat bisher zahlreiche Versuche gegeben, dem wahren Sachverhalt um Rotkäppchens Tun auf die Spur zu kommen. Dabei bleibt ihre vorpubertäre Phase reichlich verbrämt. Jawohl verbrämt, denn die 8 bis 10jährige – eine genaue Altersangabe fehlt – hatte ihre kindlichen Macken. Wie jedes Kind dieses Alters. Wenn man liest, dass die Mutter die Kleine mit einem gefüllten Korb zur Großmutter in den Wald schickte, damit die wieder genese und auf die Beine komme, dann bleibt völlig unerwähnt, dass auch Rotkäppchens Vater an der Bestückung des Korbs beteiligt war. Und zwar in lobenswerter Weise. Er hatte die Flasche Wein, die dem Korb beigegeben war, leergesoffen und anschließend mit roter Limonade gefüllt. In der redlichen Absicht, seine Mutter, denn das war die Großmutter, vor zunehmender Alkoholsucht zu bewahren. Oma pichelte nämlich gern. Immer wenn es sie nach Wein verlangte, gab sie vor, krank zu sein. Im Märchenwald nannte man sie deshalb ‚Schnapsdrossel‘, obwohl sie keinen Schnaps trank. Das tat ihr Sohn, Rotkäppchens Vater, um sie vor noch schlimmeren Leberschäden zu bewahren.
Das Märchen ist in seiner Fassung zu sehr auf Rotkäppchen fokussiert. Den Nebenpersonen wird nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Aus diesem Grunde weise ich genauer auch auf Rotkäppchens Mutter hin. Die sandte ihr Töchterchen keinesfalls aus Sorge um ihre Schwiegermutter los, sondern von der bösen Hoffnung beseelt, sie möge bald das Zeitliche segnen. Dass Rotkäppchen auf dem Wege zur Großmutter dem Wolf begegnete, war eine von der Mutter inszenierte Boshaftigkeit. Die Oma hauste nur deshalb in einer reparaturbedürftigen Waldhütte, weil sie die Nähe der hinterhältigen Schwiegertochter nicht ertragen konnte.
Emma Rosenduft war nicht die sympathische Mutter, Schwiegertochter und Ehefrau, sondern eine von den Bewohnern des Dorfes gemiedene Person. Man nannte sie „Hosenduft“. Dass kränkte die habgierige Frau, weshalb sie sich nur selten sehen ließ.
Verständlich, dass von dem miesen Charakter der Mutter auch an Ottilie Rosenduft, so Rotkäppchens Name, etwas hängen geblieben war. Sie hasste den Familiennamen Rosenduft. Sie wusste, dass der ins Lächerliche gezogen wurde. Deshalb stahl sie einem durchs Dorf ziehenden Händler ein rotes Samtkäppchen und trug es seitdem. Wenn Dorfkinder sie Hosenduft hänselten, streckte sie ihnen die Zunge raus und rief, dass sie Rotkäppchen heiße.
Eine Gleichaltrige, die diesen Ersatznamen nicht akzeptierte, wurde von Ottilie Rosenduft windelweich geschlagen. Seither mieden sie auch die Jungen des Dorfes, weil sie, wenn in Wut geraten, wie eine Wildkatze biss und kratzte.
Frauenrechtlerinnen könnten mir nun vorhalten, ich würde mich mit der abfälligen Charakterisierung Frau Rosendufts und deren Tochter als Frauenhasser gebärden. Dem ist nicht so; ich mag Frauen, vor allem wenn sie noch nicht dreißig sind.
Da sich Wahrheit nicht vertuschen lässt, wende ich mich zwecks Aufdeckung weiterer Tatsachen dem Märcheninhalt selbst zu. Hierbei muss ich aber noch einmal auf den Titel dieser Geschichte zurückgreifen. Hätte ich sie mit ‚Das liebenswerte Rotkäppchen‘ oder ‚Die brave Maid mit dem roten Käppchen‘ überschrieben, dann wäre das kopfnickend akzeptiert worden.
Die Überschrift ‚Das ungezogene Rotkäppchen‘ lässt aber sofort ahnen, dass mit diesem glorifizierten
Girl etwas nicht stimmen konnte. Und in der Tat, bereits bei der Entgegennahme des mit einer Weinflasche und einem Kuchen gefüllten Korbes maulte das Mädchen, dass es keine Lust habe, schon wieder mit solcher Last durch den Wald latschen zu müssen. Die Mutter strafte es mit bösem Blick und aktivierte Rotkäppchens Lust derweise, dass es bei erfolgreicher Rückkehr etwas Schönes erhalten werde.
„Bestimmt wieder scheiß kandierten Äpfel“, meinte es unzufrieden.
Frau Rosenduft klebte ihr eine. Widerwillig ging das Mädchen nun, hinterließ aber die Bemerkung: „Hoffentlich wird bald ein Kinder- und Jugendschutzgesetz verabschiedet, das auch die Prügelstrafe verbietet.“
Die Mutter hierauf: „Darauf kannst du lange warten.“ Womit sie recht hatte.
Nichtsahnend betrat die freche Göre bald darauf den Wald. Sie wusste nicht, dass die Mutter mit dem Wolf eine Übereinkunft getroffen hatte, die beinhaltete, dass er zunächst die Tochter und dann die lästige Großmutter fressen solle. Das als böser Wolf verschriene Tier war nicht böse. Jedenfalls anfangs nicht. Deshalb fragte er Frau Rosenduft, weshalb sie ihn zu solcher Gemeinheit veranlassen wolle. Das sei keine Gemeinheit, sondern eine Notwendigkeit, versuchte sie, den Wolf willfährig zu machen. Der konnte nicht verstehen, dass sie als Mutter ihr eigenes Kind ihm zum Fraße vorwerfen wolle. Rotkäppchen sei nicht ihre Tochter, ihr Mann habe sie in die Ehe mitgebracht, log sie. Das Mädchen sei charakterlich verdorben, faul und sehr ungezogen. Übermütig hätte es einmal geäußert, dem bösen Wolf den Schwanz abzuschneiden.
Der Wolf guckte verdutzt. Das hätte er Rotkäppchen nicht zugetraut. Damit war für ihn die Entscheidung gefallen. Er werde Rotkäppchens Fleisch mit Genuss verzehren. Die Großmutter weniger genüsslich, weil die sicherlich recht zäh sei. Er könne sie ja im Ganzen herunterschlucken, empfahl die Rosenduft. Bedenken äußerte der Wolf dahingehend, dass ihn die Polizei jagen und erschlagen werde, sollte sie ihn als den Menschenfresser ausmachen. Da könne er unbesorgt sein, versicherte die Rosenduft, sie werde ihre ganze frauliche List in die Waagschale Justitias werfen und den lieben Herrn Wolf völlig entlasten. Schlimmstenfalls würde sie ihren Mann zum Schuldigen erklären und dem Gericht weißmachen, er sei Hobby-Kannibale.
„OK!“ sagte der Wolf, „dann werde ich zunächst Rotkäppchen auflauern, um es zu schnabulieren und dann der Alten den Garaus machen.“
Mit diesen Worten begann der Wolf, der böse Wolf zu werden..
Er versteckte sich hinter einen Busch am Rande einer Waldwiese und wartete geduldig auf das Erscheinen Rotkäppchens. Als er dessen trippelnde Schritte vernahm, troff ihm der Speichel aus dem Maul. Seine lange Zunge fuhr leckend von einem Mundwinkel zum anderen. Als es am Busch vorüber schlenderte, schnellte er hinter diesem hervor, kratzte sich am Hintern und jammerte gekünstelt: „Es ist nicht zum Aushalten mit den Ameisen. Ständig piesacken sie mich am Arsch.“
Rotkäppchen, gar nicht erschrocken über sein plötzliche Erscheinen, meinte lapidar: „Du solltest mal ordentlich im Waldbach baden, dann werden die Ameisen dich Drecksack auch meiden. Außerdem würdest nicht mehr so fürchterlich stinken.“ Sie zog die Nase kraus.
Mit dieser Reaktion hatte der Wolf nicht gerechnet. Dass er stinke, war ihm peinlich. Das hatte ihm noch niemand so unverblümt ins Gesicht gesagt. Ein hinreichender Grund also, das freche Kind sofort zu verspeisen. Aber samt seiner Kleidung? – Nein! Widerlich, Stofffetzen zwischen den Zähnen zu haben. Sie muss nackt sein.
„Würdest du mich zum Waldbach begleiten?“ fragte er lauernd. „Dann siehst du, ob ich wirklich bade.“
„Warum nicht? Es ist heute ganz schön heiß. Also gehen wir!“
Die bedenkenlose Furchtlosigkeit Rotkäppchens erstaunte ihn. Den Leser der Geschichte erstaunt ihre Schamlosigkeit. Als Minderjährige waren ihre weiblichen Formen zwar erst im Werden begriffen, doch sich einfach entblößen zu wollen, übersteigt das prüde Verständnis vor allem der älteren Leserinnen.
Dem Wolf machte Rotkäppchens Unbekümmertheit ein bisschen Angst.
„Hast du ein Messer bei dir?“ fragte er argwöhnisch.
„Nein! Wieso?“
Er sagte nicht, weshalb er gefragt hatte. Seine Furcht, sie könnte ihm den Schwanz absäbeln, war somit unbegründet.
Das Mädchen lachte plötzlich: „Jetzt weiß ich, weshalb du nach einem Messer gefragt hast. Du möchtest den Kuchen anschneiden, den ich im Korb habe. Stimmt’s, alter Vielfraß?“
„Ja, ja, natürlich“, stotterte er, „deshalb.“
„Kein Problem, auch ohne Messer kriegen wir ihn klein. Nach dem gemeinsamen Bad im Waldbach werden wir picknicken. Die Flasche Wein hauen wir dabei mit auf den Kopf.“
Junge, Junge, die ist aber kess, dachte sich der Wolf. Doch mir soll’s recht sein. Wenn sie sich entkleidet hat, fresse ich erst sie und dann den Kuchen. Mit dem Hinweis, dass beide Dinge doch für die Großmutter bestimmt seien, testete er das Gewissen des Mädchens. Das meinte völlig gefühlskalt:
„Die Alte lebt sowieso nicht mehr lange. Ein Kuchen und eine Flasche Wein weniger verlängern ihr Leben auch nicht.“
Der Wolf war froh, nicht die Großmutter zu sein. Eine solche brutale Enkelin könnte später einmal, wenn das Fernsehen erfunden sei, zur Gruselgestalt in Altersheimen werden.
Am Waldbach angekommen entledigte sich Rotkäppchen seiner Kleidung. Dann watete es ins Wasser.
Weil der Wolf zögerte, zu folgen, forderte es ihn auf: „Na los, alter Stinker, hinein ins kühle Nass!“
Er wollte nicht eingestehen, dass er wasserscheu ist. Deshalb log er, eine Wunde unter seiner linken hinteren Pfote zu haben. Rotkäppchen kehrte ans Ufer zurück und erklärte, dass sie die wunde
Stelle mit einem Fingernagelreiniger, den sie zufällig bei sich habe, vom Schmutz befreien werde. Das sei notwendig, um eine Blutvergiftung zu verhindern.
Angstschweiß bildete sich in des Wolfs Fell. Plötzlich lachte er gequält und sagte: „Angelogen und betrogen! Ich habe gar keine wunde Pfote!“
„Waaas?!“ zürnte Käppchen, „du hast mich angelogen? Wegen dieser Frechheit werde ich dir jetzt den Schwanz ausreißen!“
Man stelle sich vor, liebe Leser, ein splitterfasernacktes Mädchen will sich an einem Schwanz zu schaffen machen.
Der Wolf zweifelte keinen Moment daran, dass Rotkäppchen das tun werde. Ohne weiteres Besinnen ergriff er die Flucht, dabei zurückrufend: „Der Kuchen soll dir im Halse stecken bleiben!“
„Der ist für die Großmutter bestimmt, du Trottel! Warum haust du eigentlich ab?“
Die Antwort blieb er ihr schuldig.
An dieser Stelle müsste das von den Grimms verfasste Märchen eigentlich enden. Deshalb enden, um die märchenverliebten Kinder nicht mit der Bestialität des Wolfs zu konfrontieren, der Großmutter und Rotkäppchen verspeist hatte. Man entsetzt sich gar zu gern über die heutzutage herrschende Brutalität und Rücksichtslosigkeit. Die gab es schon früher, wie Grimms Märchen beweisen.
Die durch mich erfolgte Darstellung des wahren Sachverhalts trägt hoffentlich zum Abbau von Ängsten beim Lesen von Märchen bei und regt an, den Inhalt vieler dieser Schauergeschichten zu hinterfragen.
Interessant wäre auch, die Pubertätsjahre Rotkäppchens zu betrachten. Vielleicht werde ich mich dieser ihrer Lebensphase in einer anderen Geschichte zuwenden.
 



 
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