Das, was bleibt

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chrissieanne

Mitglied
„And isn't it ironic? don't you think? and isn't iiit ironic? .... I said IYeahYeah......."
Alanis Morisette ekstatet durch und durch den Raum, entwurzelt die letzte Scham, reißt Marion mit durchs verrauchte Universum, schweißnasses Konzentrat des Jetzt. Ihr Körper bäumt sich hinein und fällt auf, kreist zuckend seine Bahnen.

„Hey, hast du Lust auf 'ne Line?", murmelt dunkel eine Stimme an ihrem Ohr.
Sie nickt, läßt sich von warmer Hand dahin führen, wo es nach Urin und Abenteuer riecht.
Das Pulver beißt vertraut bitter. Sie kichert, er lacht und steckt die Kreditkarte wieder ein.
„Guter Stoff ist das, du wirst sehen."
Er küßt weit und tief, kurz und schnell, schleckt ihr Hirn völlig leer.

„Wer war denn der süße Typ, mit dem du vom Klo gekommen bist, he?" Eine Frau, die sie von irgendwoher kennt, will sie aufhalten. „Keine Ahnung. Nie gesehen. Komm - tanzen." Sie umfaßt eine weiche Taille und führt sie auf eine Reise mit Nirwana ins. Taucht ihre ginwunde Zunge ins Amarettoland.
„Nicht doch, du bist ja völlig verrückt!" Ein Gesicht wendet sich ab, ohne sie loszulassen.
„Yeahhh - entertain me", brüllt Marion, nicht ganz im Einklang mit Curt und schwebt zum Tresen, verfolgt von flirrender Begierde.

„Noch ein Bier für mich, bitte Jan." Sie steht und grüßt nach links und rechts in strahlend interessierte Augen.
„Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?" Eine männliche Stimme aus einem bekannten Gesicht fordert Diskussion, die sie brillant mitfiebert bis hin zum Elend der Massentierhaltung, dem Hickhack der großen Koalition, dem Für und Wider der Platonschen Ideen zum Staat, der Hysterie Vogelgrippe, dem Sinn und Zweck der selbstgewählten Einsamkeit und dem Preis, den man dafür zahlt, und dem Sinn des Lebens als solches, was ja im Grund genommen phantastisch ist. Da sind sich alle einig. Denn mittlerweile diskutiert der ganze Tresen mit sich selbst. Und sie ist mitreißend und unglaublich klug. Alle sind sich da einig.

Sie gibt aus und sie bekommt ausgegeben. Geht tanzen, quatscht hier, knutscht da.
Bis nur noch sie ausgibt.
„Ach, du willst schon gehen? Ach, koooomm. Ist doch grad so schön. Ein Bier geht noch. Übrigens ... ich hab nochmal über deine These vom Werteverfall in der Gesellschaft nachgedacht. Also....."
„Ne, ein anderes Mal. Ich bin müde"
Irgendwann streichelt ihr jemand über den Hintern.
„Tschau, war `ne schöne Nummer. Hier - für dich."

Auf dem Klo schließt sie sich ein. Nimmt ihre Sparkassenkarte um weißes Pulver zu hacken. Zieht es mit dem letzten Fünf-Euro-Schein in die Nase.
Das Leben ist geil, liegt bunt und schrill ausgebreitet vor ihr.

Louis Armstrongs Trompete weint. „The tables are empty - the dancefloor deserted..." Ella Fitzgerald begleitet sie zum Schafott.
„Wo sind denn Micha und Ulli? Und Silke? Ich wollte doch noch 'ne Runde geben?"
Jan poliert müde Gläser. „Sind gegangen. Es ist sechs Uhr! Feierabend, Marion. Willste noch 'ne Pfütze?"
Sie nickt ergeben und schnauzt den traurigen Menschen neben sich an.: „Nein danke - keinen Bedarf - bin schon vergeben."

Sie stapft verbrannt durch den Neuschnee. Ihr Kopf dröhnt, die Möse brennt - ihr Gewissen schweigt noch still. Vertraute Enttäuschung trägt sie durch die Kälte. Alte Sehnsucht saugt die hellen Flocken auf.

Alles lange her. Alles wie gehabt.

Sie schließt die Haustür auf. Steigt drei Treppen. Schwer atmend öffnet sie ihre Wohnungstür. Stille wartet da und der Geruch nach einsam verkochtem Eintopf.

Im Bad reinigt und cremt sie ihr Gesicht. So stoned kann sie gar nicht sein, dass sie das vergißt. Mit fünfundvierzig ist das so.

Im Wohnzimmer blinkt der AB. „Schatzi, ich hoffe du hast Spaß heute nacht. Treffen wir uns morgen zum „Tatort"? Du kochst was Schönes, und ich bring Wein mit, wie immer, ja? Bis denn. Bussi."

Sie seufzt und lächelt zärtlich, gießt sich den letzten Schluck aus der Flasche, die noch auf dem Couchtisch steht, ein und geht auf den Balkon. Die Fenster gegenüber schweigen finster, unten auf der Straße albert ein Pärchen sich ins erste Mal.

Der Oleander ist erfroren. Sie hat vergessen ihn rechtzeitig ins Warme zu nehmen. Unter der frischweißen Haube sieht man den Tod nicht.
Sie prostet ihm zu.
„Verzeih mir, bitte. Es tut mir so leid. Erzählst du mir nun die alte Geschichte von der Schönheit, die immer bleibt?"
Sie lauscht in den Schnee, breitet die Arme aus und verbeugt sich.
Nichts ist und alles stirbt.
Du bist, was bleibt und immer war.
„Bonjour tristesse,"flüstert sie,
„bonjour tristesse, mein Leben."
 

chrissieanne

Mitglied
nur durch zufall, weil kurz reingeschaut, hab ich deinen kommentar gesehen. warum auch immer funktioniert die e-mail benachrichtigung bei mir wohl nicht mehr.
also vielen dank, bonanza, fürs lesen und kommentieren.
"herrjeh, was für eine kunstwelt." was meinst du mit kunstwelt? den rausch?

newdawnhawk (oder so), erklärst du mir deine vier?
danke.
lg
chrissieanne
 
B

bonanza

Gast
die ganze szenerie wirkt auf mich künstlich.
eine dieser kunstwelten - mit drogen, flitter, styling,
schönheit ...
eine welt zum leichtnehmen mit dem bitteren nachgeschmack
der sinnentleertheit.

bon.
 

NewDawnK

Mitglied
Hallo Chrissieanne,

ich kann Dir meine Wertung leider nur intuitiv erklären.
Wenn ich meine Mitmenschen so lieblos und negativ sehen würde, wie Du sie hier beschreibst, würde ich mich vor den nächsten Zug werfen. Das ist alles.

Gruß, NDK
 
F

Fitzberry

Gast
Hallo Chrissieanne,

Kunstwelt finde ich auch, wobei ich der Ansicht bin, wir leben ohnehin in Kunstwelten. Dann sind mir selbstinszenierte (wenn auch nicht unbedingt mit drugs) doch noch lieber.

Unter der frischweißen Haube sieht man den Tod nicht.
Schön, obwohl: man weiß ihn halt trotzdem.

Schönen Sonntag
Robert
 

chrissieanne

Mitglied
Hallo an Euch, und vielen Dank für eure Rückmeldungen und Kommentare.

Glitter und Flimmer spielen hier überhaupt keine Rolle und auch nicht künstliche Schönheit. Eher die Vergänglichkeit der Schönheit und Jugend. Und echte Sehnsucht nach Intensität , die es im “wahren” Leben der prot. nicht gibt.
Diese Party ist für sie ein Trip in ihre Vergangenheit in der sie immer wieder diese Exzesse lebt, mit dem immer wieder unvermeidlichem schmerzhaft enttäuschenden Erwachen in die “Realität“. Um wieder erneut zu flüchten in ihr eigentliches ich, dass, so erlebt sie es, nur mit Hilfe von Drogen und oder Alkohol wirklich sich selbst sein darf.
“alles lange her - alles wie gehabt”

Sie hat Frieden geschlossen mit ihrer Realität, auch wenn es manchmal noch weh tut.
Sie betrachtet ihr “langweiliges” Leben zärtlich und sieht Schönheit in der Traurigkeit, der Einsamkeit -
und in der Endlichkeit. Auch wenn sie immer noch gegen das älter werden cremt.

So wars gemeint. Eine Kunstwelt zu beschreiben hatte ich nicht im Sinn. Aber interessant ist es, wie andere es lesen und so gesehen stimme ich Fitzberry ausdrücklich zu.

NewDawnHawk - deine Begründung verstehe ich überhaupt nicht. Wo stelle ich irgendwen lieblos oder negativ dar?

lg
chrissieanne
 

NewDawnK

Mitglied
Chrissieanne, wie soll ich Dir nur von den wunderbaren Farben erzählen, in denen ich persönlich die Menschen sehen...?
Dein Text badet in Oberflächlichkeiten - bei diesem Menschenbild ist der Lack in der Tat schnell ab.
Das, was bleibt, sollte zumindest der Würde des Menschen gerecht bleiben. Gerade davon ist in Deinem Text leider nicht viel zu lesen.

Gruß, NDK
 
H

Henry Lehmann

Gast
Als Hommage an Bret Easton Ellis wäre dieser Text sehr gelungen....
 

chrissieanne

Mitglied
ich muss zu meiner schande gestehen - ich hab ellis nie gelesen. auch american psycho nicht. auch den film habe ich nicht angeschaut. sollte ich vielleicht mal.
als hommage an ihn wäre der text gelungen. und was heißt das nun? da er das ja nun nicht ist?
 
H

Henry Lehmann

Gast
Ursprünglich veröffentlicht von chrissieanne
ich muss zu meiner schande gestehen - ich hab ellis nie gelesen. auch american psycho nicht. auch den film habe ich nicht angeschaut. sollte ich vielleicht mal.
als hommage an ihn wäre der text gelungen. und was heißt das nun? da er das ja nun nicht ist?
Nun ja, ich wollte damit sagen: Ellis nimmt man solche Geschichten ab. Als Text von chrissieanne kann ich die Geschichte aber irgendwie nicht richtig ernst nehmen. Ich fragte mich, warum schreibst Du das? Findest Du das Hip? Ist das Deine Welt?

Das waren meine ersten Gedanken zu dem Text, der handwerklich sehr gut gelungen ist. Ich dachte, hier entflieht eine Hausfrau wieder ihrem drögen Alltag. Dann hab ich dein Profil angeklickt und dachte, dass man in Berlin am Tresen vielleicht doch so etwas erleben könnte. Also vielleicht doch Deine Welt?

LG Henry
 

chrissieanne

Mitglied
*lacht*
ich verstehe. mit chrissieanne verbindest du also ein frustriertes hausmütterchen. vielleicht sollte ich mal meinen nick ändern. oder sind meine anderen texte vielleicht so bieder? wobei ich natürlich nicht sagen will, dass hausfrauen perse bieder sein müssen.
nee, also hip finde ich gar nix. allein der begriff läßt meine zehennägel kräuseln.
chrissieanne schreibt sowas, weil es ein teil von ihr ist. wie vieles andere auch. aber dieser teil ist schon sehr ausgeprägt, ich gebe es zu.


Also vielleicht doch Deine Welt?
Yep.
 

GabiSils

Mitglied
Der Schluß gefällt mir nicht recht, chrissieanne (letzte zwei Zeilen); ich bin nicht sicher, ob du sie einfach weglassen oder umformulieren könntest. Sonst finde ich es gut und absolut nachvollziehbar.

Gruß,
Gabi
 
F

Fitzberry

Gast
Ok, dann will ich jetzt auch ein bisserl mäkeln, aber nur ein ganz klein wenig ... ;-)

und schnauzt den traurigen Menschen neben ihr an.
neben sich ?

Was die Tristesse betrifft, stimme ich Gabi zu. Die Erzählung verlöre nicht ohne die letzten beiden Zeilen. Zumindest die allerletzte würde ich weglassen.

Schönen Abend
Robert
 

chrissieanne

Mitglied
hallo gabi, hallo fitzberry,
den schluss ganz weglassen geht doch eigentlich nicht, weil die "tristesse" ist ja das, was bleibt.
und das doppelte soll die melodramatik die die prot da inszeniert betonen. sie begrüßg zwar ihr tristes leben zurück nach dem partyrausch, aber sie ist ja noch ziemlich stoned.
aber wenns wirklich beim lesen aufstößt, entferne ich das zweite "boujour".
ach, und na klar, neben sich muss es heißen.
danke.
liebe grüße an euch beide von
chrissieanne
 



 
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