Deborahs Seele

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Hagen

Mitglied
Deborahs Seele

Kurz nachdem ich mich von meiner Frau getrennt hatte, fand ich eine kleine Wohnung ganz für mich alleine. Auf der Arbeit hatte ich mir ein paar Tage frei genommen und mein Nachbar, packte mit an, als ich das Notwendigste, damals noch eine Schreibmaschine, viele Bücher, einer Schrank dafür, Schreibtisch, Stühle und ein Bett sowie meine Klamotten in meine neue Behausung brachte. Küche war vorhanden, das Telefon war auch wieder freigeschaltet und eine Kaffeemaschine sowie etwas Geschirr besorgte ich mir. Den Rest sollte sie behalten oder sich dahin schieben, wo die Sonne nie scheint.
Mein Nachbar schien ein netter Kerl zu sein, Herr Krüger hieß er, wir wollten bei Gelegenheit mal einen trinken, wenn es sein Dienst erlaubte und wie es unter guten Nachbarn üblich ist.
Es schien alles klar zu sein und ich atmete erst mal richtig durch, ein Radio nebst Zeitschaltuhr rundete mein Equipment ab; - ich war glücklich - wenn nur diese Alpträume nicht wären, und irgendwie machte sich das Gefühl in mir breit, das Schicksal würde nur tief Luft holen und ordentlich Energie sammeln um mir dann anständig in den Arsch zu treten.
Genauso geschah es dann auch, es klingelte Sturm und bevor ich öffnen konnte, hatten sie mir die Tür eingetreten. Mein neuer Nachbar stürmte in die Wohnung, gefolgt von einem anderen Herren und dann kamen lauter Polizisten rein und behaupteten, hier hätte eine Schießerei stattgefunden und ich hätte drei Leute umgebracht.
Aber nichts dergleichen, da hatte sich wohl ein Witzbold einen Scherz erlaubt, und während sie sich entschuldigten, sprang draußen die Wellenturbine des Rettungshubschraubers an. Es war nicht irgendein Hubschrauber; - es war der Hubschrauber, der Huey, den ich damals in Vietnam geflogen hatte, bei der 1st Air Cavalry!
Meine Deborah! Die Mutter meiner Alpträume.
Unverkennbar, obwohl er jetzt das Safe and Rescue-Orange trug, erkannte ich ihn am Heulen der Avro Lycoming T53-11 – Turbine, am Schlagen der Rotorblätter, an seiner Aura, einfach an allem, und die Wellenturbine lief mit schrillem Heulen hoch.
„Was soll das denn?“ mein Nachbar stieß die Worte aus und wir stürzten zum Fenster.
Um den Hubschrauber hatte sich die übliche Menschentraube gebildet, neben dem rechten, vorderen Einstieg stand der Pilot und trommelte mit den Fäusten ans Kabinenfenster.
„Da haut einer mit dem Rettungshubschrauber ab!“ murmelte Herr Krüger fassungslos, „das gibt es doch gar nicht!“
In diesem Moment hob der Hubschrauber tatsächlich ab, kippte in etwa zehn Meter Höhe leicht nach vorne, flog mit tänzelndem Heck dicht über eine Baumgruppe und senkte sich hinter den Bäumen sofort wieder in Bodennähe. Nur das sich langsam entfernende Rotorengeräusch zeigte an, dass der Hubschrauber nicht gleich wieder gelandet war.
„Das darf doch nicht wahr sein!“ fluchte Herr Krüger, „das hat es doch noch nie gegeben! - Darf ich mal eben?“
Er stürzte zum Telefon, rief das Krankenhaus an und meldete, dass der Rettungshubschrauber wild gestartet war, sicher ein fingierter Anruf um den Hubschrauber klauen zu können, denn am Einsatzort hätte überhaupt keine Schießerei stattgefunden, gar nichts.
„Eine Scheiße ist das!“ fluchte Herr Krüger wieder, „welcher normale Mensch klaut denn einen Rettungshubschrauber? Und denn noch son altes Ding?“
„Sie fahren jetzt ins Krankenhaus?“ fragte ich vorsichtig, „darf ich vielleicht mitkommen? – ich hab da so ein dumpfes Gefühl, was den Hubschrauber betrifft!“
„Naja, wenn es Ihnen nichts ausmacht, schaden kann es ja nicht! – Los, gehen wir.“
„Sagen Sie mal, sind Sie Notarzt? Muss ich jetzt ‘Herr Dr. Krüger‘ zu Ihnen sagen?“ fragte ich im Lift nach unten.
„Ja, aber das mit dem Doktor wollen wir ruhig weglassen. – Was haben Sie denn für eine dumpfe Ahnung?“
„Naja, ich habe in Vietnam genau den Hubschrauber geflogen. Wir haben ihn ‘Deborah‘ genannt, aus reiner Sentimentalität. – Manchmal tun Flugzeuge etwas, was man sich mit normalem Verstand nicht erklären kann…“
„Meinen Sie, der ist von selber losgeflogen? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht!“
„Nicht direkt…“
Der Lift hielt bevor ich antworten konnte, die Tür glitt zur Seite, wir rannten zu dem Platz, an dem der Hubschrauber noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte.
Der Pilot riss sich den Helm vom Kopf und schmiss ihn auf den Boden.
„So eine Scheiße! Da klaut einer den Rettungshubschrauber! Das darf doch nicht wahr sein! – Nicht mal richtig geradeaus fliegen kann der!“
„Sie hätten drin sitzen bleiben müssen!“ sagte Herr Dr. Krüger.
„Ja Scheiße, damit die Kinder mir inzwischen den Heckrotor abbauen, oder was? In dieser Scheißgegend.“
„Tja…“
Glücklicherweise hatten die Polizisten einen Bus mit, und wir stiegen alle ein.
„Noch nicht mal richtig geradeaus fliegen kann der!“ fluchte der Pilot als er sich auch noch in den Bus quetschte.
„Der flog gefechtsmäßig, der kann nicht anders“, sagte ich, „in Vietnam haben wir den Huey immer so geflogen. Schön dicht am Boden, jede Deckung ausnutzen und nie ruhig geradeaus fliegen.“
„Scheiße!“ murmelte der Pilot und er murmelte während der ganzen Fahrt nichts anderes.
Vor dem Krankenhaus standen einige Weißkittel und dann kamen noch einige und brachten drei Tragen mit. Sie fragten grinsend, wo denn der Hubschrauber sei.
Der Pilot wollte auf sie los.
„Reg dich ab, Mann“, sagte einer, „der kommt gleich und bringt drei ‘Grunts‘ mit. – Weiß einer, was ‘Grunts‘ sind? Der Knabe im Hubschrauber sprach amerikanisch.“
Die weißbekittelten Herren wirkten etwas irritiert, ich kam mir deplaciert vor. Wir standen und warteten – warteten auf was eigentlich?
„Während des Vietnamkrieges bezeichnete man die Infanteristen, die sogenannten Frontschweine als ‘Grunts‘“, sagte ich, „kommt von ‘to grunt’, wie ‘grunzen‘, und ist ein Wortspiel weil sich ‘grunt’ so ähnlich wie ‘ground’ ‘Boden‘ anhört.“
„Wo soll der Hubschrauber denn amerikanische Infanteristen herkriegen?“
„Ich nehme an aus Vietnam.“
„Quatschen Sie doch nicht, der Vietnamkrieg ist längst vorbei! – Was haben Sie hier überhaupt zu suchen?“
Ich wollte ihm gerade sagen, dass mir das nicht entgangen war, weil es ja in der Zeitung gestanden hatte, als sich der Rettungshubschrauber plötzlich wie ein riesiges Insekt über das Dach des Krankenhauses hob und in dem Höllenlärm der hochgetourten Wellenturbine auf das H des Landeplatzes senkte.
Auf der linken Seite liefen die Einschläge irgendwelcher Geschosse quer über den ganzen Rumpf, die Seitentüren standen offen und als die Kufen auf den Betonbelag stießen, fiel ein M-16 Infanteriegewehr zu Boden.
Der Weißkittel neben mir keuchte irgendwas, packte eine der Tragen und wir rannten zum Hubschrauber. Blut war überall auf dem Boden, zwei grüne Stahlhelme darin, und drei Männer in grünen Uniformen, durchgebluteten Verbänden, etlichen Runden Munition um die Schultern und schmerzhaft verzerrten Gesichtern.
Das Heulen der Turbine wurde leiser und tiefer während wir die Verletzten auf die Tragen legten. Die Weißkittel brachten sie im Laufschritt weg.
Erst jetzt, als sich die Rotorblätter nur noch langsam und lautlos drehten, vernahm ich ein Stöhnen und die Stimme des Piloten:
„Klaut der doch einfach unseren Hubschrauber!“
Der Pilot schlug auf einen Mann mit Halbglatze und grauem Anzug ein.
„Sind Sie denn verrückt“, ging ich dazwischen, „machen Sie sich nicht unglücklich! – Der Mann kann nichts dafür!“
Der mit der Halbglatze sah erst mich und dann den Hubschrauber fassungslos an.
„Was ist geschehen?“ murmelte er tonlos, „wie komme ich hierher? – Mein Gott, meine Frau wartet auf den Brokkoli. Den habe ich gerade gekauft, bei dem Türken an der Ecke, war gerade im Angebot, meine Frau wartet darauf. – Wie komme ich hierher? Oh Gottohgottohgott…“
„Wir werden Ihre Frau verständigen“, sagte ich und kam mit Hilflos vor. Glücklicherweise kam Herr Dr. Krüger angerannt und wandte sich an den Piloten:
„Hol‘ doch mal Doktor Kretschmer, aber schnell!“
„Was? Den Psychofritzen, der immer mit Hypnose rummacht?“
„Genau den! Und nun mach hin!“
Der Mann rannte los.
„Wo ist denn der Brokkoli?“ fragte der Mann mit der Halbglatze, „ich muss unbedingt nach Hause, meine Frau wartet! – Was ist denn eigentlich passiert? - Oh Gottohgottohgott…“
„Sie haben den Rettungshubschrauber entführt, und sind mit drei verletzten Soldaten wiedergekommen. Sie müssen sich jetzt etwas ausruhen“, sage Herr Dr. Krüger in mildem Tonfall.
„Was soll ich getan haben? Ich kann doch garkeinen Hubschrauber fliegen, mir wird doch immer so leicht schwindelig.“
„Sie haben’s aber getan! – Möchten Sie eine Zigarette?“
„Nein danke, ich bin Nichtraucher. Rauchen ist doch ungesund, das sollten Sie als Arzt doch wissen.“
„Ja, natürlich. – Wo haben Sie eigentlich so toll fliegen gelernt? Waren Sie in Vietnam dabei?“
„Ich bin Dreher, ‘war nie Soldat, wegen meines Rückens, rausschmeißen dürfen die mich auch nicht, ich bin seit ’73 in der Gewerkschaft. – Wie komme ich eigentlich hierher? Oh Gottohgottohgott…“
„Mit dem Hubschrauber. – Aber seien Sie ganz ruhig, wir haben alles im Griff.“
„Na, dann kann ich ja gehen. Meine Frau wartet nämlich auf den Brokkoli. Wo ist denn der Brokkoli?“
Glücklicherweise kam einer mit wehendem Kittel angerannt, sicher Dr. Kretschmer.
„Was ist los?“
„Der Mann hat den Rettungshubschrauber entführt, aber er kann sich an nichts erinnern. Ich glaube er steht unter Schock.“
Herr Dr. Krüger berichtete kurz und Dr. Kretschmer entschied den Fall zu übernehmen. Er nahm den Mann mit Halbglatze, Herrn Dr. Krüger und mich mit, nachdem dieser mich als Spezialisten für irgendwas vorgestellt hatte.
Als wir dann beim Doktor saßen, leierte der dem Mann mit der Halbglatze mühsam seinen Namen und Telefonnummer raus und beruhigte am Telefon eine völlig aufgelöste Frau. Die Nachbarn hatten schon erzählt, dass ihr Mann mit dem Rettungshubschrauber weggeflogen sei, und sie hatte es ja schon immer kommen sehen, weil er nur noch eine Niere hat, Oh Gottohgottohgott… Und ob er frische Wäsche brauchte.
Dr. Kretschmer versprach, sie sofort wieder anzurufen und wandte sich dem Mann mit der Halbglatze zu:
„So, Herr Rohlfink, dann wollen wir doch mal! Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie mal kurz hypnotisiere?“
„Wenn ich dann nach Hause gehen darf, nicht.“
„Gut“, der Arzt wandte sich an Herrn Dr. Krüger und mich:
„Seien Sie doch mal so nett und holen das Bandgerät von Nebenan und zeichnen Sie alles auf.“
„Gerne.“
Wir gingen das Bandgerät holen und schlossen es an. Herr Rohlfink war schon in Hypnose, als wir wiederkamen.
„Das ging ja fast wie von selbst“, murmelte Dr. Kretschmer und begann ganz vorsichtig in den Hypnotisierten zu dringen – aber der sprach auf einmal amerikanisch und behauptete Pilot einer Bell UH-1 Huey bei der 1st Air Cavalry zu sein – am ‘An Khe Pass‘, und er fliegt Grunts zu einem Absetzplatz, so heiß wie ein Düsenklipperausstoß – das war dass, genau dass, was der Hubschrauber damals mit mir erlebt hatte, und wofür ich mich heute noch schäme … die Sache am ‘An Khe Pass‘ …

Es sind noch einige Hubschrauber bei ihm, der Schwarm Yellow – er fliegt Yellow four – sie fliegen in V-Formation in Bodennähe und mit leicht tänzelndem Heck, weil ein bewegtes Ziel schwerer zu treffen ist. Leuchtspurgeschosse aus Kaliber 50. Groß wie Baseballbälle trudeln am Cockpit vorbei, die Soldaten hinten im Hubschrauber sitzen auf ihren Stahlhelmen weil sie sich davon eine Winzigkeit mehr Schutz gegen das Bodenfeuer versprechen. Die Schützen an den Seitentüren lassen ihre M60 hin und wieder in kurzen Salven aufbellen.
Der Sprechfunk quillt über, jemand meldet konzentriertes Feindfeuer aus einem Dorf, und dann überschlägt sich die Stimme:
„Um Gotteswillen, Yellow Two stürzt ab! Schwarm Yellow, brechen Sie die Formation ab!“
Die Hubschrauber verteilen sich, ein Huey dreht, eine Qualmfahne hinter sich herziehend auf den Dschungel zu, gerät außer Sicht, der Schwarm fliegt weiter.
„Yellow Two, Yellow Two, was ist mit Ihnen?“
Eine Geschossgabe zirpt durch den Hubschrauber.
„Hier ist Yellow Two, wir liegen mittendrin, einige Viets scheinen hier in der Nähe zu sein…“
Es knackt im Funkgerät, ein stärkerer Sender überlagert:
„Schwarm Yellow, wir sind am Absetzplatz! Zusammenziehen!“
Einige Kampfhubschrauber fliegen feuerspeiend am Waldrand entlang.
Der Schwarm ballt sich zusammen, so dicht, dass sich die Rotorblätter überlappen.
Die Grunts spucken mit steinernen Gesichtern ihre Kaugummis aus, packen ihre Sturmgewehre etwas fester, stülpen ihre Stahlhelme auf und stemmen ihre Füße auf die Kufen. Sekunden später springen die Männer, sie springen in ein heulendes, dröhnendes, knatterndes Inferno und jeder Hubschrauber bebt und schüttelt sich in Rotorböen und Rückstößen der eigenen Maschinengewehre.
Der Schwarm hebt sich wieder und fächert etwas auseinander, die Pilotenhände an den Steuerknüppeln sind schweißnass und die Pilotengesichter sind glänzend wie aus Ebenholz geschnitzt und poliert.
Mein Co-Pilot blickt stoisch und leer nach vorne, seine Hände ruhen zwar noch auf den Steuerknüppeln, aber sie führen nicht mehr. Es ist sein erster Einsatz, und dann gleich sowas!
Bei Yellow One ist der Pilot am Bein verletzt, das Blut rinnt am Fußpedal entlang, Yellow Three hat einen schwerverletzten Seitenschützen, er hängt blutend in den Gurten, und bei Yellow Five klopft der Pilot mit der Faust auf den Kopfhörer, weil sein Funkgerät ausgefallen ist.
Yellow Two meldet sich, sie haben Feindberührung, die beiden Piloten sind tot.
Yellow Four bekommt den Befehl, Yellow Two zu suchen, kurz vor dem Absetzplatz im Dschungel.
Der Pilot beißt die Zähne zusammen und murmelt:
„Go, Deborah!“
Der Hubschrauber schwingt herum und fliegt zurück – aber nur ein Stückchen, nur solange, bis der Rest des Schwarmes außer Sicht ist.
An der Absturzstelle Yellow Twos ist konzentriertes Feindfeuer, die Seitenschützen im Hubschrauber ballern Runde um Runde ungezielt in den Dschungel, von Yellow Two sind auch nur noch drei Mann an Leben, alle verletzt.
Der Hubschrauber kreist eine Weile – außerhalb des Feindfeuers, und die Hilferufe Yellow Twos bleiben aus
Yellow Four fliegt nach Hause – wegen Spritmangel…

Herr Rohlfink hatte die ganze Zeit auf einem Stuhl gesessen, die Hände führten imaginäre Steuerknüppel, die Füße imaginäre Pedalen.
„Mein Gott“, flüsterte Dr. Kretschmer, „der Mann kann doch unmöglich Hubschrauberpilot in Vietnam gewesen sein! – Woher weiß der das bloß?“
Ich zuckte die Achseln, klopfte mir eine Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an.
„Ich kann ja verstehen, wenn Sie rauchen möchten“, sagte Dr. Kretschmer, „aber gehen Sie doch dazu bitte auf den Flur.“
„Tschuldigung“, murmelte ich, ging raus und sog den Rauch tief in meine Lungen.
‘Verdammter Krieg‘ dachte ich, ‘nichts geht wirklich zuende…‘



P.S. Es ist Jahrzehnte her, dass sich diese Geschichte abgespielt hat, aber erst heute kann ich sie zu Papier bringen.
Wenn nur diese Alpträume nicht wären!
Ich hoffe, sie werden verblassen, nachdem ich alles aufgeschrieben habe…
 



 
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