Delirium Tremens

Nyxon

Mitglied
DELIRIUM TREMENS

FÜR JOHANN IST JEDER MORGEN VOLLKOMMEN GLEICH. Er unterscheidet nicht die Wochentage, noch interessiert es ihn, ob es Sommer oder Winter ist. Johann hat keine Interesse daran, sich Gedanken über das Morgen zu machen. Er lebt sein Leben für jeden Tag separat. Für ihn gibt es weder Stunden, noch Wochen. Es gibt keine Faktoren, die man beachten und niemanden, dem er irgendetwas vorspielen müsste. Für Johann könnte jeder weitere Tag sein letzter auf dieser Erde sein. Es denkt sich das jedes Mal. Jeden neuen, verdammten Tag denkt er daran, dass er am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen könnte. Und diese Gedanken sind berechtigt.
Tag für Tag erwacht Johann aus seiner tiefen Besinnungslosigkeit und konzentriert sich darauf, seine Glieder langsam zu bewegen. Er hat es nicht eilig. Die ersten paar Minuten verbringt er bewegungslos im Bett. Ein Bein hängt zur Seite heraus, das andere ist ungesund verkrampft an seinen Unterleib gedrückt. Er kann seine Augen nicht gleich öffnen. Die Lider sind verklebt und wenn er nur einmal blinzelt, beginnt das kleine Männchen hinter seiner Stirn mit seiner gnadenlosen Arbeit. Es nimmt den kleinen Vorschlaghammer in seine kleinen Hände und schlägt dann gekonnt auf einen bereits markierten Punkt auf der Innenseite von Johanns Stirn. Es tut dies nicht nur einmal, sondern wiederholt die Schläge. Mit dem Elan, Johann Schmerzen zu bereiten, schlägt das kleine Männchen Minute um Minute gegen den Kopf und fühlt sich wohl dabei. Johann spürt die Schmerzen. Er kennt sie bereits sehr gut und ein Morgen ohne Kopfschmerzen vom kleinen Männchen hat er schon sehr lange nicht mehr erlebt. Trotz des Pochens in der Stirn, zwingt er sich, seine Augen langsam zu öffnen. Flutet erst das helle Tageslicht durch die engen Schlitze zwischen Unter- und Oberlid, hat das Männchen schon längst den größeren Hammer hervorgeholt und schlägt noch kräftiger als zuvor gegen Johanns Kopf. Es hat keinen Skrupel, solange weiterzumachen, bis Johann resigniert. Doch er kämpft weiter dagegen an und schafft es nach einigen Minuten, die Schmerzen zu ignorieren. Die Augen sind geöffnet, ein Blick auf die brüchige Decke mit den schimmligen Wasserflecken offenbart Johann, dass er es tatsächlich noch nach Hause geschafft hat. Dann setzt er sich das erste Ziel für den neuen Tag. Mit Schmerzen im Kopf und in den Muskeln hebt er ein Glied nach dem anderen aus dem muffigen Bett. Die meist nackten Füße finden schnell Halt auf dem klebrigen Parkettboden. Ob Johann angezogen, in Boxershorts oder vollkommen nackt aus dem Bett steigt, ist jedes Mal eine Überraschung. Er weiß nichts mehr vom Vorabend und kann sich glücklich schätzen, wenn er es ohne ernsthafte Verletzungen geschafft hat, zumindest seine Hose auszuziehen. Jeden Morgen, wenn er abermals mit Kopfschmerzen und Schwindelgefühl erwacht, blickt Johann sich in seinem Zuhause um und schätzt sich glücklich, noch am Leben zu sein.
Sein Zuhause ist eine winzige Parterrewohnung. Zwei Zimmer und ein Bad, das diese Bezeichnung gar nicht verdient. Es gibt kaum Möbel. Johann hat sie bereits vor Monaten verkauft. Mit der Miete liegt er drei Monate im Rückstand; zwei Mahnungen des Vermieters liegen zerrissen im Papierkorb. Johann hat kaum Geld und das was er hat, gibt er für Dinge aus, die er seiner Meinung nach überhaupt nicht braucht. Andere sind der gegenteiligen Meinung, doch Johann lässt sich nicht beirren. Er ist fest davon überzeugt, dass er jederzeit mit seinem Laster brechen könne, ohne mit der Wimper zu zucken. Am Abend darauf hat er bereits wieder eine Flasche in der Hand und einen leeren Sechserpack auf dem Tisch stehen.
Johann ist Alkoholiker. Jeder weiß es. Auch Johann. Er gibt es nur nicht gegenüber anderen zu. Für ihn ist das Konsumieren von Alkohol keine Sucht, der er verfallen sein soll. Es ist völlig normal, jeden Tag mehrere alkoholhaltige Getränke zu sich zu nehmen. Johann kümmert sich nicht darum. Er sagt von sich, er sei nicht süchtig und erst recht nicht krank. Er trinke nur, bei besonderen Anlässen und habe sich leicht unter Kontrolle. Die besonderen Anlässe von nicht besonderen Anlässen zu trennen, fällt jedem, der Johann kennt, zunehmend schwer. Er geht auf Partys, zu denen er schon lange nicht mehr offiziell eingeladen wird. Er trinkt aus reiner Freunde und Achtung gegenüber den respekteinflössenden Bierreklamen oder einfach nur, weil ihm langweilig ist. Er trinkt, wenn Borussia Dortmund gewonnen und verloren hat und wenn die Sterne am Himmel zu sehen sind. Johann trinkt jeden Tag. Wenn er nicht gerade schläft oder sich die Seele aus dem Leib kotzt, sitzt er in einer Bar oder in seinem Wohnzimmer und trinkt. Er vernichtet den Alkohol, als wäre dieser eine Art Waffe gegen die Menschheit und die einzige Möglichkeit die Erde und ihre Bewohner zu retten, wäre die vollkommene Eliminierung aller alkoholischer Substanzen. Wenn man Johann dabei zusieht, wie er akribisch ein Bier oder einen Schnaps nach dem anderen kippt, könnte man leicht denken, dass es tatsächlich so ist. Und viele sagen, manchmal dächte Johann das auch.
Johann ist fünfundsechzig Jahre alt und lebt seit über zwei Jahren alleine. Er hat keine Haustiere, keine Freundin und keine Zukunftsperspektiven. In einem früheren Leben war er einmal verheiratet gewesen. Er hatte zwei stattliche Jungen aufgezogen und hatte ein ertragreiches Leben hinter sich gebracht. Johann hatte seinen Söhnen oft von seiner Kindheit erzählt. Er berichtete, wie schwer man es früher gehabt hatte. Dass er mit vierzehn angefangen hatte zu arbeiten und danach vierzig Jahre bei der Deutschen Schmiedegilde zubrachte. Er erzählte von seiner Lehre als Kesselflicker und von seiner Umschulung zum Schmiedemeister. Er verkündete immer stolz, dass er das Haus, in dem sie lebten, mit seinem Vater und seinen eigenen Händen gebaut, alle Leitungen verlegt und auch das Dach selbständig gedeckt hatte. Johann war stolz auf seine Arbeit gewesen. Während er von seinen glorreichen Jahren erzählte, tropfte der Regen durch zahlreiche Löcher in der Decke und man duschte mit kaltem Wasser, weil der Boiler seinen Geist aufgegeben hatte. Johann hatte nie Reparaturarbeiten im und am Haus beendet, weil er zu alt und zu beschäftigt gewesen war. Er hatte seine wertvolle Zeit lieber den ganzen Tag vor dem Fernseher verbracht, hatte Talkshows geschaut, gleichzeitig Musik gehört oder hatte wieder eine neue sinnlose Arbeit angefangen. Seine Söhne hatten keine Ahnung von der Technik im Haus gehabt und seine Frau war ebenfalls zu beschäftigt gewesen. Sie war es, die den Haushalt und ohne dass es Johann überhaupt merkte, auch ihr ganzes Leben in Takt gehalten hatte. Sie hatte sich um die Erziehung der Söhne gekümmert und das Essen auf den Tisch gebracht. Während Johann knauserig mit seiner Rente unnötige Handwerksgeräte gekauft und abends Bier getrunken hatte, war seine Frau daheim gewesen und hatte sich ein besseres Leben ausgemalt. Johann hatte es nie gemerkt und auch heute weiß er nicht über die wahren Gründe der Scheidung Bescheid. Die Söhne sind selbstständig und seine Frau hat sich eine hübsche, kleine Eigentumswohnung beschafft, von der sie immer geträumt hatte.
Alle führen ein fröhliches und geregeltes Leben, während Johann jeden Tag erneut gegen den Alkoholtod ankämpft und auch mit letzter Kraft gewinnt.

Auch an diesem Morgen liegt Johann vom Kater ermattet in seinem Bett und kämpft gegen die Restwirkungen des Alkohols, sowie gegen die Schmerzattacken des kleinen Männchens an. Er trägt eine Boxershorts, dessen Ursubstanz von Urin und Sperma unkenntlich gemacht wurde. Getrocknete Brocken von Erbrochenen kleben ihm in der Mundhöhle, ein ständiger Fluss von warmen Speichel sucht seinen Weg aus den Mundwinkeln und tropft zeitweise auf das dreckige Bettlacken. Johann starrt mit leerem Blick an die Decke. Sein Körper liegt schwer auf der ausgeleierten Matratze; seine Gedanken schweben über ihm, dem endgültigen, grellen Licht entgegen. Johann stirbt. Er stirbt im Suff. Er stirbt allein...
 



 
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