Den Leser (nicht) überraschen?

jon

Mitglied
Teammitglied
Im Essay-Forum (hier) ergab sich eine Meinungsverschiedenheit. Vielleicht ist es ja auch nur ein Missverständnis. Auf jeden Fall erschien es uns diskutierenswert

Im Ausgangstext wurde die Aussage "Die Novelle ist Kunst, weil die Hauptperson zwei Sprünge macht." getroffen, was dann durch
Ein Kunstwerk, ich meine ein Text, hat viele Facetten. Eine Facette ist die Vorbereitung. Der Leser darf nicht überrascht werden. Das gilt insbesondere für den Schluß, also die Quintessenz.
erläutert wurde.

Erwiderung:
Der Leser darf nicht überrascht werden? Na das seh ich aber anders. Er muss die "Wendung" nur glauben können. Und wenn er dann im Nachhinein noch die "Wiederholung" findet und sich so Zusammenhänge erschließen, dann war der Autor nicht ganz auf dem Holzweg.
Ich hoffe ja auf ein Missverständnis. Vielleicht (wiedermal) beruhend auf den "Lehrsätzen" eines Schreiblehrbuches, denn "Schluss" und "Quintessenz" sind für nicht das Selbe, nicht mal das Gleiche, so dass ich vermute, hier wurde auch fälschlicherweise "überraschend" mit "nicht folgerichtig" oder "unglaubhaft" gleich gesetzt. Im Übrigen habe ich anderswo mal zu diesem Thema gelesen, man dürfe den Leser "nicht vor den Kopf stoßen".


Vielleicht versuch ich mal, das so aufzudröseln, wie ich es für richtig halte:

Der Leser muss überrascht werden, zumindest ein bisschen. Wüsste er haargenau, was kommt, wäre es schnell langweilig. Dabei kann die Überraschung an den verschiedensten Stellen sitzen. Der Weg zum erahnten Ende des Buches ist anders als gedacht, eine Person verhält sich überraschend, etwas "Objektives" platz in den Ablauf und ändert ihn, das Ende ist anders als üblich oder als erahnt …

Der Leser eines bestimmten Genres wird ungern vor den Kopf gestoßen, in dem Sinn, dass der Liebesroman kein Happy End hat, die Science-Fiction-Geschichte mit einem Schlossgespenst als Lösung aufwartet, im Groschenheft der Held ohne Not was Böses tut …
Ich als Leser nehme es auch übel, wenn etwas postuliert wird, was so nicht stimmt oder funktionieren kann. Womöglich baut dann auch noch die ganze Geschichte darauf auf. Genrebedingt gibt es da natürlich Unterschiede; was in einer Fantasy-Story geht, kann eine Krimi verderben (z.B. wenn jemand plötzlich an einem in der zur Verfügung stehenden Zeit eigentlich nicht erreichbaren Ort auftaucht).
Universeller ist schon die Figuren-Logik, oder besser ihre Glaubwürdigkeit. Eine graue Maus wird nicht einfach so zum Vamp, ein Fußballprofi nicht plötzlich zum Spitzentänzer.

Man darf aber Leser vor den Kopf stoßen, wenn das die Botschaft des Textes ist. In dem Sinne, dass der Liebesroman eben kein Happy End hat, weil das im beschriebenen gesellschaftlichen Umfeld kaum möglich wäre. Oder dass der nette Nachbar, den man als Leser schon fast toll gefunden hat, sich als Möder entpuppt – weil: Das Leben ist so.


Zu dem Punkt mit den Wiederholungen: Wiederkehrende Motive sind nur am Rande dafür da, dass der Leser im ganzen Werk immer wieder Vertrautes findet (also nicht überrascht wird), sondern in erster Linie, um einen roten Faden zu haben, der an allen für das Thema/die Botschaft wichtigen Stellen aufblitzt. Vielleicht auch an (scheinbar) nebensächlichen Passagen, die aber Figur und/oder Situation deutlich charakterisieren.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Vielleicht ist "Überraschung" hier anders gemeint. Es geht um Überraschungen wie bei dem reitenden Boten des Königs in der Dreigroschenoper, um einen Deus ex Maschina, ein unbegründetes plötzliches Ereignis.

In einem Krimi darf der Mörder jede der handelnden Personen sein, wenn sich aber herausstellt, dass der Mörder gar nicht in der Handlung auftauchte, ist das klassische Krimi-Schema durchbrochen.

In der Science-Fiction kann die ganze Handlung auf dem Holodeck spielen. Trotzdem muss sie einen inneren Zusammenhang, eine Logik aufweisen.

Die Logik braucht nicht unserer zu entsprechen und der reitende Bote des Königs kann den Haupthelden retten, sofern er damit nicht den Rahmen des Genres sprengt.

Überraschend wäre, wenn der Mörder das Opfer ist und den Fall aufklärt. Das wäre zugleich eine Unmöglichkeit, aber in einer Groteske durchaus möglich. Dort wäre es aber nicht sonderlich überraschend.

Sich wiederholende Motive können überraschen - wenn sie unerwartet auftauchen.
 



 
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