Den Wert des Lebens fühlen

Lebenssonde

Mitglied
Wir trafen uns neben der U-Bahn-Station. Mein Mentor trug wie immer seine schwarze Lederjacke. In der rechten Hand hielt er eine Sporttasche.
»Hast du mitgebracht, was wir vereinbart haben?«, fragte er.
»Ja, habe ich«, demonstrativ klopfte ich auf meine Tasche, die um meine rechte Schulter gehängt war. Darin lagen zehn Quadratmeter durchsichtiger Folie. Gregor hatte mir aufgetragen sieben Quadratmeter zu kaufen, aber ich kaufte zur Sicherheit mehr. Und eine Flasche Vodka für mich. Gregors Experimente waren immer sehr aufregend und ich hatte das Gefühl, ich würde ein starkes Getränk brauchen.
»Gut, heute werde ich dir beibringen, wie man einen Menschen tötet.«
Ich zuckte zusammen. »Warum?«
»Wie willst du sonst den Wert des Lebens fühlen?«, fragte er sichtlich erstaunt.
Es nieselte, aber es war angenehm warm, als wir durch die von Laternen beleuchteten Straßen gingen. Die Häuser, die wir passierten, waren dunkel und gespenstisch. Hier und da sah ich zerschlagene Fenster. Noch seltener bemerkte ich schwachen Lichtschein, was mich zumindest davon überzeugte, dass hier eine nicht ganz verlassene Gegend war. Während wir uns unserem Ziel näherten, wechselten wir keinen Wortfetzen. Gregor schien über irgendetwas Unangenehmes nachzudenken und ich wagte nicht, ihn dabei zu unterbrechen.
Schließlich blieben wir vor einem Blockhaus kurz stehen, das so aussah, als würde es jeden Moment zusammenbrechen.
»Wir sind da«, stellte Gregor fest. Entschlossenen Schrittes ging er ins Innere und führte mich in den Keller. Dort bemerkte ich eine hübsche junge Frau, die mitten im Raum geknebelt auf einem Stuhl saß und mich ängstlich flehend ansah. Ich bemerkte, dass ihre Hände hinter dem Rücken an den Stuhl gefesselt waren.

»Breite mal die Folie aus«, Gregor wies unbestimmt mit der Hand in Richtung der Frau.
»Wozu denn das?«, fragte ich dümmlich meinen Mentor.
»Damit das Blut sich darauf sammeln kann«, sagte Gregor ruhig. Die Frau auf dem Stuhl bewegte sich unruhig. Ihre Augen schauten angsterfüllt abwechselnd mich und Gregor an.
»Wer ist sie?«, fragte ich.
»Sie heißt Julia und ist Studentin an irgend so einer Universität. Spielt das eine Rolle?«
Gregor nahm eine Pistole aus der Sporttasche und gab sie mir, als ich die Folie unter der Frau ausgebreitet hatte. »In der Pistole sind nur zwei oder drei von sechs Patronen drin, also wirst du sie wahrscheinlich gar nicht erschießen.« Er wies mich an, die Pistole an die Schläfe der Frau zu setzen und abzudrücken.
Die Pistole fühlte sich kalt und schwer in meiner Hand an. Und irgendwie mächtig. Würde ich in der Lage sein, als Mensch, der noch nie im Leben eine Waffe in der Hand gehalten hatte, diese Frau zu erschießen? Mein Mentor zündete sich inzwischen eine Zigarette an. Von der Decke fielen ein paar Tropfen Wasser auf den Boden.
»Ich … Ich kann nicht«, stieß ich schließlich hervor.
»Du kannst. Zeig keine Gnade! Denkst du, die Welt verliert etwas? Die Welt wird etwas verlieren, wenn du deinen Entwicklungszyklus nicht beendest. Sie verliert einen großen Mann, Dich! Du wolltest doch ein großer Mann werden!« Gregors Stimme wurde zunehmend genervt. »Ich könnte natürlich irgendeinen Penner für unser Vorhaben nehmen. Aber findest du nicht, dass es so … interessanter ist? Drück ab, aber wag nicht wegzusehen!«
Mit meiner ganzen Körperhaltung zeigte ich, dass ich nicht mal vorhatte zu zielen. Plötzlich holte Gregor eine zweite Pistole aus der Tasche und zielte damit auf die Frau. Daraufhin fing die Studentin an, leise zu wimmern.
»Denk daran, sie wird diesen Raum so oder so nicht verlassen«, sagte er zu mir.
»Warum?«, krächzte ich.
»Wird sie nicht zur Polizei laufen? Uns beschreiben? Die Polizei wird Zeichnungen von uns erstellen und so weiter.«
Julia wackelte mit aller Kraft mit dem Kopf hin und her. Ich fing zu verstehen an, worauf Georg hinauswollte.
»Es muss doch irgendeinen Ausweg geben!«
»Der ist in deiner Hand. Schieß, Kumpel!«
Ich führte die Pistole an den Schädel der Frau. Mittlerweile weinte sie. Meine Hand zitterte und mir wurde kalt. Mein Zeigefinger legte sich ganz langsam auf den Auslöser. Ich verlor fast die Besinnung und der Schuss wäre vielleicht tatsächlich abgefeuert worden, wäre ich nicht auf die Stimme meines Mentors konzentriert gewesen.
»Wie lange willst du noch da stehen wie eine Statue?«, fragte dieser.
Schließlich fing ich an zu weinen und ließ meine Hand nach unten sinken. Als ich meine Augen mit der freien Hand abwischte, zielte Georg auf mich.
»So geht das nicht, Kumpel. Du willst doch nicht jetzt aufhören?«
»Du wagst es nicht!«, schrie ich fast, aber dann erkannte ich an seinen Augen, dass er es sehr wohl konnte. Zum ersten Mal schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich diesen Menschen gar nicht richtig kannte.
»Wirst du nun schießen oder was?«, fragte Georg mild.
Ich schaute auf die junge Frau rechts von mir, dann auf meinen Mentor, dann auf die Frau und schließlich auf die Pistole in meiner Hand. Warum war ich überhaupt in diesen ‘Kurs’ gegangen? Wer, meinte ich, war ich denn? Konnte ich ohne fremde Hilfe die Weisheit erlangen? Meine Welt brach langsam in Scherben auseinander.
Ich lockerte die Finger und die Pistole fiel ganz langsam zu Boden.
»Und was ist mit dir? Schießt du? Ich warte!« schleuderte ich die Worte wie Pfeile auf Gregor.
Und Gregor schoss auf mich. Vier oder fünf Mal. Ich blieb jedoch stehen und stand da immer noch, während Gregor die Frau von ihren Fesseln befreite. Ich stand da auch noch, als er die Pistolen in die Taschen packte. Ich stand da, bis Julia zu mir kam und sagte:
»Ich war überzeugt, dass du das kannst. Kommst du mit Kaffee trinken? Ich bin bis auf die Knochen durchgefroren.«
Erst dann fiel ich wie ein Stein besinnungslos auf den nassen Boden.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Nette Pointe, aber da ich nicht weiß, was das für ein "Kurs" war, bleibt sie irgendwie bedeutungs- und kraftlos.
Der Tonfall ist seltsam distanziert. Dadurch läuft – bei mir zumindest – dein sichtbares Bemühen, die starke Anspannung des Protagonisten zu vermitteln, ins Leere.
 



 
Oben Unten