Der 15. Dezember

Maribu

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Der 15. Dezember

Seit einundvierzig Jahren, solange wie wir verheiratet sind, legt meine Frau mir am 15. Dezember Weihnachts- und Neujahrskarten sowie die von ihr geführte Namens- und Adressenliste auf den Schreibtisch.
Jedes Jahr protestiere ich erneut, aber erfolglos.
Sie besorgt die Karten und hält die Liste auf dem neuesten Stand und zu mir sagt sie: "Du hast nun mal diese schöne, leserliche Handschrift!" - Was kann ich dagegen einwenden?
Mich stört ja auch weniger das Schreiben als der Zwang dazu, meist nach dem Motto: Schickst du uns eine Karte, bekommst du auch eine!
Den inneren Kreis, die nahen Verwandten, findet man natürlich nicht auf dieser Liste, weil wir über Weihnachten zusammen sind oder zumindest miteinander telefonieren.
Dieses Jahr sind es zwanzig gut sortierte Karten. Vor dreißig oder vierzig Jahren waren es bestimmt noch zehn oder fünfzehn mehr. Die Abgänge auf dieser Liste waren größer als die Zugänge. Meine Frau streicht und ergänzt jedes Jahr, stellt sie aber nie neu zusammen. Es sind inzwischen fünf linierte und geheftete Din A4-Seiten, von denen die ersten drei bereits zerfleddert sind. Viele Namen sind durchgestrichen, weil die Menschen unbekannt verzogen oder inzwischen verstorben sind, der Kontakt aus irgendwelchen Gründen abgebrochen wurde oder sie nie mit einer Antwortkarte reagiert haben.
Und jedes Jahr habe ich wieder die Qual der Wahl. Von der einfachsten Karte bis zur künstlerisch wertvollen zum Preis eines kleinen Weihnachtsgeschenks. Und dann die vielen Motive:
Weihnachtsmänner, geschmückte und grüne Tannenbäume, mit Lichterketten dekorierte Fenster, strahlende Kinderaugen, Schneemänner, Engel oder Winterlandschaften. Die sind mir die liebsten. Bei 10 Grad plus und Nieselregen verschicke ich damit Träume!
Schon beim Schreiben klingt mir Bing Crosbys 'White Christmas' in den Ohren. Unterschiedlich sind ja auch die eingedruckten Texte: 'Ein frohes Fest', 'Fröhliche Weihnachten', 'Ein frohes Fest und ein glückliches neues Jahr', 'Fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch!'
Bei Leuten, die ich nicht so gerne mag, schreibe ich:
'Umseitiges wünschen Rita und Manfred'. Oder ich fange mit einem Gedankenstrich an. Einige Karten haben keinen Text, die verwende ich dann für Menschen, denen ich mehr zu sagen habe. Da kann ich dann 'Fröhliche Weihnachten', 'Ein gutes neues Jahr' oder vielleicht auch noch etwas anderes einsetzen, mit meiner schönen, leserlichen Handschrift, wie meine Frau jedes Jahr wieder sagt.
Karten, die einige Tage vor dem Fest bei uns eintreffen, vergleicht meine Frau sofort mit ihrer Liste. Steht ein Name noch nicht darauf, notiert sie ihn und ich muss sofort eine zusätzliche Weihnachtskarte absenden. Eingänge vom 24. Dezember von Absendern, die von uns noch nicht bedacht wurden, übernimmt sie ebenfalls für das nächste Jahr. Die erhalten von mir eine vorgedruckte Neujahrskarte, auf der wir uns für ihre Weihnachtskarte bedanken.
Ich beginne immer hinten auf der Liste mit den einfachen Postkarten und schreibe mich nach vorne zu den langjährig Bedachten, die die teueren Exemplare von mir erhalten.
Auf der ersten Seite, die an der linken oberen Ecke vom vielen Heften in all den Jahren zerlöchert ist, steht nur noch in der vorletzten Reihe eine gültige Position. Alle anderen Namen und Adressen sind von meiner Frau durchgestrichen worden und haben für mich als Kartenschreiber keine Bedeutung mehr. Trotzdem gehe ich sie Reihe für Reihe durch und frage mich nach den Gründen. Bei einigen sind sie mir klar, da befindet sich neben dem Namen ein Kreuz.
Tante Meta ist nachgeblieben. Als wir sie vor rund zwanzig Jahren in Stuttgart besuchten, wirkte sie auf mich schon wie eine alte Frau. Inzwischen muss sie weit über neunzig sein.
Vor sieben oder acht Jahren haben ihre Kinder sie vorübergehend - wie sie ihr und uns versicherten - , in einem Altenheim untergebracht, da sie nach einem Krankenhausaufenthalt noch nicht wieder in der Lage war, sich in ihrer Wohnung zu versorgen. Ihr Mann war im Zweiten Weltkrieg gefallen und sie hat für die beiden Mädchen allein sorgen müssen.
Obwohl es eine Dauerunterbringung war, habe ich immer geschrieben: 'Meta Hülsemann, z. Zt. Seniorenheim Bethesda...'
Ich suche die schönste Karte mit einer Winterlandschaft aus:
Schneebedeckte Berge hinter einem Wald mit bereiften Ästen und Zweigen. Im Vordergrund ein Pferdegespann auf einem eingeschneiten Weg, der an einem Bach entlang geht, dessen Ränder zugefroren sind. Im Hintergrund eine Holzbrücke, die über das Wasser zu einem Schloss mit einem golden leuchtenden Turm führt.
Das einzige, das mich stört, ist das eingedruckte 'Fröhliche Weihnachten'. Aber es verläuft in einer weißen Schrift über den schneebedeckten Gipfeln, und ist selbst für mich nur schwach zu erkennen. Denn wie kann man ihr das wünschen, wenn sie vielleicht schon im Rollstuhl sitzt?
Nach reiflichem Überlegen schreibe ich die Adresse aber wie in den vergangenen Jahren. Es könnte jetzt mit dieser Karte eine andere Bedeutung bekommen. Vielleicht wird es die einzige sein, die sie bekommt. Sie würde sie sich dann länger und genauer ansehen. Zuerst das Bild, dann meine Zeilen und schließlich würde ihr Blick auf die Anschrift übergehen, auf der ich 'zur Zeit' ausgeschrieben und zusätzlich noch dick unterstrichen habe.
Ich kann mir vorstellen, dass sie das jetzt nicht mehr als Verbindung zu ihrer Wohnung verstehen wird, die von ihren Kindern längst aufgelöst wurde. Ich hoffe, sie wird die Karte dann wieder umdrehen und gedanklich, Bing Crosbys weiche Stimme im Ohr, durch diese Winterlandschaft über die Brücke in das Schloss mit dem goldenen Turm wandern.
Dann hätte ich nicht nur einen Traum verschickt, dann würden diese beiden Worte auch mehr Hoffnung bringen, als alle unsere guten Wünsche!
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Maribu, Du hast das Ganze unter Kurzgeschichten eingeordnet, aber für mich ist es beinahe eine Satire, dieses Weihnachtskartenschreiben, über das akribisch Buch geführt wird.
Nirgendwo wird so viel gelogen wie bei Weihnachtskarten!

Jedenfalls kann ich nicht erkennen, ob das Ganze eher humorvoll, traurig, authentisch oder eher fiktiv wirken soll.
LG Doc
 



 
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