Der 40. Tag vor Sophienlund

Sophienlund

Martin von Arndt:
Der 40.Tag vor Sophienlund
"Kein Acker trägt Brot / Es dengelt der Tod / Die Sense von Radolfstede." (Landsknechtsweise)
Während der Belagerung von Sophienlund, während der langen Zeit des Hungers und der Nächte ohne Ende, Tage ohne Ziel, geschah es, daß unter Zustimmung des Rates am 40.Tage eine Gesandtschaft der Kurie Einzug halten durfte in den Mauern der Stadt, zu dem Ende, den Magistrat zu einer Lex deditionis zu veranlassen; einer Übergabe unverzüglich sich willens zu erweisen unter dem Versprechen voller bischöflicher Sicherheiten.
Der Gesandten Siegelführer war ich.
Man beriet in die tiefen Abendstunden - ich empfahl mich. Ein Gesandter in Angelegenheiten des Kriegsrechts soll sein Unterkommen publice nehmen, also bezog ich Quartier in einem Gasthaus.
An der Fläche des östlichen Himmels gewahre ich Funken schaler Röte. Ich wähne, es mögen die Heerfeuer sein, ich sehe den Mond, und auch er trägt Purpur. Blicke um mich.
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Ich trete wieder in den Kreis der Räte. Unwillkürlich. Meine Rückkehr ist unbegründbar, ich nehme teilnahmsvollen Einblick in die Kurialakten und nicke bedeutsam. Ich bitte ein andermal, mir Urlaub zu gewähren und ziehe mich unter läßlichem Stirnrunzeln der Alten zurück. Ein Bursche leuchtet mir.
Indem ich die Aussicht in die östlichen Höhenzüge meide, schreite ich unter die Schwelle meiner Herberge. Der ahndungsreiche, der merkuriale Geist, der unterwegen mir rittlings aufgesessen, verläßt mich. Die Tür wiegt sich in den Angeln, ein Erfassen des Mondes. Er ist rot.
Wohin soll ich mich wenden, wenn diese Nacht mich nicht flieht. Es gibt Nächte, die enden dem, der ihnen geweiht ist, niemals. Unsere Zeit ist alt.
"Vergib mir, Herr, und laß auch mir zuteil werden meiner Nächsten Vergebung."
"Amen."
Mein Hauch streift das Zeichen des Lamms, kupfern windet es sich wieder meiner Brust entgegen.
Ein letzter zögerlicher Blick -:
Rot.
Erloschen schmeckt die Luft im Hause. Es dunkelt still in Zeiten des Krieges, dies Schweigen ist die größte Macht. Wer mit uns ist in solcher Zeit, wer uns im Schweigen an die Seite tritt, dem wird unser Herz für alle Zeit. Mag sein: auch mehr.
Der Bursche führt mich. Ich spreche Niederdeutsch, er dient mir wortlos. Fünfzehn Stufen, dann fünfundzwanzig, ein schmaler Gang, ein Eckzimmer.
Der Bursche hilft mir beim Auskleiden, er wird entlassen, löscht das Licht, schließt die Türe, ich sichere sie.
Blicke um mich. Unwillkürlich.
Ein westliches Fenster, tief - und schwarz. Ich bette mich.
Verliere mich. Und rasch.
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Ein Würfel fällt. Ein Würfel.
Ein Würfel fällt.
Ein beinernes Geräusch.
Ich lausche.
Ich höre:
das kurze, biderbe Zucken, ein glucksend halbbedecktes, tropfen-tönendes Zittern des zwiefach gerührten ledernen Bechers; das Innehalten und - den Stoß.
Dann rote Stille. Wenn Landsknechte Augen zählen.
Lange zählen sie. Augenblicke. Das Schweigen stiert in meine Ohren. Ein Würfelspiel.
Ich gewahre das Fenster, das westliche Fenster. Und atme in mich. Kein Laut dringt zu mir, nicht einmal der Klang der nahen Kirchturmglocke. Ich bete in fremder Zunge. Ich schweige.
Da wieder das Zucken, das jähe Mahlen, der klirrende Stoß. Fall. Ich kenne das Spiel, das Spiel aus dem Lager. Die Söldner pflegen seiner nächtelang. Sie aber spielen es voller Hast. Und nicht lautlos.
Ein Würfelspiel. Nicht mehr.
Keine Stimmen. Kein Wort aus dem Nebenzimmer, kein Fluch und kein Aber, kein Lachen, nicht Häme, nicht Trotz.
Ich trete unter das Fenster, die Würfel fallen.
Es ist nur ein Spieler. In der Ruhe des nächtigen Glast: er spielt mit sich allein. In solcher Zeit.
Sie fallen.
Es ist nur ein Spieler. Und spielt er 40 Tage. Und spielt er ohne Unterlaß. 40 Nächte. Ohne Ziel. Ohne Ende, dann hatte ich seiner nicht gedacht. Während sie fallen, suchen die Handflächen einander. Sie sollen sich nicht begegnen.
Die Läden zu sprengen ... die Türe zu sprengen ... es fällt. Arme reichen nach dem Fenster, Arme ringen mit der Tür. Sie ringen mit der Tür.
Zurück am Fenster. Horchen.
Unentrinnbar.
Erst poche ich, ich trete indes und kratze die Finger mir blutig dort am nackten Stein.
Keine Stimme. Es fällt.
Ich stütze mich beidarmig, fälle das Haupt an der Wand.
Ein Rot.
Es fällt.
Ich bin Gefangener eines beinernen Spiels.
Geweiht. Und auch gefangen. Ich sinke. Die Knie berühren sich. Verlieren sich.
Ich werde die Zahl der Würfel unterscheiden lernen, doch Jahre wird es mich gekostet haben. Ich erkenne den Rhythmus des Mahlens, ich spreche in ihn mein Gebet.
"Vergib mir, Herr, vergib.
Und laß auch mir zuteil werden meiner Nächsten Vergebung."
Der Westen flackert leise im Fall:
"Amen." Und:
"Amen."
Den 6.Oktober 1582.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
Kommentare und Aufrufzähler beginnen wieder mit NULL.)
 



 
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