Der Abschiedsbrief.

pleistoneun

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Wenn man heute in Wien am Arge-Not-Gürtel westwärts unterwegs ist und dann bei Kilometer zwei nach links in die Schwere-Laster-Straße einbiegt, kann man im 3. Stock des großen, dunklen Hauses ein weit aufgerissenes Fenster sehen. Es ist das Zimmer von Angela, die an diesem späten Wintermorgen auf ein leeres Blatt Papier starrt, welches vor ihr auf dem Tisch liegt. Sie will sich in aller Form verabschieden aus diesem Leben - mit einem Brief. Aber da ihre Erfahrungen in Sachen "Abschiedsbriefe" gleich Null sind, birgt dieser formelle Akt des Lebewohlsagens in sich eine größere Hürde als zuerst angenommen. Kalte Windstöße, die durch das offene Fenster dringen, lassen Angelas Brief am Küchentisch immer wieder verrutschen und reißen sie aus ihrem gedanklichen Schwermut und ihrer tiefen Konzentration über die Wahl der letzten Worte in ihrem Leben. Ein neuerlicher Luftzug bläst das Blatt vom Tisch. Unfähig einzugreifen, beobachtet sie das Zubodengleiten des Blattes. "Beschweren müsst ich es...", denkt sie, "...damit es nicht runterfällt, beschweren! Oder ist das ein Wind...äh...Wink vom Schicksal, reinen Tisch zu machen?". Aber es ist das Wort "beschweren", welches in Angela den Drang nach einer aktiven Handlung auslöst. Beschweren, nur bei wem und worüber? Die lebenslangen Frustrationen und Missvergnüglichkeiten über ihr Dasein waren wie eine Schale aus Glas, unter der sie langsam zu ersticken droht. Heute macht sie ihre letzten Atemzüge.

Angelas Blick liegt auf dem Weiß des Blattes. Sie seufzt schwer und bemerkt, dass sie friert. Arme und Beine müssten sich kalt anfühlen, hätte sie dort Empfindungen und die Farbe der Fingerspitzen deutet auf Blutarmut hin. Angela lässt das aber kalt. Sie hat sich fest vorgestellt, hier und heute dem Ende ein Leben zu bereiten und nicht umgekehrt. Der lebenslangen Illusion hinterherzusehnen, ein Mal im Leben selbst eine eigene Handlung zu bestimmen, aus sich selbst heraus den Motor für eine willkürliche Bewegung in Gang zu setzen und einem Wunder gleich nur einen einzigen Tag erleben zu dürfen, an dem man sich mit eigener Kraft über das sitzende Leben erhebt und daraus ein stehendes macht.

Angela starrt noch immer auf das Weiß des Blattes und stellt sich dort ihren Text für ihren Abschied vor, ehe das Papier aber durch den Windstoß einer sich öffnenden Türe am Boden verrutscht und sich nun endgültig ihrem Blick entzieht. Der Wärter löst die Bremsen und befördert Angela mit dem Rollstuhl in den Speisesaal, wo es heute wie gestern und dem Tag davor Zwieback mit Tee gibt. Angela, noch immer geblendet vom Weiß des Blattes, dem kalten Weiß der Wände, dem Weiß der Ärztemäntel, dem öden Weiß der Welt, in der sie lebt, wird heute um 8:14 Uhr erstmals seit ihrem Unfall vor 4 Jahren ihren kleinen Finger wieder bewegen können. Sie wird ein Stück totes Fleisch an ihrem Körper in Leben verwandeln und es wie ein Wunder erleben. Wir werden nicht nachempfinden können, wie Angela dieses Erlebnis spürt und wie es sich anfühlt, wenn die durch das Bewegen eines kleinen Fingers die Ketten der körperlichen Gefangenschaft aufgebrochen werden und sich eine mächtige Grenzenlosigkeit auf tut, die einem das Gefühl gibt, von der ganzen Welt mit ihrer schöpferischen Kraft umarmt zu werden. Angela wird diesen Abschiedsbrief aber trotzdem schreiben, schwungvoll, mit funktionierender Hand. Sie wird ihn zuhause schreiben, vielleicht im Stehen, angelehnt an eine warmgefärbte Wand. Er wird davon handeln, dass die physische Regungslosigkeit nicht das Ende des Lebens bedeutet. Und sie wird den Brief mit den Worten schließen, dass die Beweglichkeit im Kopf das Neuerwachen des Körpers verursacht. Sie schreibt diesen Brief stellvertretend für alle, die noch am Wiederbeleben ihres Körpers arbeiten und sendet ihn an alle, die glauben, das Geschick und die Gewandtheit des Körpers wäre etwas Selbstverständliches. Ist es nicht, es ist eines der vielen Wunder der Natur, die uns durchdringt und bei der wir uns noch nie dafür bedankt haben.
 



 
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