Der Alte und der Fluss

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HajoBe

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Gleich werden sie wieder auftauchen und nach ihm suchen, ihn zurück zerren wollen ins Dasein ihrer Welt, welcher er abhanden zu kommen droht. Ihrer Welt, aus der er sich still verliert, durch die er irrt zwischen Gedankentrümmern im Dämmerlicht des vergeblichen Erinnerns. Unwirsch stößt er sie zur Seite, Bruchstücke des Gestern und Heute, greift hilfesuchend nach einem Faden, welcher ihm mehr und mehr entgleitet. „Hast mich schon wiederholt genarrt, Ariadne, böses Weib!“, sinniert er und… manchmal lächelt er.

Ariadne? Aber sie hieß doch Olga? Meine gute Olga! Warum eigentlich musstest du von mir gehen? Bist mir doch sonst stets gefolgt! Seine Blicke tauchen in den wirbelnden Strom unter ihm, folgen dem Tanz davon schwimmender Blätter aus dem Baum seines Lebens. Ein jedes trägt unwiederbringlich Gedachtes ins Meer des Vergessens. Nur ein oder zwei Schritte voran, grübelt er, und ihn fröstelt in seinem leichten Hausmantel.

„Leo, unser Sohn, ist versorgt, Olga. Ja, es ist etwas aus ihm geworden, studiert hat er, gegangen ist er, geschwiegen hat er und …schweigt. Verloren!“ Seine tränentrüben Blicke schweifen ins Dunkel und die Nacht singt ihren heiseren Choral: Autos, Güterzüge drüben am Ufer, Straßenbahnen und unter ihm das Rauschen des reißenden Rheins.

Schäkernd geht ein Pärchen vorüber, achtlos.
„Olga, bist du es? Mit wem gehst du?“
Der Mann wendet sich um und lacht.
„Komm Schatz, lass den, ein betrunkener Penner!“
„Olga, erkennst du mich nicht?“
Suchend reckt er die Hände, beugt sich weit über das Geländer. Nur ein oder zwei letzte Schritte, denkt er, und ihn fröstelt in seinem dünnen Hausmantel.

„Ich gehe nicht zurück! Nein, nicht dorthin. <Wie haben wir geschlafen, Herr Professor? Wie fühlen wir uns? Hatten wir schon Stuhlgang heute?> Verdammt, habe ich etwa mit dieser Eule gemeinsam geschissen? Was glauben die, wer ich bin? Ja, ich erlaube mir die ausdrückliche Frage, wer ich bin. Bin ich überhaupt noch? Und morgen, ja, da warten doch meine Studenten auf mich…“

Der Alte fördert eine zerknitterte Zigarette aus der Manteltasche. Seine Hand zittert, als er sie mit dem Feuerzeug anbrennt. Die Flamme zuckt nervös im Nachtwind. Bald wird sie erlöschen. Und er…, bläst sie aus.
<Sie sollten auf ihre Gesundheit achten! Rauchen ist schädlich und im Haus nicht erlaubt!> Aber denen zeige ich es. Ich werde ab sofort unsinnige Befehle verweigern. Zu viele habe ich befolgt. Ich werde sie einfach…vergessen, denkt es in ihm. Haben wir nicht alle ein Recht, vergessend verloren zu gehen? Nur noch ein oder zwei Schritte…Er schlingt den knappen Hausmantel enger um sich, führt bibbernd die Zigarette zum Mund. Noch ein kräftiger Zug…

Zwei Beamte aus einem Streifenwagen nähern sich.
„Guten Abend! Können Sie sich ausweisen?“
„Ausweisen, Herr Oberscharführer? Wohin ausweisen? Hier, nehmen Sie alles, mein Portemonnaie, mein Geld, alles, ist sowieso verloren! Aber lassen Sie mir meine Olga! Ach so, der Stern am Mantel fehlt?“
„Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie?“
„Der Mann ist verwirrt, das siehst du doch, Kurt“, meint der ältere der beiden Polizisten.
„Übrigens, hier ist eine Rechnung einer Wäscherei im Portemonnaie, an Herrn Prof. Dr. Winkler, St.Hedwig-Haus.“
„Sind Sie Professor Winkler? Haben Sie was getrunken?“
„Lass, Kurt, wir bringen ihn ins Heim.“
„Wohin bringen Sie mich? Zum LKW? Zum Zug? Was haben Sie mit Olga gemacht, verfluchte Bande?“

„Herr Wachtmeister, er hat schon zweimal das Heim verlassen, ohne sich abzumelden. Herr Professor, was machen Sie denn für Sachen?“
Die Nachtschwester ist sichtlich besorgt.
„Ich bin allein für zwanzig alte Herrschaften verantwortlich, müssen Sie wissen“, erklärt sie den Beamten.
„Gute Nacht, Schwester, passen Sie in Zukunft besser auf ihn auf!“
„Gute Nacht, Professor!“

„Du, Leo, im Kölner Stadtanzeiger steht, sie haben wieder einmal die Leiche eines unbekannten alten Mannes am Wehr aus dem Rhein geborgen. Dabei fällt mir ein, wir sollten vielleicht mal bei Papa anrufen, ob er denn nun ins Heim gegangen ist. Du hast dich ewig nicht um ihn gekümmert. Ich hab` dir immer gesagt…“
„Später, meine Liebe, später, der Alte geht schon nicht verloren…“
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo HajoB!

Was für eine deprimierende Geschichte vom Altwerden und Verlorengehen! Du hast schöne Bilder gefunden, um die Verwirrtheit des Alten in einer Welt, die nicht mehr seine ist, zu beschreiben.

Meiner Ansicht nach ist dein Text aber eher die Beschreibung eines momentanen Seelenzustandes als eine Kurzgeschichte, weil sie keine richtige Handlung enthält.

Gruß, Hyazinthe
 

HajoBe

Mitglied
Hallo Hyazinthe, danke für die Beschäftigung mit meinem Text. Ja, es ist eine Momentaufnahme, doch derer gibt es viele und tagtäglich. Warum sollte man sie nicht in eine kurze Geschichte kleiden? Man liest sie wie ein Klagelied, das verhallt und doch nachklingt.
Lieben Gruß HajoBe
 



 
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