Der Andere

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Anonym

Gast
„Ganz egal wo du auch hingehst
Ich bin immer dabei
Einen Moment lang passt du nicht auf
Und dann bin ich frei“


Der Andere

Er fühlte rauhen Putz an den Händen.
Der Fick des Jahrhunderts. Diese Nacht würde ihn bringen.
Er lehnte sich gegen die Hauswand. Seine Beine versagten den Dienst.
Er schloß die Augen. Noch immer erregt. Er begann zu zählen. Langsam.
Bis 23.
Sein erprobtes Mittel, um sich zu beruhigen.

Die übliche Barbekanntschaft. Groß, schlank. Die Augen dunkel und selbstsicher.
Eine perfekte Droge für diese Nacht.
Er wusste um die Wirkung seines Auftretens und seines Aussehens.
Zu ihr nach Hause. Die beste aller möglichen Lösungen.
Er konnte gehen, wann immer er wollte. Keine Fragen, kein „wir sehen uns wieder?“
Alles wunderbar anonym unverbindlich. Offensichtlich sein Glücksabend.
Geschickt öffnete er ihr Kleid.
Sie trug keine Unterwäsche.
Seine Finger glitten an ihrem Körper hinab.
Fuhren über die Kontur ihrer Brüste, streichelten ihren Bauch und versanken in ihrem Schamhaar.
Ein purpurner Schimmer huschte ihr über die Wangen. Sie zog ihn an sich. Ihre Lippen fanden sich zu einem Kuß. Mit einer leichten Bewegung öffnete sie seine Hose.

Dann Stille.
Filmriß.
Weißes Rauschen.
Ewigkeitslang.

Noch immer war er an die Hauswand gelehnt. Tastete sich durch die Dunkelheit seines Geistes.
Er fühlte klebriges an seinen Fingern. Blut. Seine Hände wie rot geästeter Marmor.
Erinnerungsfetzen hagelten ihm ins Bewußtsein. Wieder und wieder ein Bild.
Der stählerne Brieföffner auf dem Tisch. Wie einfach war er in ihre Kehle gefahren.
Als sie zusammensackte, grinste ihn die offene Wunde an. Ein zynisches zweites Gesicht. Er kannte es. Der Andere - war wieder erwacht, den er so haßte, der tief unten hauste. Sein Flüstern war stiller geworden in letzter Zeit. Fast schon hatte er ihn vergessen. Seinen eifersüchtigen Bruder, der ihn ganz für sich wollte.
Schüttelfrost packte ihn. Er übergab sich auf den Asphalt. Ruhe, er wollte nur Ruhe.
Er schloß die Augen. Im Geist das Gelächter des Anderen. Er begann zu zählen. Langsam.
Unendlich.
 
D

Denschie

Gast
hallo a.,
hui - du beschreibst so gut, dass ich fast
angst vor dir bekomme.
psycho ist nicht mein genre, deshalb bin ich
froh über die kurze knackigkeit deines textes,
der mir einen aufenthalt im bereich der irren
ermöglicht.
interessant finde ich die trennung in "selbst"
und "der andere". hast du das mal irgendwo gelesen
oder stellst du dir die psyche eines solchen menschen
so vor? ich meine jetzt nicht allgemeinplätze, wie
"da war ich gar nicht ich selbst". in den meisten
fällen geht diese einschätzung ja nicht damit
einher, dass sich ein "weißes rauschen" über die
situation legt. oder vielleicht doch?
mich würde interessieren: denkst du, dass bei einem
menschen, der als der andere einen mord begeht diese
trennung schärfer stattfindet als im alltäglichen
leben, das ja meist ohne morde auskommt?
dahinter steckt für mich die frage, ob es normalität
gibt bzw. was es heißt in den kategorien "normal"
und "unnormal" zu denken.
also, inwiefern ist dein mörder normal? oder anders:
möchtest du, dass seine tat normal und nachvollziebar
wirkt oder das genau gegenteil?
viele grüße,
denschie
 

Anonym

Gast
Erklärungsversuch

Hallo Denschie, Hallo Anemone

Schizophrenie trifft ziemlich genau das, was ich beschreiben wollte. Es ging mir um einen innerlich zerissenen Menschen, bei dem in einem Moment sämtliche übergeordneten Kontrollinstanzen versagen. Dazu gehören auch die Kategorien moralisch, unmoralisch.
Der Filmriß und das weiße Rauschen im Mittelteil stehen sozusagen für die Verdrängung, als die "moralischen" Instanzen wieder zurückkehren. Eine so kurze Amnesie ist psychologisch wahrscheinlich nicht ganz haltbar. Aber es ist ja auch eine fiktive Geschichte.
Ist der Mörder normal oder nicht? Die Frage läßt sich beantworten mit, er ist krank. Als nachvollziehbar darstellen wollte ich den Mord eigentlich nicht.
Ich hatte im Zuge meines Studiums eine Vorlesungsreihe in forensischer Psychiatrie und dort gab es einige Fälle, bei denen die Patienten wirklich glaubten, fremdgesteuert etc. zu sein. Zur gleichen Zeit habe ich auch das Buch "American Psycho" gelesen. Zum Thema Inspiration.
So, jetzt hab ich genug geschwafelt.;-) Ich hoffe, Denschie, daß ich Deine Fragen einigermaßen erschöpfend beantwortet habe.
Danke für die Kommentare

Viele Grüße
 



 
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