Der Ausländer

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Ji Rina

Mitglied
Das Dorf lag tief im Süden Spaniens, eingebettet zwischen Hügeln und dem Meer. Eine Kirche und vierzig, fünfzig Häuser, umgeben von gelbbraunen Feldern. Eine vereinsamte Landstraße, auf der nur selten ein Auto fuhr. Hin und wieder ein Bauer bei der Arbeit auf dem Land oder eine schwarz gekleidete Frau, die trotz der glühenden Hitze ihr Gesicht bis auf die Augen mit einem Kopftuch verdeckte.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als eine Gestalt um drei Uhr nachmittags den einsamen Dorfplatz überquerte. Sie bog in eine Gasse und verschwand in dem einzigen Geschäft.
Als die Frau den Fremden hereinkommen sah, blickte sie neugierig hoch. Ausländer gab es hier selten. Er grüßte, hob dabei kurz die Hand, und blieb neben einem der hinteren Regale stehen.
Als er kurz darauf zu ihr kam, um zu bezahlen, fixierte sie ihn mit ihrem Blick. Sie nahm den Geldschein entgegen und öffnete die Kasse. In dem Moment muss es gewesen sein: Sie hatte ihn erkannt. Ein zweiter Blick in seine Augen ließ sie kurz zusammenzucken und erschaudern. Er grüßte sie noch einmal, murmelte ein paar Worte, die sie nicht verstand, drehte sich dabei um und verließ den Laden. Als sie kurz darauf zur Tür hastete, um zu sehen, in welche Richtung er gegangen war, hatte er das Ende der Straße bereits erreicht. Sie sah ihn noch am Brunnen vor der Kirche vorbeigehen, sie erkannte noch seinen Rucksack, den er lässig über der Schulter trug, bis er hinter der Kirche verschwand. Hastig verschloss sie die Tür mit dem Schlüssel und rannte nach hinten zu ihrem Baby. Das Baby schlief ruhig atmend in seinem Bettchen.

Er muss es sein, dachte sie. Er muss es sein.

Nie hatte sie sein Bild vergessen können. Diese braunen Augen, diese schmalen, zu einer geraden Linie gezogenen Lippen. Nie diesen Blick … diesen seltsam leeren Blick.

Er war es. Jetzt war sie sich sicher.

Zitternd drückte sie das Baby an ihre Brust und spürte ihren eigenen Herzschlag. Sie überlegte, was zu tun sei, und wickelte das Baby in ein Deckchen. Dann lief sie hinaus auf die Straße, huschte durch die Gassen, noch am Rathaus vorbei, bis zur Dorfpolizei.

Als sie vor dem Comandante saß, versuchte sie, sich zu beruhigen, und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie hielt das Baby, wippte es sanft auf ihrem Schoß.
»Können Sie sich noch daran erinnern?«
»Natürlich erinnere ich mich. So etwas vergisst man nicht«, sagte der Comandante ernst und wunderte sich über diesen Besuch.
»Er war in meinem Laden«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr so fremd vorkam, als ob es nicht ihre wäre.
Der Comandante blickte hoch und sah sie scharf an. Hundert Gedanken schossen blitzschnell durch seinen Kopf, aber er sah sie nur scharf an.
»Er hat ein paar Sachen gekauft …«, sagte sie, fast im Flüsterton, »das Übliche, was man so kauft … Brot und Schinken, ein Stück Käse … Eine Flasche Bier.«
»Wann war das?«, wollte er wissen.
»Gerade eben. Vor einer halben Stunde.«
»Und Sie sind sicher, dass er es ist?«
»Er war es«, sagte sie entschlossen. »Der Ausländer auf dem Bild in der Zeitung.«
Der Comandante sah sie prüfend an.
»War er zu Fuß?«
»Ja. Er war zu Fuß.«

Mehr brauchte der Comandante nicht. Plötzlich hatte er es eilig. Er stand von seinem Stuhl auf und riet ihr, nach Hause zu gehen. Er sagte, sie solle sich ganz ruhig verhalten und mit niemandem darüber sprechen.
»Ich werde Ihnen morgen oder übermorgen einen Besuch abstatten«, sagte er. »Gehen Sie jetzt und tun Sie so, als seien Sie nie hier gewesen.« Dann rief er den Sargento und begleitete sie bis an die Tür.
Als sie ihr Haus betrat, war Manuel, ihr Schwager, schon von der Arbeit zurück.
»Manuel!«, rief sie, noch während sie zur Tür hereinkam.
»Erinnerst du dich noch – vor drei Jahren? Da hatte ein Fremder einen achtjährigen Jungen in den Hügeln von Santa Piedra missbraucht und getötet. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich. Es stand in der Zeitung. Es war ein Ausländer, der auf einem der Hügel in einem Zelt lebte, und der Junge ging immer zu ihm rauf, um dort zu spielen. Einige Bauern hatten sie sogar ein paar Mal zusammen gesehen.«
»Ja«, sagte sie. »Und als man den Jungen tot auffand, da war der Fremde plötzlich weg. Verschwunden. Nirgends mehr auffindbar. Weißt du das noch?«

Der Comandante und fünf seiner Männer trafen in drei Polizeiautos auf dem Campingplatz ein. Die Sonne war jetzt eine rote Kugel, dicht über dem Horizont. Auf dem Campingplatz standen nur zwei Wohnwagen. Zwei Kinder spielten mit Eimern und Schaufeln im Sand. Als die Polizeiautos an ihnen vorbeifuhren, hoben sie die Köpfe und verfolgten sie mit ausdruckslosem Blick. Sonst war niemand zu sehen.
Der Mann, den sie suchten, stand gerade vor seinem Zelt. Er hatte schon zu Abend gegessen und wollte sich gerade auf seine Hängematte legen. Als er die drei Wagen der Guardia civil auf sich zukommen sah, blieb er regungslos stehen. Er bewegte sich auch nicht, als sie zu sechst ausstiegen.
Der Comandante fragte ihn nach seinem Namen, fragte ihn, woher er käme, und verlangte nach seinem Pass, während die anderen Polizisten sein Zelt durchsuchten.
Dann legten sie ihm die Handschellen um.
Mit leerem, ausdruckslosem Blick, ließ er sich vorwärts und in einen der Polizeiwagen drängen. Seine paar Habseligkeiten, der Rucksack, die Hängematte und das Zelt, blieben zurück. Die Kinder hatten aufgehört zu spielen. Sie standen jetzt am Rande des Weges und blickten dem Mann in die Augen, der hinten zwischen zwei Polizisten in dem vorbeifahrenden Auto saß. Noch eine Stunde zuvor hatten sie mit ihm gesprochen. Hatten sich von ihm die Muscheln zeigen lassen, die er vom Strand mitgebracht hatte.

Während der Fahrt sagte er nichts. Er blickte seitlich zum Meer, wo die Sonne jetzt langsam untertauchte. Ein weiterer Tag seines bedeutungslosen Lebens ging zu Ende. Es gab nur eins, das ihn wirklich wunderte: Man hatte ihn viel zu schnell gefunden. Viel zu schnell geholt. Das Bild hatte sich plötzlich gewendet. Jetzt hatten sie ihn. Er, das Monster, der Abschaum der Menschheit. Das war, was er dachte. Aber dass es so schnell geschehen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte noch einmal auf den Hügel, er wollte noch einmal dorthin, an diese Stelle, an der er damals einen Teil seiner Selbst verloren hatte. Er wollte noch einmal in diese Gegend, um das Geschehene zu verstehen. Aber dazu war jetzt keine Zeit mehr. Das Schicksal hatte ihm einen Streich gespielt.

Im Gefängnis von Santa Lucia steckte man ihn in einen Kerker. Ein feuchtes, kühles Loch, drei Meter unterhalb der Erde. Man befahl ihm, über eine kleine Leiter hinabzusteigen und verriegelte von oben die Gittertür. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Bett. Das Einzige, was er dort unten sah, war eine an der Decke hängende Glühbirne.

Drei Tage lang hockte er dort auf den feuchten Steinen, abwartend und den Blick starr auf die Leiter gerichtet. Es gab nicht viel, worüber er nachdachte. Man hatte ihm noch nichts gesagt, noch keine Anklage erhoben. Als Erstes müsste man ihm wohl einen Rechtsanwalt bringen. Es müsste jemand sein, der seine Sprache sprach. Früher oder später würde wohl ein Prozess stattfinden. Man könnte ihn auch ausweisen und der Polizei seines Landes übergeben. Eines war er sich sicher: Er würde den Rest seines Lebens in einem Gefängnis verbringen. Das war alles, was er dachte.

In der dritten Nacht marschierten fünf Polizisten der Guardia civil den dunklen Gang entlang. Sie entsicherten die Gittertür und befahlen ihm hochzusteigen. Er erklomm die ersten Stufen, hielt kurz inne und blickte verunsichert um sich. Als er schon fast oben war, erreichte ihn der erste Schlag im Nacken. Zwei paar Hände zogen ihn hinauf, als ihn ein zweiter Schlag mitten ins Gesicht traf. Er schrie nicht auf, fiel nur auf die Knie und tat nichts, um sich zu wehren. Es folgte ein Schlag nach dem anderen, mal mit einer Faust, mal mit einem Gegenstand. Und als er keuchend zusammensackte, spuckte er Blut und Zähne aus. Er merkte kaum noch den Unterschied zwischen dem Stiefeltritt gegen seine Schläfe und dem Schlag der Eisenstange auf seinem Kopf. Als er endgültig zusammenbrach, spritzte ihm Blut aus Mund, Ohren und Nase.

Sieben Minuten später war er tot.

Man begrub ihn dreihundert Kilometer weiter südlich auf dem Friedhof eines winzig kleinen Dorfes.
Auf seinem Grab gab es kein Namenschild.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Ji Rina,

diese Geschichte lässt mich ziemlich ratlos zurück, und auch ein zweites Lesen hat mich nicht weitergebracht.
Nie hatte sie sein Bild vergessen können. Diese braunen Augen, diese schmalen, zu einer geraden Linie gezogenen Lippen. Nie diesen Blick … diesen seltsam leeren Blick.
Die Frau erkennt einen Mann wieder, sie erkennt sogar seinen Rucksack – woher kennt sie ihn? Nur aus einem Zeitungsbericht?

Der beschriebene Landstrich ist offensichtlich ein rechtsfreier Raum: Man sperrt einen Verdächtigen drei Tage lang in ein menschenunwürdiges Kerkerloch, man verhört ihn nicht, denn er spricht gar nicht ihre Sprache, und irgendwann prügelt man ihn zu Tode und verscharrt ihn ganz einfach. In welchem Jahrhundert siedelst Du denn diese Geschichte an? Zu Zeiten der Diktatur? Dann solltest Du einen Hinweis darauf geben. Allerdings sprechen der Campingplatz und die Wohnwagen eher für moderne Zeiten.

Vieles in dieser Geschichte erscheint mir zu vage und unklar, z. B. hier
Als die Frau den Fremden hereinkommen sah
Das klingt nach einer bestimmten Frau, bisher war von ihr aber noch nicht die Rede.

Einige kleine Verbesserungsvorschläge:
Eine vereinsamte Landstraße
Eine Landstraße kann einsam sein, aber nicht vereinsamt, denn dieses Adjektiv kann man nur bei Personen verwenden.
Hin und wieder ein Bauer bei der Arbeit auf dem Land
Hier würde ich „auf dem Land“ entweder ganz weglassen oder durch „auf dem Feld“ ersetzen.
Hundert Gedanken schossen blitzschnell durch seinen Kopf
"Blitzschnell“ ist neben "schossen" entbehrlich.

Gruß Ciconia
 

Ji Rina

Mitglied
1983
Das Dorf lag tief im Süden Spaniens, eingebettet zwischen Hügeln und dem Meer. Eine Kirche und vierzig, fünfzig Häuser, umgeben von gelbbraunen Feldern. Eine einsame Landstraße, auf der nur selten ein Auto fuhr. Hin und wieder ein Bauer bei der Arbeit auf dem Feld oder eine schwarz gekleidete Frau, die trotz der glühenden Hitze ihr Gesicht bis auf die Augen mit einem Kopftuch verdeckte.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als eine Gestalt um drei Uhr nachmittags den einsamen Dorfplatz überquerte. Sie bog in eine Gasse und verschwand in dem einzigen Geschäft.
Als die Inhaberin des Geschäfts den Fremden hereinkommen sah, blickte sie neugierig hoch. Ausländer gab es hier selten. Er grüßte, hob dabei kurz die Hand, und blieb neben einem der hinteren Regale stehen.
Als er kurz darauf zu ihr kam, um zu bezahlen, fixierte sie ihn mit ihrem Blick. Sie nahm den Geldschein entgegen und öffnete die Kasse. Und in dem Moment muss es gewesen sein: Sie hatte ihn erkannt. Ein zweiter Blick in seine Augen ließ sie kurz zusammenzucken und erschaudern. Er grüßte sie noch einmal, murmelte ein paar Worte, die sie nicht verstand, drehte sich dabei um und verließ den Laden. Als sie kurz darauf zur Tür hastete, um zu sehen, in welche Richtung er gegangen war, hatte er das Ende der Straße bereits erreicht. Sie sah ihn noch am Brunnen vor der Kirche vorbeigehen, sah noch seinen Rucksack, den er lässig über der Schulter trug, bis er hinter der Kirche verschwand. Hastig verschloss sie die Tür mit dem Schlüssel und rannte nach hinten zu ihrem Baby. Das Baby schlief ruhig atmend in seinem Bettchen.

Er muss es sein, dachte sie. Er muss es sein.

Nie hatte sie sein Bild vergessen können. Diese braunen Augen, diese schmalen, zu einer geraden Linie gezogenen Lippen. Nie diesen Blick … diesen seltsam leeren Blick.

Er war es. Jetzt war sie sich sicher.

Zitternd drückte sie das Baby an ihre Brust und spürte ihren eigenen Herzschlag. Sie überlegte, was zu tun sei, und wickelte das Baby in ein Deckchen. Dann lief sie hinaus auf die Straße, huschte durch die Gassen, noch am Rathaus vorbei, bis zur Dorfpolizei.

Als sie vor dem Comandante saß, versuchte sie, sich zu beruhigen, und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie hielt das Baby, wippte es sanft auf ihrem Schoß.
»Können Sie sich noch daran erinnern?«
»Natürlich erinnere ich mich. So etwas vergisst man nicht«, sagte der Comandante ernst und wunderte sich über diesen Besuch.
»Er war in meinem Laden«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr so fremd vorkam, als ob es nicht ihre wäre.
Der Comandante blickte hoch und sah sie scharf an. Hundert Gedanken schossen durch seinen Kopf, aber er sah sie nur scharf an.
»Er hat ein paar Sachen gekauft …«, sagte sie, fast im Flüsterton, »das Übliche, was man so kauft … Brot und Schinken, ein Stück Käse … Eine Flasche Bier.«
»Wann war das?«, wollte er wissen.
»Gerade eben. Vor einer halben Stunde.«
»Und Sie sind sicher, dass er es ist?«
»Er war es«, sagte sie entschlossen. »Der Ausländer auf dem Bild in der Zeitung.«
Der Comandante sah sie prüfend an.
»War er zu Fuß?«
»Ja. Er war zu Fuß.«

Mehr brauchte der Comandante nicht. Plötzlich hatte er es eilig. Er stand von seinem Stuhl auf und riet ihr, nach Hause zu gehen. Er sagte, sie solle sich ganz ruhig verhalten und mit niemandem darüber sprechen.
»Ich werde Ihnen morgen oder übermorgen einen Besuch abstatten«, sagte er. »Gehen Sie jetzt und tun Sie so, als seien Sie nie hier gewesen.« Dann rief er den Sargento und begleitete sie bis an die Tür.
Als sie ihr Haus betrat, war Manuel, ihr Schwager, schon von der Arbeit zurück.
»Manuel!«, rief sie, noch während sie zur Tür hereinkam.
»Erinnerst du dich noch – vor drei Jahren? Da hatte ein Fremder einen achtjährigen Jungen in den Hügeln von Santa Piedra missbraucht und getötet. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich. Es stand in der Zeitung. Es war ein Ausländer, der auf einem der Hügel in einem Zelt lebte, und der Junge ging immer zu ihm rauf, um dort zu spielen. Einige Bauern hatten sie sogar ein paar Mal zusammen gesehen.«
»Ja«, sagte sie. »Und als man den Jungen tot auffand, da war der Fremde plötzlich weg. Verschwunden. Nirgends mehr auffindbar. Weißt du das noch?«

Der Comandante und fünf seiner Männer trafen in drei Polizeiautos auf dem Campingplatz ein. Die Sonne war jetzt eine rote Kugel, dicht über dem Horizont. Auf dem Campingplatz standen nur zwei Wohnwagen. Zwei Kinder spielten mit Eimern und Schaufeln im Sand. Als die Polizeiautos an ihnen vorbeifuhren, hoben sie die Köpfe und verfolgten sie mit ausdruckslosem Blick. Sonst war niemand zu sehen.
Der Mann, den sie suchten, stand gerade vor seinem Zelt. Er hatte schon zu Abend gegessen und wollte sich gerade auf seine Hängematte legen. Als er die drei Wagen der Guardia civil auf sich zukommen sah, blieb er regungslos stehen. Er bewegte sich auch nicht, als sie zu sechst ausstiegen.
Der Comandante fragte ihn nach seinem Namen, fragte ihn, woher er käme, und verlangte nach seinem Pass, während die anderen Polizisten sein Zelt durchsuchten.
Dann legten sie ihm die Handschellen um.
Mit leerem, ausdruckslosem Blick, ließ er sich vorwärts und in einen der Polizeiwagen drängen. Seine paar Habseligkeiten, der Rucksack, die Hängematte und das Zelt, blieben zurück. Die Kinder hatten aufgehört zu spielen. Sie standen jetzt am Rande des Weges und blickten dem Mann in die Augen, der hinten zwischen zwei Polizisten in dem vorbeifahrenden Auto saß. Noch eine Stunde zuvor hatten sie mit ihm gesprochen. Hatten sich von ihm die Muscheln zeigen lassen, die er vom Strand mitgebracht hatte.

Während der Fahrt sagte er nichts. Er blickte seitlich zum Meer, wo die Sonne jetzt langsam untertauchte. Ein weiterer Tag seines bedeutungslosen Lebens ging zu Ende. Es gab nur eins, das ihn wirklich wunderte: Man hatte ihn viel zu schnell gefunden. Viel zu schnell geholt. Das Bild hatte sich plötzlich gewendet. Jetzt hatten sie ihn. Er, das Monster, der Abschaum der Menschheit. Das war, was er dachte. Aber dass es so schnell geschehen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte noch einmal auf den Hügel, er wollte noch einmal dorthin, an diese Stelle, an der er damals einen Teil seiner Selbst verloren hatte. Er wollte noch einmal in diese Gegend, um das Geschehene zu verstehen. Aber dazu war jetzt keine Zeit mehr. Das Schicksal hatte ihm einen Streich gespielt.

Im Gefängnis von Santa Lucia steckte man ihn in einen Kerker. Ein feuchtes, kühles Loch, drei Meter unterhalb der Erde. Man befahl ihm, über eine kleine Leiter hinabzusteigen und verriegelte von oben die Gittertür. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Bett. Das Einzige, was er dort unten sah, war eine an der Decke hängende Glühbirne.

Drei Tage lang hockte er dort auf den feuchten Steinen, abwartend und den Blick starr auf die Leiter gerichtet. Es gab nicht viel, worüber er nachdachte. Man hatte ihm noch nichts gesagt, noch keine Anklage erhoben. Als Erstes müsste man ihm wohl einen Rechtsanwalt bringen. Es müsste jemand sein, der seine Sprache sprach. Früher oder später würde wohl ein Prozess stattfinden. Man könnte ihn auch ausweisen und der Polizei seines Landes übergeben. Eines war er sich sicher: Er würde den Rest seines Lebens in einem Gefängnis verbringen. Das war alles, was er dachte.

In der dritten Nacht marschierten fünf Polizisten der Guardia civil den dunklen Gang entlang. Sie entsicherten die Gittertür und befahlen ihm hochzusteigen. Er erklomm die ersten Stufen, hielt kurz inne und blickte verunsichert um sich. Als er schon fast oben war, erreichte ihn der erste Schlag im Nacken. Zwei paar Hände zogen ihn hinauf, als ihn ein zweiter Schlag mitten ins Gesicht traf. Er schrie nicht auf, fiel nur auf die Knie und tat nichts, um sich zu wehren. Es folgte ein Schlag nach dem anderen, mal mit einer Faust, mal mit einem Gegenstand. Und als er keuchend zusammensackte, spuckte er Blut und Zähne aus. Er merkte kaum noch den Unterschied zwischen dem Stiefeltritt gegen seine Schläfe und dem Schlag der Eisenstange auf seinem Kopf. Als er endgültig zusammenbrach, spritzte ihm Blut aus Mund, Ohren und Nase.

Sieben Minuten später war er tot.

Man begrub ihn dreihundert Kilometer weiter südlich auf dem Friedhof eines winzig kleinen Dorfes.
Auf seinem Grab gab es kein Namenschild.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Ciconia!
Erstmal ein grosses Dankeschön fürs Lesen und das Du Dir die Zeit genommen hast!
Zu Deinen Anmerkungen:
Ja, die Frau erkennt den Mann vom Bild in der Zeitung wieder (Sie erkennt seine Augen, seinen Blick, seinen schmalen Mund) das Bild hat sie sich jahrelang eingeprägt, weil in dieser Gegend, Morde, gar Kindermorde noch nie vorgekommen sind. Ich denke, dass so etwas schonmal vorgekommen ist, dass man aufgrund eines Fotos in einer Zeitung, oder einer Aufnahme im Fernsehen, jemanden erkennt.
Den Rucksack “erkennt” sie nicht, sondern sieht ihn noch auf der Schulter des Mannes, während er hinter der Kirche verschwindet (Ich hab es verbessert, leider ist meine Muttersprache nicht Deutsch, sondern Spanisch. Höre Deutsch leider nur im TV.) .

Dies ist eine völlig reale Geschichte aus dem Jahre 1983. Franco war schon viele Jahre tot. Also keine Diktatur. Wohnwagen und Campingplätze gab es in Spanien bereits in den fünfzigern, zu Dikaturzeiten. Cuba und China haben auch Campings und Wohnwagen.

“Als die Frau den Fremden hereinkommen sah”
Eigentlich versteht sich aus der nächsten Zeile, dass die Ladensfrau gemeint ist, aber ich habs deutlicher gemacht.

“vereinsamte Landstrasse”, habe ich in “einsame Landstrasse” umgeändert. Diesen Unterschied kannte ich nicht.
“Arbeit auf dem Land”, hab ich Deiner Anemrkung nach in “Arbeit auf dem Feld” umgeschrieben.
Blitzschnell: Ist überflüssig. Da hast Du recht. Habs gestrichen. Mehr als Hunderte von Euro in deutsche Lektorinnen auszugeben, kann ich auch nicht (grinserle).

Man hätte diese Geschichte sicherlich auch anders schreiben können. Aber ich mache gerne Experimente mit dem “Minimum”.

Nochmal ganz herzlichen Dank für Deine Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge! Vielleicht ist es jetzt verständlicher.
Mit Gruss,
Ji
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo Ji Rina!

Eine düstere Geschichte!
Ich hätte gern mehr erfahren über den Mann, der ja offensichtlich das Kind umgebracht hat, und sein "bedeutungsloses Leben". Warum ging der Junge "zu ihm rauf"? Warum muss es ein Ausländer sein? Und war Selbstjustiz tatsächlich noch möglich zu der Zeit, in der die Geschichte spielt, ohne dass das Konsequenzen nach sich zog?

Deine Art zu erzählen, gefällt mir. Sie ist anschaulich und konkret. Manchmal etwas sprunghaft. An einer Stelle würde ich die Sätze umstellen:
"Als er kurz darauf zu ihr kam, um zu bezahlen, fixierte sie ihn mit ihrem Blick. (...) In dem Moment muss es gewesen sein: Sie hatte ihn erkannt. Sie nahm den Geldschein..."
(Ich weiß nicht, wie man Ausschnitte aus dem Text richtig zitiert, entschuldige bitte)

Gruß, Hyazinthe
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Hyazinthe,

Ich hab die Story absichtlich nicht so detailliert erzählt, weil ich einfach die Hauptereignisse, die geschahen, wie Du sagst: Düster genug fand. Also konzentrierte ich mich nur: darauf. Über diesen Mann wusste man überhaupt nichts. Und der Junge ging einfach zu ihm rauf, um zu spielen, und weil der Mann “ nett” war.
Es muss nicht ein Ausländer sein. Es war zufälligerweise ein Ausländer. Und ich hoffe, dass dieser Text nicht als Fremdenfeindlicher Text aufgenommen wird. Dies ist eine ganz reale Geschichte, die ich so erzählt habe, wie sie passiert ist. Es soll auch ein Licht darauf werfen, wie manche Dörfer (früher) alles von draussen kommende, als “Eindringling” “Ausländer” “Fremdling” bezeichneten. Deshalb wird ja auch die Umgebung beschrieben: Irgendein Kaff im Süden Spaniens, in dem nie irgendetwas passierte. Solch eine Justiz, war in den 80gern Offiziell natürlich nicht (mehr) möglich. Aber In-Offiziell eben doch. Wer soll denn was machen, wenn einer zufällig an einer Lungenentzündung stirbt? Wenn jemand garnicht erst vermisst/gesucht wird? Oder wenn niemand jemals erfährt, wo derjenige überhaupt gelandet ist?
Ohne den Finger zu heben, ohne anzuklagen, habe ich versucht dies darzustellen, wobei mein Ziel und Hauptinteresse war, es so “minimal” wie möglich zu halten, ohne grosse Umschreibungen und Erklärungen.
Die Stelle die Du nennst: Ich weiss nicht, wie Du sie umschreiben würdest. Vielleicht kannst Du mir ja dabei helfen und einen Rat geben. Ich dachte, dass es genau darum hier bei LL geht…Leider hab auch ich noch nicht rausbekommen, wie das mit dem Zitieren geht.
Vielen Dank, Hyazinthe, dass Du Dich mit dem Text beschäftigt hast. Wir lesen uns.
Mit liebem Gruss,
Ji
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ji Rina,

ein paar Anmerkungen in blau zu Deinem Text:



1983 [blue]Warum die Jahresangabe?[/blue]
Das Dorf lag tief im Süden Spaniens, eingebettet zwischen Hügeln und dem Meer. Eine Kirche und vierzig, fünfzig Häuser, umgeben von gelbbraunen Feldern. Eine einsame Landstraße, auf der nur selten ein Auto fuhr. Hin und wieder ein Bauer bei der Arbeit auf dem Feld oder eine schwarz gekleidete Frau, die trotz der glühenden Hitze ihr Gesicht bis auf die Augen mit einem Kopftuch verdeckte. [blue]Was meinst Du hier? Die Frau zog das Kopftuch bis über die Augen, um sich vor der Sonne zu schützen? Im Moment hört es sich missverständlich an, so als zöge sie das Kopftuch über das ganze Gesicht und spart nur die Augen aus. Ist eher eine Burka. ;-)[/blue]
Die Sonne stand hoch am Himmel, als eine Gestalt um drei Uhr nachmittags den einsamen Dorfplatz überquerte. Sie bog in eine Gasse und verschwand in dem einzigen Geschäft.
Als die Inhaberin des Geschäfts den Fremden hereinkommen sah, blickte sie neugierig hoch. Ausländer [blue]Fremd ist nicht gleich Ausländer! [/blue]gab es hier selten. Er grüßte, hob dabei kurz die Hand, und blieb neben einem der hinteren Regale stehen.
Als er kurz darauf zu ihr kam, um zu bezahlen, fixierte sie ihn mit ihrem Blick. Sie nahm den Geldschein entgegen und öffnete die Kasse. Und in dem Moment muss es gewesen sein: Sie hatte ihn erkannt. [blue]Besser: In diesem Moment erkannte sie ihn.[/blue] Ein zweiter Blick in seine Augen ließ sie kurz zusammenzucken und erschaudern. Er grüßte sie noch einmal, murmelte ein paar Worte, die sie nicht verstand, drehte sich dabei um und verließ den Laden. Als sie kurz darauf zur Tür hastete, um zu sehen, in welche Richtung er gegangen war, hatte er das Ende der Straße bereits erreicht. Sie sah ihn noch am Brunnen vor der Kirche vorbeigehen, sah noch seinen Rucksack, den er lässig über der Schulter trug, bis er hinter der Kirche verschwand. Hastig verschloss sie die Tür mit dem Schlüssel und rannte nach hinten zu ihrem Baby. Das Baby schlief ruhig atmend in seinem Bettchen.

Er muss es sein, dachte sie. Er muss es sein.

Nie hatte sie sein Bild vergessen können. Diese braunen Augen, diese schmalen, zu einer geraden Linie gezogenen Lippen. Nie diesen Blick … diesen seltsam leeren Blick.

Er war es. Jetzt war sie sich sicher.

Zitternd drückte sie das Baby an ihre Brust und spürte ihren eigenen Herzschlag. Sie überlegte, was zu tun sei, und wickelte das Baby in ein Deckchen. Dann lief sie hinaus auf die Straße, huschte durch die Gassen, [strike]noch[/strike] am Rathaus vorbei, bis zur Dorfpolizei.

Als sie vor dem Comandante saß, versuchte sie, sich zu beruhigen, und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie hielt das Baby, wippte es sanft auf ihrem Schoß.
»Können Sie sich noch daran erinnern?«
»Natürlich erinnere ich mich. So etwas vergisst man nicht«, sagte der Comandante ernst und wunderte sich über diesen Besuch.
»Er war in meinem Laden«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr so fremd vorkam, als ob es nicht ihre wäre.
Der Comandante blickte hoch und sah sie scharf an. Hundert Gedanken schossen durch seinen Kopf, aber er sah sie nur scharf an.
»Er hat ein paar Sachen gekauft …«, sagte sie, fast im Flüsterton, »das Übliche, was man so kauft … Brot und Schinken, ein Stück Käse … Eine Flasche Bier.«
»Wann war das?«, wollte er wissen.
»Gerade eben. Vor einer halben Stunde.«
»Und Sie sind sicher, dass er es ist?«
»Er war es«, sagte sie entschlossen. »Der Ausländer auf dem Bild in der Zeitung.«
Der Comandante sah sie prüfend an.
»War er zu Fuß?«
»Ja. Er war zu Fuß.«

Mehr brauchte der Comandante nicht. Plötzlich hatte er es eilig. Er stand von seinem Stuhl auf und riet ihr, nach Hause zu gehen. Er sagte, sie solle sich ganz ruhig verhalten und mit niemandem darüber sprechen.
»Ich werde Ihnen morgen oder übermorgen einen Besuch abstatten«, sagte er. »Gehen Sie jetzt und tun Sie so, als seien Sie nie hier gewesen.« Dann rief er den Sargento und begleitete sie bis an die Tür.
Als sie ihr Haus betrat, war Manuel, ihr Schwager, schon von der Arbeit zurück.
»Manuel!«, rief sie, noch während sie zur Tür hereinkam.
»Erinnerst du dich noch – vor drei Jahren? Da hatte ein Fremder einen achtjährigen Jungen in den Hügeln von Santa Piedra missbraucht und getötet. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich. Es stand in der Zeitung. Es war ein Ausländer, der auf einem der Hügel in einem Zelt lebte, und der Junge ging immer zu ihm rauf, um dort zu spielen. Einige Bauern hatten sie sogar ein paar Mal zusammen gesehen.«
»Ja«, sagte sie. »Und als man den Jungen tot auffand, da war der Fremde plötzlich weg. Verschwunden. Nirgends mehr auffindbar. Weißt du das noch?«

Der Comandante und fünf seiner Männer trafen in drei Polizeiautos auf dem Campingplatz ein. Die Sonne war jetzt eine rote Kugel, dicht über dem Horizont. Auf dem Campingplatz standen nur zwei Wohnwagen. Zwei Kinder spielten mit Eimern und Schaufeln im Sand. Als die Polizeiautos an ihnen vorbeifuhren, hoben sie die Köpfe und verfolgten sie mit ausdruckslosem [blue]wieso? Kinder reagieren eigentlich anders auf Polizeiautos [/blue]Blick. Sonst war niemand zu sehen.
Der Mann, den sie suchten, stand gerade vor seinem Zelt. Er hatte schon zu Abend gegessen und wollte sich gerade auf seine Hängematte legen. Als er die drei Wagen der Guardia civil auf sich zukommen sah, blieb er regungslos stehen. Er bewegte sich auch nicht, als sie zu sechst ausstiegen.
Der Comandante fragte ihn nach seinem Namen, fragte ihn, woher er käme, und verlangte nach seinem Pass, während die anderen Polizisten sein Zelt durchsuchten.
Dann legten sie ihm die Handschellen um.
Mit leerem, [strike]ausdruckslosem[/strike] Blick, ließ er sich vorwärts und in einen der Polizeiwagen drängen. Seine paar Habseligkeiten, der Rucksack, die Hängematte und das Zelt, blieben zurück. Die Kinder hatten aufgehört zu spielen. Sie standen jetzt am Rande des Weges und blickten dem Mann in die Augen, der hinten zwischen zwei Polizisten in dem vorbeifahrenden Auto saß. Noch eine Stunde zuvor hatten sie mit ihm gesprochen. Hatten sich von ihm die Muscheln zeigen lassen, die er vom Strand mitgebracht hatte.

Während der Fahrt sagte er nichts. Er blickte seitlich zum Meer, wo die Sonne jetzt langsam untertauchte. Ein weiterer Tag seines bedeutungslosen Lebens ging zu Ende. Es gab nur eins, das ihn wirklich wunderte: Man hatte ihn viel zu schnell gefunden. Viel zu schnell geholt. Das Bild hatte sich plötzlich gewendet. Jetzt hatten sie ihn. Er, das Monster, der Abschaum der Menschheit. Das war, was er dachte. Aber dass es so schnell geschehen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte noch einmal auf den Hügel, er wollte noch einmal dorthin, an diese Stelle, an der er damals einen Teil seiner Selbst verloren hatte. Er wollte noch einmal in diese Gegend, um das Geschehene zu verstehen. Aber dazu war jetzt keine Zeit mehr. Das Schicksal hatte ihm einen Streich gespielt.

Im Gefängnis von Santa Lucia steckte man ihn in einen Kerker. Ein feuchtes, kühles Loch, drei Meter unterhalb der Erde. Man befahl ihm, über eine kleine Leiter hinabzusteigen und verriegelte von oben die Gittertür. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Bett. Das Einzige, was er dort unten sah, war eine an der Decke hängende Glühbirne.

Drei Tage lang hockte er dort auf den feuchten Steinen, abwartend und den Blick starr auf die Leiter gerichtet. Es gab nicht viel, worüber er nachdachte. Man hatte ihm noch nichts gesagt, noch keine Anklage erhoben. Als Erstes müsste man ihm wohl einen Rechtsanwalt bringen. Es müsste jemand sein, der seine Sprache sprach. Früher oder später würde wohl ein Prozess stattfinden. Man könnte ihn auch ausweisen und der Polizei seines Landes übergeben. Eines war er sich sicher: Er würde den Rest seines Lebens in einem Gefängnis verbringen. Das war alles, was er dachte.

In der dritten Nacht marschierten fünf Polizisten der Guardia civil den dunklen Gang entlang. Sie entsicherten die Gittertür und befahlen ihm hochzusteigen. Er erklomm die ersten Stufen, hielt kurz inne und blickte verunsichert um sich. Als er schon fast oben war, erreichte ihn der erste Schlag im Nacken. [blue]Wieso im Nacken? Dann muss jemand hinter ihm gewesen sein! [/blue] Zwei paar [blue]Paar [/blue]Hände zogen ihn hinauf, als ihn ein zweiter Schlag mitten ins Gesicht traf. Er schrie nicht auf, fiel nur auf die Knie und tat nichts, um sich zu wehren. Es folgte ein Schlag nach dem anderen, mal mit einer Faust, mal mit einem Gegenstand. Und als er keuchend zusammensackte, spuckte er Blut und Zähne aus. Er merkte kaum noch den Unterschied zwischen dem Stiefeltritt gegen seine Schläfe und dem Schlag der Eisenstange auf seinem Kopf. Als er endgültig zusammenbrach, spritzte ihm Blut aus Mund, Ohren und Nase.

Sieben Minuten später war er tot.

Man begrub ihn dreihundert Kilometer weiter südlich auf dem Friedhof eines winzig kleinen Dorfes.
Auf seinem Grab gab es kein Namenschild.[blue] Besser: Sein Grab blieb namenlos.
[/blue]



Deine Geschichte ist so trostlos wie die einsame Landschaft, in der sie spielt. Das kommt gut rüber. Es ging Dir um Lynchjustiz, sogar von der Polizei unterstützt, weil Kindermörder auf der untersten Stufe der Hierachie stehen. Wenn ich das richtig interpretiere.

Dass das Ganze einer realen Geschichte nachempfunden - nicht nacherzählt, nehme ich an - ist, solltest Du besser für Dich behalten. Schweige über Deine Quellen. Sonst verliert der Text.

LG DS
 

Ji Rina

Mitglied
Das Dorf lag tief im Süden Spaniens, eingebettet zwischen Hügeln und dem Meer. Eine Kirche und vierzig, fünfzig Häuser, umgeben von gelbbraunen Feldern. Eine einsame Landstraße, auf der nur selten ein Auto fuhr. Hin und wieder ein Bauer bei der Arbeit auf dem Feld oder eine schwarz gekleidete Frau, die trotz der glühenden Hitze ein Kopftuch trug.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als eine Gestalt um drei Uhr nachmittags den einsamen Dorfplatz überquerte. Sie bog in eine Gasse und verschwand in dem einzigen Geschäft.
Als die Inhaberin des Geschäfts den Fremden hereinkommen sah, blickte sie neugierig hoch. Ausländer gab es hier selten. Er grüßte, hob dabei kurz die Hand, und blieb neben einem der hinteren Regale stehen.
Als er kurz darauf zu ihr kam, um zu bezahlen, fixierte sie ihn mit ihrem Blick. Sie nahm den Geldschein entgegen und öffnete die Kasse.In diesem Moment erkannte sie ihn. Ein zweiter Blick in seine Augen ließ sie kurz zusammenzucken und erschaudern. Er grüßte sie noch einmal, murmelte ein paar Worte, die sie nicht verstand, drehte sich dabei um und verließ den Laden. Als sie kurz darauf zur Tür hastete, um zu sehen, in welche Richtung er gegangen war, hatte er das Ende der Straße bereits erreicht. Sie sah ihn noch am Brunnen vor der Kirche vorbeigehen, sah noch seinen Rucksack, den er lässig über der Schulter trug, bis er hinter der Kirche verschwand. Hastig verschloss sie die Tür mit dem Schlüssel und rannte nach hinten zu ihrem Baby. Das Baby schlief ruhig atmend in seinem Bettchen.

Er muss es sein, dachte sie. Er muss es sein.

Nie hatte sie sein Bild vergessen können. Diese braunen Augen, diese schmalen, zu einer geraden Linie gezogenen Lippen. Nie diesen Blick … diesen seltsam leeren Blick.

Er war es. Jetzt war sie sich sicher.

Zitternd drückte sie das Baby an ihre Brust und spürte ihren eigenen Herzschlag. Sie überlegte, was zu tun sei, und wickelte das Baby in ein Deckchen. Dann lief sie hinaus auf die Straße, huschte durch die Gassen, am Rathaus vorbei, bis zur Dorfpolizei.

Als sie vor dem Comandante saß, versuchte sie, sich zu beruhigen, und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie hielt das Baby, wippte es sanft auf ihrem Schoß.
»Können Sie sich noch daran erinnern?«
»Natürlich erinnere ich mich. So etwas vergisst man nicht«, sagte der Comandante ernst und wunderte sich über diesen Besuch.
»Er war in meinem Laden«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr so fremd vorkam, als ob es nicht ihre wäre.
Der Comandante blickte hoch und sah sie scharf an. Hundert Gedanken schossen durch seinen Kopf, aber er sah sie nur scharf an.
»Er hat ein paar Sachen gekauft …«, sagte sie, fast im Flüsterton, »das Übliche, was man so kauft … Brot und Schinken, ein Stück Käse … Eine Flasche Bier.«
»Wann war das?«, wollte er wissen.
»Gerade eben. Vor einer halben Stunde.«
»Und Sie sind sicher, dass er es ist?«
»Er war es«, sagte sie entschlossen. »Der Ausländer auf dem Bild in der Zeitung.«
Der Comandante sah sie prüfend an.
»War er zu Fuß?«
»Ja. Er war zu Fuß.«

Mehr brauchte der Comandante nicht. Plötzlich hatte er es eilig. Er stand von seinem Stuhl auf und riet ihr, nach Hause zu gehen. Er sagte, sie solle sich ganz ruhig verhalten und mit niemandem darüber sprechen.
»Ich werde Ihnen morgen oder übermorgen einen Besuch abstatten«, sagte er. »Gehen Sie jetzt und tun Sie so, als seien Sie nie hier gewesen.« Dann rief er den Sargento und begleitete sie bis an die Tür.
Als sie ihr Haus betrat, war Manuel, ihr Schwager, schon von der Arbeit zurück.
»Manuel!«, rief sie, noch während sie zur Tür hereinkam.
»Erinnerst du dich noch – vor drei Jahren? Da hatte ein Fremder einen achtjährigen Jungen in den Hügeln von Santa Piedra missbraucht und getötet. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich. Es stand in der Zeitung. Es war ein Ausländer, der auf einem der Hügel in einem Zelt lebte, und der Junge ging immer zu ihm rauf, um dort zu spielen. Einige Bauern hatten sie sogar ein paar Mal zusammen gesehen.«
»Ja«, sagte sie. »Und als man den Jungen tot auffand, da war der Fremde plötzlich weg. Verschwunden. Nirgends mehr auffindbar. Weißt du das noch?«

Der Comandante und fünf seiner Männer trafen in drei Polizeiautos auf dem Campingplatz ein. Die Sonne war jetzt eine rote Kugel, dicht über dem Horizont. Auf dem Campingplatz standen nur zwei Wohnwagen. Zwei Kinder spielten mit Eimern und Schaufeln im Sand. Als die Polizeiautos an ihnen vorbeifuhren, hoben sie die Köpfe und verfolgten sie mit ausdruckslosem Blick. Sonst war niemand zu sehen.
Der Mann, den sie suchten, stand gerade vor seinem Zelt. Er hatte schon zu Abend gegessen und wollte sich gerade auf seine Hängematte legen. Als er die drei Wagen der Guardia civil auf sich zukommen sah, blieb er regungslos stehen. Er bewegte sich auch nicht, als sie zu sechst ausstiegen.
Der Comandante fragte ihn nach seinem Namen, fragte ihn, woher er käme, und verlangte nach seinem Pass, während die anderen Polizisten sein Zelt durchsuchten.
Dann legten sie ihm die Handschellen um.
Mit leerem Blick, ließ er sich vorwärts und in einen der Polizeiwagen drängen. Seine paar Habseligkeiten, der Rucksack, die Hängematte und das Zelt, blieben zurück. Die Kinder hatten aufgehört zu spielen. Sie standen jetzt am Rande des Weges und blickten dem Mann in die Augen, der hinten zwischen zwei Polizisten in dem vorbeifahrenden Auto saß. Noch eine Stunde zuvor hatten sie mit ihm gesprochen. Hatten sich von ihm die Muscheln zeigen lassen, die er vom Strand mitgebracht hatte.

Während der Fahrt sagte er nichts. Er blickte seitlich zum Meer, wo die Sonne jetzt langsam untertauchte. Ein weiterer Tag seines bedeutungslosen Lebens ging zu Ende. Es gab nur eins, das ihn wirklich wunderte: Man hatte ihn viel zu schnell gefunden. Viel zu schnell geholt. Das Bild hatte sich plötzlich gewendet. Jetzt hatten sie ihn. Er, das Monster, der Abschaum der Menschheit. Das war, was er dachte. Aber dass es so schnell geschehen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte noch einmal auf den Hügel, er wollte noch einmal dorthin, an diese Stelle, an der er damals einen Teil seiner Selbst verloren hatte. Er wollte noch einmal in diese Gegend, um das Geschehene zu verstehen. Aber dazu war jetzt keine Zeit mehr. Das Schicksal hatte ihm einen Streich gespielt.

Im Gefängnis von Santa Lucia steckte man ihn in einen Kerker. Ein feuchtes, kühles Loch, drei Meter unterhalb der Erde. Man befahl ihm, über eine kleine Leiter hinabzusteigen und verriegelte von oben die Gittertür. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Bett. Das Einzige, was er dort unten sah, war eine an der Decke hängende Glühbirne.

Drei Tage lang hockte er dort auf den feuchten Steinen, abwartend und den Blick starr auf die Leiter gerichtet. Es gab nicht viel, worüber er nachdachte. Man hatte ihm noch nichts gesagt, noch keine Anklage erhoben. Als Erstes müsste man ihm wohl einen Rechtsanwalt bringen. Es müsste jemand sein, der seine Sprache sprach. Früher oder später würde wohl ein Prozess stattfinden. Man könnte ihn auch ausweisen und der Polizei seines Landes übergeben. Eines war er sich sicher: Er würde den Rest seines Lebens in einem Gefängnis verbringen. Das war alles, was er dachte.

In der dritten Nacht marschierten fünf Polizisten der Guardia civil den dunklen Gang entlang. Sie entsicherten die Gittertür und befahlen ihm hochzusteigen. Er erklomm die ersten Stufen, hielt kurz inne und blickte verunsichert um sich. Als er schon fast oben war, erreichte ihn der erste Schlag im Nacken. Zwei Paar Hände zogen ihn hinauf, als ihn ein zweiter Schlag mitten ins Gesicht traf. Er schrie nicht auf, fiel nur auf die Knie und tat nichts, um sich zu wehren. Es folgte ein Schlag nach dem anderen, mal mit einer Faust, mal mit einem Gegenstand. Und als er keuchend zusammensackte, spuckte er Blut und Zähne aus. Er merkte kaum noch den Unterschied zwischen dem Stiefeltritt gegen seine Schläfe und dem Schlag der Eisenstange auf seinem Kopf. Als er endgültig zusammenbrach, spritzte ihm Blut aus Mund, Ohren und Nase.

Sieben Minuten später war er tot.

Man begrub ihn dreihundert Kilometer weiter südlich auf dem Friedhof eines winzig kleinen Dorfes.
Sein Grab blieb namenlos.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Doc Schneider,

Also ich hab mich so gefreut! Vielen Dank, für die Korrektur der ganzen Geschichte!

Hab fast alles übernommen und zwei Sachen gelassen:
Die Kinder sind keine spanischen Kinder, haben keine Ahnung wer/was die Guardia civil ist - und schauen einfach ausdruckslos hoch.

Der Mann wird auf den Nacken geschlagen, weil er aus einem Loch in der Erde emporsteigt, wo 5 Männer stehen. Und einer hat eine Stange in der Hand.

Fremd ist nicht gleich Ausländer. Hier wusste die Frau, dass der Mann kein Spanier war, weil er wie ein Ausländer aussah (blonde Haare, helle Auegn, etc)

Sein Grab blieb namenlos: Sehr schön!

Ganz ganz lieben Dank!
Ji
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Ji,

deine Geschichte interessiert mich auch.

Jeder Täter, so heißt es, kommt noch einmal an den Ort seines Verbrechens zurück. Aber, ob das immer stimmt?
Es ist schon sehr ungewiss, ob der Mann im Zelt damals wirklich der Täter war, und dieses Bild in der Zeitung, war das ein Foto, oder eine Phantomzeichnung? Wenn es ein Foto war, woher hatte das der Redakteur? Wenn es aber eine Phantomzeichnung gewesen ist, halte ich es für ausgeschlossen, dass man einen so vage beschriebenen Menschen nach vielen Jahren wiedererkennen will.
Somit ist es für mich mehr als fraglich, ob der Mann auf dem Campingplatz der gesuchte Kindermörder ist. Er wurde ja scheinbar nicht einmal richtig verhört.
Die Wahrheit wird wohl nie mehr herauskommen, trotzdem lässt du ihn in Gedanken ein umfassendes Geständnis ablegen.
Das ist meines Erachtens DER Schwachpunkt in deiner Geschichte.
Vielleicht wäre die noch reizvoller, wenn du die Empörung und den Frust eines unschuldigen, harmlosen Urlaubers beschreiben würdest, während der Festnahme und in der Haft im Kellerloch.

Der Jahreszahl 1983 macht für mich schon Sinn, ist sogar wichtig. Man weiß dann, dass sich das Geschehen gerade nicht mehr in der Franco Diktatur abspielte, umso ungeheuerlicher ist die von dir beschriebene Lynchjustiz.

Ansonsten fand ich deine Geschichte ziemlich spannend.

Viele Grüße

Thomas
 

Ji Rina

Mitglied
Lieber Thomas,

Das Foto war sein Passfoto. Anscheinend hatte man diesen Mann sofort verdächtigt, ihn dann aber vorerst frei gelassen – wobei er sofort verschwand. Ob dieser Mann nun wirklich schuldig war oder nicht – da bin ich überfragt. Ich habe diese Geschichte daraus gemacht, ohne jetzt diesen spezifischen Fall unter die juristische Lupe nehmen zu wollen. Sicherlich könnte man sie auch so schreiben, wie Du es vorschlägst (eine sehr gute Idee, wie ich finde) Aber dann wäre es halt einfach eine andere Geschichte.

Übrigens; diese Lynchjustiz gibts doch überall! Was meinst Du was z.B. in den USA los ist? Und nicht vor 30 Jahren, sondern heute.

Ich bedanke mich bei Dir, für das Lesen und vor allem, weil Du Dir ernsthafte Gedanken gemacht hast. Ich denke, Du bist ein sehr guter Beobachter! Ob ich die Jahreszahl nun wieder hinschreibe, weiss ich noch nicht.
Dir ein schönes Wochenende!
Ji

(Und ganz enbenbei: “Nun Sex Monk Rock“ ist einfach nur genial)
 

ThomasQu

Mitglied
Sorry, Ji, mich lässt der Text noch immer nicht ganz los, ich hoffe, ich nerve dich nicht.

Dadurch, dass du dem Mann in Gedanken ein Geständnis ablegen lässt, entsteht für mich als Leser der Eindruck, dass du als Autorin davon überzeugt bist, dass er es war, bzw. dass es dir für deine Geschichte zumindest so in den Kram passt.

OK! Er war der Mörder! Definitiv!

Für diesen Fall hätte ich zwei kleine Verbesserungsvorschläge:
1. Die Szene mit der Ladeninhaberin und dem Comandante auf der Polizeiwache, vielleicht hättest du etwas genauer beschreiben können, wie sie ihn anhand des Fotos noch einmal zweifelsfrei identifiziert.
2. Als der Mörder aus seinem Verlies die Leiter hochsteigt und erschlagen wird, da sollte m.E. noch der Vater des ermordeten Buben mit anwesend sein. Das würde Sinn machen. Es macht ja nichts, wenn das nicht ganz genau der Realität entspricht.

Das war es schon,
Grüße, Thomas
 

Ji Rina

Mitglied
Thomas, natürlich nervst Du nicht!
Wenn man einen Text öffentlich macht, muss man damit rechnen, dass Leser fragen stellen. Ausserdem finde ich es gut, dass Du an etwas festhältst, das Dich nicht überzeugt.
Deine Vorschläge könnten wohl gut eingebaut werden, aber ich weiss jetzt nicht, ob sie soviel an der Geschichte ändern würden und ob sie wirklich nötig wären:
Dies ist ein klitzekleines Dorf.
Die Frau hat mit aller Sicherheit gesagt, dies sei der Mann.
Der Comandante hatte es plötzlich eilig – und wollte diesen Mann (falls er es nun war) nicht nocheinmal “verpassen/verlieren”. Er stürzt also los – und findet ihn auch. Sie kontrollieren seinen Pass, u.s.w. Dass er festgenommen wird, spricht dafür, dass die Polizei der Meinung ist, er sei der gesuchte.

Der Comandante könnte sehr wohl das Foto heraussuchen und es der Frau nochmal zeigen und sie würde wieder sagen: Ja, er ist es. Ich glaub aber nicht, dass dies die Geschichte gross verändern würde.

Wenn die Geschichte nicht verstanden wird, dann habe ich etwas falsch gemacht. Andererseits finde ich, dass ein Autor mit Verbessurgsvorschlägen einverstanden sein muss / zu ihnen stehen muss. Sonst wird eine Story je nach Leser-Meinungen verändert.

Das weder der Vater des Buben, noch irgendjemand anderes bei so einer Sache anwesend ist, gar darüber informiert wird, sollte niemanden wundern. Ein anwesender Vater, bei so etwas, – wäre wohl eher bei Mafiakreisen in Palermo denkbar.

Ich danke Dir für Dein Interesse! Werd jetzt auch mal bei Dir reinlesen!
Lieben Gruss,
Ji
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Hallo Ji Rina,

auch mich lässt deine Geschichte etwas ratlos zurück. Ein Fremder/Ausländer wird für ein Verbrechen festgenommen und dann von Polizisten umgebracht. Im Text, finde ich, überschlagen sich die Ereignisse und als Leser wartet man auf eine Pointe. Zum Beispiel, dass er zu Unrecht beschuldigt wird oder ähnliches. Mich interessiert, ob deine Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht und was du uns mit der Geschichte sagen willst.

Handwerklich finde ich eine Stelle zu 'pädagogisch':

»Erinnerst du dich noch – vor drei Jahren? Da hatte ein Fremder einen achtjährigen Jungen in den Hügeln von Santa Piedra missbraucht und getötet. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich. Es stand in der Zeitung. Es war ein Ausländer, der auf einem der Hügel in einem Zelt lebte, und der Junge ging immer zu ihm rauf, um dort zu spielen. Einige Bauern hatten sie sogar ein paar Mal zusammen gesehen.«
»Ja«, sagte sie. »Und als man den Jungen tot auffand, da war der Fremde plötzlich weg. Verschwunden. Nirgends mehr auffindbar. Weißt du das noch?«
Hier nimmst du den Leser zu sehr bei der Hand, finde ich. In einem natürlichen Dialog würde Manuel wahrscheinlich nur sagen: "Ach, die Geschichte, ja, ich erinnere mich".

In Fernsehserien fallen mir solche Dialoge auch immer auf, sie wirken gekünstelt und sind immer ganz klar an den Zuschauer gerichtet.

Ein Beispiel:

"Wie geht es dir?"
"Wie soll es mir schon gehen? Meine Frau hat mich verlassen, mein Sohn ist querschnittgelähmt und ich bin mit meinem Feinkostladen hoch verschuldet. Wie soll es mir da gehen?"

An solche und ähnliche Dialoge aus Fernsehserien musste ich denken, als ich den oben zitierten Dialog las. Ich fühle mich als Leser dann bevormundet und prinzipiell mag ich Geschichten, in denen man subtile Hinweise verstehen muss, um den Text nachzuvollziehen.

Gruß,

CPMan
 

AnjaW

Mitglied
Was mir ein bisschen fehlt, an dem Text: Der vermeintliche Täter wird ohne Verhör, ohne DNA-Abgleich, ohne jeden Beweis von Polizei und der Ladeninhaberin vorverurteilt und dann zum Tode verurteilt. So weit, so gut, auf Dörfern sicher nicht unüblich, zumindest die Vorverurteilung.

Meiner Ansicht nach, würde der Text gewinnen, wenn das mehr zum Ausdruck käme, z.B. wenn der mutmaßliche Täter sich nicht mit der Tat auseinandersetzen würde, sondern mit der Frage, warum er überhaupt eingesperrt wurde.

Eine andere Möglichkeit wäre, zu beschreiben, wie sich die Dorfbewohner damals zusammenrotteten gegen den Ausländer, um den Täter nicht in der Nachbarschaft vermuten zu müssen.

Der Text impiliziert aber, dass die Vorverurteilung richtig war, das nimmt dem Text die Möglichkeit, dass der Falsche verurteilt und umgebracht wurde und damit auch einen Großteil der Kritik an solchen Zusammenrottungen.

Ansonsten gefällt mir die Geschichte gut, auch wie die Stimmung in solchen Gegenden beschrieben ist.

LG
Anja
 

Asfariel

Mitglied
Hallo Ji Rina.

Von mir kommen hier auch noch ein paar Kleinigkeiten, wenn du erlaubst.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als eine Gestalt um drei Uhr nachmittags den einsamen Dorfplatz überquerte. Sie bog in eine Gasse und verschwand in dem einzigen [red]Geschäft[/red].
Als die Inhaberin des [red]Geschäfts[/red] den Fremden hereinkommen sah, blickte sie neugierig hoch. Ausländer gab es hier selten.
Das zweite Geschäft würde ich gegen das Wort Laden ersetzen. Der nächste Punkt ist auch schnell zu lösen:

Als er kurz darauf zu ihr kam, um zu bezahlen, fixierte sie ihn mit ihrem Blick. Sie nahm den Geldschein entgegen und öffnete die Kasse.[blue](LEERZEICHEN)[/blue]In diesem Moment erkannte sie ihn. Ein zweiter Blick in seine Augen ließ sie kurz zusammenzucken und erschaudern.
Dann legten sie ihm die Handschellen um.
Hier würde ich persönlich sagen, dass sie ihm die Handschellen an- und nicht umlegen. Aber dieser Einwand ist eher aus einem persönlichen Gefühl heraus entstanden. Vielleicht sagt man das ja tatsächlich so.

Im Gefängnis von Santa Lucia steckte man ihn in einen [strike]Kerker[/strike] [blue]Zelle[/blue].
Ein Kerker ist wiederrum ein Gefängnis. Zelle, finde ich, ist passender.

Das Thema ist ein sehr heikles, dass du hier gewählt hast, nichts desto trotz, hast du es meiner Meinung nach sehr gut gelöst. Die Art wie du schreibst und beschreibst gefällt mir sehr gut.

Grüße, Asfariel
 

Ji Rina

Mitglied
Das Dorf lag tief im Süden Spaniens, eingebettet zwischen Hügeln und dem Meer. Eine Kirche und vierzig, fünfzig Häuser, umgeben von gelbbraunen Feldern. Eine einsame Landstraße, auf der nur selten ein Auto fuhr. Hin und wieder ein Bauer bei der Arbeit auf dem Feld oder eine schwarz gekleidete Frau, die trotz der glühenden Hitze ein Kopftuch trug.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als eine Gestalt um drei Uhr nachmittags den einsamen Dorfplatz überquerte. Sie bog in eine Gasse und verschwand in dem einzigen Geschäft.
Als die Inhaberin des Ladens den Fremden hereinkommen sah, blickte sie neugierig hoch. Ausländer gab es hier selten. Er grüßte, hob dabei kurz die Hand, und blieb neben einem der hinteren Regale stehen.
Als er kurz darauf zu ihr kam, um zu bezahlen, fixierte sie ihn mit ihrem Blick. Sie nahm den Geldschein entgegen und öffnete die Kasse. In diesem Moment erkannte sie ihn. Ein zweiter Blick in seine Augen ließ sie kurz zusammenzucken und erschaudern. Er grüßte sie noch einmal, murmelte ein paar Worte, die sie nicht verstand, drehte sich dabei um und verließ den Laden. Als sie kurz darauf zur Tür hastete, um zu sehen, in welche Richtung er gegangen war, hatte er das Ende der Straße bereits erreicht. Sie sah ihn noch am Brunnen vor der Kirche vorbeigehen, sah noch seinen Rucksack, den er lässig über der Schulter trug, bis er hinter der Kirche verschwand. Hastig verschloss sie die Tür mit dem Schlüssel und rannte nach hinten zu ihrem Baby. Das Baby schlief ruhig atmend in seinem Bettchen.

Er muss es sein, dachte sie. Er muss es sein.

Nie hatte sie sein Bild vergessen können. Diese braunen Augen, diese schmalen, zu einer geraden Linie gezogenen Lippen. Nie diesen Blick … diesen seltsam leeren Blick.

Er war es. Jetzt war sie sich sicher.

Zitternd drückte sie das Baby an ihre Brust und spürte ihren eigenen Herzschlag. Sie überlegte, was zu tun sei, und wickelte das Baby in ein Deckchen. Dann lief sie hinaus auf die Straße, huschte durch die Gassen, am Rathaus vorbei, bis zur Dorfpolizei.

Als sie vor dem Comandante saß, versuchte sie, sich zu beruhigen, und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie hielt das Baby, wippte es sanft auf ihrem Schoß.
»Können Sie sich noch daran erinnern?«
»Natürlich erinnere ich mich. So etwas vergisst man nicht«, sagte der Comandante ernst und wunderte sich über diesen Besuch.
»Er war in meinem Laden«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr so fremd vorkam, als ob es nicht ihre wäre.
Der Comandante blickte hoch und sah sie scharf an. Hundert Gedanken schossen durch seinen Kopf, aber er sah sie nur scharf an.
»Er hat ein paar Sachen gekauft …«, sagte sie, fast im Flüsterton, »das Übliche, was man so kauft … Brot und Schinken, ein Stück Käse … Eine Flasche Bier.«
»Wann war das?«, wollte er wissen.
»Gerade eben. Vor einer halben Stunde.«
»Und Sie sind sicher, dass er es ist?«
»Er war es«, sagte sie entschlossen. »Der Ausländer auf dem Bild in der Zeitung.«
Der Comandante sah sie prüfend an.
»War er zu Fuß?«
»Ja. Er war zu Fuß.«

Mehr brauchte der Comandante nicht. Plötzlich hatte er es eilig. Er stand von seinem Stuhl auf und riet ihr, nach Hause zu gehen. Er sagte, sie solle sich ganz ruhig verhalten und mit niemandem darüber sprechen.
»Ich werde Ihnen morgen oder übermorgen einen Besuch abstatten«, sagte er. »Gehen Sie jetzt und tun Sie so, als seien Sie nie hier gewesen.« Dann rief er den Sargento und begleitete sie bis an die Tür.
Als sie ihr Haus betrat, war Manuel, ihr Schwager, schon von der Arbeit zurück.
»Manuel!«, rief sie, noch während sie zur Tür hereinkam.
»Erinnerst du dich noch – vor drei Jahren? Da hatte ein Fremder einen achtjährigen Jungen in den Hügeln von Santa Piedra missbraucht und getötet. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich. Es stand in der Zeitung. Es war ein Ausländer, der auf einem der Hügel in einem Zelt lebte, und der Junge ging immer zu ihm rauf, um dort zu spielen. Einige Bauern hatten sie sogar ein paar Mal zusammen gesehen.«
»Ja«, sagte sie. »Und als man den Jungen tot auffand, da war der Fremde plötzlich weg. Verschwunden. Nirgends mehr auffindbar. Weißt du das noch?«

Der Comandante und fünf seiner Männer trafen in drei Polizeiautos auf dem Campingplatz ein. Die Sonne war jetzt eine rote Kugel, dicht über dem Horizont. Auf dem Campingplatz standen nur zwei Wohnwagen. Zwei Kinder spielten mit Eimern und Schaufeln im Sand. Als die Polizeiautos an ihnen vorbeifuhren, hoben sie die Köpfe und verfolgten sie mit ausdruckslosem Blick. Sonst war niemand zu sehen.
Der Mann, den sie suchten, stand gerade vor seinem Zelt. Er hatte schon zu Abend gegessen und wollte sich gerade auf seine Hängematte legen. Als er die drei Wagen der Guardia civil auf sich zukommen sah, blieb er regungslos stehen. Er bewegte sich auch nicht, als sie zu sechst ausstiegen.
Der Comandante fragte ihn nach seinem Namen, fragte ihn, woher er käme, und verlangte nach seinem Pass, während die anderen Polizisten sein Zelt durchsuchten.
Dann legten sie ihm die Handschellen an.
Mit leerem Blick, ließ er sich vorwärts und in einen der Polizeiwagen drängen. Seine paar Habseligkeiten, der Rucksack, die Hängematte und das Zelt, blieben zurück. Die Kinder hatten aufgehört zu spielen. Sie standen jetzt am Rande des Weges und blickten dem Mann in die Augen, der hinten zwischen zwei Polizisten in dem vorbeifahrenden Auto saß. Noch eine Stunde zuvor hatten sie mit ihm gesprochen. Hatten sich von ihm die Muscheln zeigen lassen, die er vom Strand mitgebracht hatte.

Während der Fahrt sagte er nichts. Er blickte seitlich zum Meer, wo die Sonne jetzt langsam untertauchte. Ein weiterer Tag seines bedeutungslosen Lebens ging zu Ende. Es gab nur eins, das ihn wirklich wunderte: Man hatte ihn viel zu schnell gefunden. Viel zu schnell geholt. Das Bild hatte sich plötzlich gewendet. Jetzt hatten sie ihn. Er, das Monster, der Abschaum der Menschheit. Das war, was er dachte. Aber dass es so schnell geschehen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte noch einmal auf den Hügel, er wollte noch einmal dorthin, an diese Stelle, an der er damals einen Teil seiner Selbst verloren hatte. Er wollte noch einmal in diese Gegend, um das Geschehene zu verstehen. Aber dazu war jetzt keine Zeit mehr. Das Schicksal hatte ihm einen Streich gespielt.

Im Gefängnis von Santa Lucia steckte man ihn in einen Kerker. Ein feuchtes, kühles Loch, drei Meter unterhalb der Erde. Man befahl ihm, über eine kleine Leiter hinabzusteigen und verriegelte von oben die Gittertür. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Bett. Das Einzige, was er dort unten sah, war eine an der Decke hängende Glühbirne.

Drei Tage lang hockte er dort auf den feuchten Steinen, abwartend und den Blick starr auf die Leiter gerichtet. Es gab nicht viel, worüber er nachdachte. Man hatte ihm noch nichts gesagt, noch keine Anklage erhoben. Als Erstes müsste man ihm wohl einen Rechtsanwalt bringen. Es müsste jemand sein, der seine Sprache sprach. Früher oder später würde wohl ein Prozess stattfinden. Man könnte ihn auch ausweisen und der Polizei seines Landes übergeben. Eines war er sich sicher: Er würde den Rest seines Lebens in einem Gefängnis verbringen. Das war alles, was er dachte.

In der dritten Nacht marschierten fünf Polizisten der Guardia civil den dunklen Gang entlang. Sie entsicherten die Gittertür und befahlen ihm hochzusteigen. Er erklomm die ersten Stufen, hielt kurz inne und blickte verunsichert um sich. Als er schon fast oben war, erreichte ihn der erste Schlag im Nacken. Zwei Paar Hände zogen ihn hinauf, als ihn ein zweiter Schlag mitten ins Gesicht traf. Er schrie nicht auf, fiel nur auf die Knie und tat nichts, um sich zu wehren. Es folgte ein Schlag nach dem anderen, mal mit einer Faust, mal mit einem Gegenstand. Und als er keuchend zusammensackte, spuckte er Blut und Zähne aus. Er merkte kaum noch den Unterschied zwischen dem Stiefeltritt gegen seine Schläfe und dem Schlag der Eisenstange auf seinem Kopf. Als er endgültig zusammenbrach, spritzte ihm Blut aus Mund, Ohren und Nase.

Sieben Minuten später war er tot.

Man begrub ihn dreihundert Kilometer weiter südlich auf dem Friedhof eines winzig kleinen Dorfes.
Sein Grab blieb namenlos.
 

Ji Rina

Mitglied
@ Hallo CPMAN!

Ich kann irgendwie nicht verstehen, weiss nicht, was an diesem Geschichtle so unverständlich / kompliziert sein soll… Ja, Du hast recht: Die Ereignisse überschlagen sich. Du meinst, Du würdest auf die Pointe warten, dass der Mann zu Unrecht beschuldigt wurde. Wieso denn? In der Geschichte IST der Mann schuldig. Die Pointe: Man hätte ihn nicht einfach so umbringen dürfen- sondern prozessieren/ausliefern/ was immer….Das mag natürlich nicht Pointe genug sein; das stimmt. Auf was diese Geschichte beruht, habe ich oben ein Paar mal beschrieben. Ferner, findest Du den Dialog (drei Zeilen) “pädagogisch”… Ja mei, was kann ich sagen? In den drei Zeilen wird der Kern der Geschichte erklärt. Wenns pädagogisch klingt – dann ist´s nicht gut, klar. Sollte nicht.
Ich wüsste jetzt nicht so ganz, was diese drei Zeilen mit TV Serien zu tun haben. Aber ich denke, ich werde dieses Geschichtel als “Unverständlich/untauglich” abhaken und löschen. Vielleicht schreibe ich sie irgendwann ganz anders; so dass jeder sie gleich versteht: Der Mann ist als unschuldig ermordet worden. Ich glaube, dann ist´s besser zu verstehen; da haben alle recht, wie ich finde.
Ich danke Dir auf jeden fall für Deine Meinung! Vielleicht kommt ja noch ein anderes Geschichtel daher, was Dir gefällt.
Lieben Gruss,
Ji
 

Ji Rina

Mitglied
@ Hallo Asfariel!

Danke für Deine Rückmeldung und Willkommen auf der Leselupe!
Vielen Dank auch für die Korrekturen, die ich nachvollziehen kann. Einzig das Wort: Kerker.
Ich hatte mich vorher erkundigt, weil ich nichts verkehrtes schreiben wollte und man sagte mir, dass ein Kerker eine Art Keller/Loch sei. Während eine Zelle ja eine “normale” Gefängnis-Zelle ist, wo Insassen heutzutage auch TV. etc haben. Hier geht es aber eher um ein Loch in der Erde, der zu einem unterirdischem Raum führt und einen Gitterdeckel als Eingang hat. Aber Kerker scheint wohl doch nicht die korrekte Bezeichnung zu sein.
Wenn Du der Meinung bist, dass ich das Thema sehr gut gelöst habe, dann habe ich den Eindruck, dass Du nichts auszusetzen hast. Aber dann erklär doch mal was so unverständlich ist. Damit ichs endlich mal kapiere...Wie gesagt, ich werds neu schreiben (demnächst).
Nochmal herzlichen Dank für das Interesse und Deine Meinung.
Mit Gruss,
Ji
 

Asfariel

Mitglied
Danke für die Begrüßung, ebenfalls hallo.

Ich würde mich nicht zu sehr an dem Wort Kerker aufhängen. Ich nehme an, man kann es auch so benutzen.

Wirklich auszusetzen habe ich jetzt nichts, auch nicht die Selbstjustiz, oder eben die nicht gesetzestreue und moralische Vorgehensweise der Polizei. So etwas passiert ja auch heutzutage noch gelegentlich, in den verschiedensten Winkeln dieser Erde.

Generell gilt für mich hier noch, dass ich mich erst einmal daran gewöhnen muss, literarische Werke von anderen zu beurteilen. Genau so, wie ich mich ans Schreiben gewöhnen muss, da ich auch dies noch nicht so lange mache. Insofern bin ich im Moment noch etwas vorsichtig damit, zu tief in den Texten anderer zu wühlen. Ich werde das aber Schritt für Schritt versuchen, dies besser zu machen und auch substantielleres beizutragen.

Alles Gute noch.

Grüße, Asfariel
 



 
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