Der Betriebsausflug

Jeden Tag und beinahe jede Stunde hatte die Stiegler sie auf den Betriebsausflug einzustimmen versucht. Als ob Gefahr bestanden hätte, dass sie wegblieben. Daran war natürlich nicht zu denken gewesen.

„Und es wird getanzt werden, ihr jungen Herren. Wunderbar wird das werden … Freut euch doch!“

Sie machten beide ein saures Gesicht. Was das Tanzen anging, sagte Ulf sogar: „Bin daran desinteressiert“.

Frau Stiegler fehlte dann bei der Abfahrt der Busse. Sie hatte gar nicht vorgehabt mitzukommen, erfuhren sie von Frau Schiller. Bens Platz war natürlich neben Ulf. Herr Adelmann schob sich schwer atmend durch den Mittelgang, um alle zu begrüßen.

Unter Mundharmonikaspiel ging es durch weite Fabrikviertel hinaus aus der Stadt. Die älteren Bürodamen sangen dazu Volkslieder aus ihrer Schulzeit. Ihre ungeübten Altstimmen hörten sich wehmütig an. Die älteren Kollegen begannen sich Herrenwitze zu erzählen. Sie dämpften ihre Stimmen nicht, nur bei den Pointen kaschierten sie die anstößigen Stellen, indem sie kurz sehr laut auflachten. Dazu machte Ulf zu Bens großer Freude wiederholt ein angewidertes Gesicht.

„Ich hab gerade beschlossen, heute den Kanal volllaufen zu lassen“, sagte Ulf. „Aber du - sei vorsichtig.“

„Bin ich doch immer.“

Da es im Bus nichts zu trinken gab, fingen sie ein ernsthaftes Gespräch an. Sie mussten auch einmal über Politik und ihre Weltanschauung reden. Wie schön, dass sie beide neuerdings liberal dachten. Diese Sympathien für den Sozialismus waren doch schon etwas überholt. Sie würden sich also nicht über Politik streiten. Ben erklärte Ulf, was ein Agnostiker ist, und Ulf sagte, dass sei immer schon auch seine Meinung gewesen.

Der Bus hielt in einer kleinen Stadt. Alle stiegen für eine halbe Stunde aus, um sich Bewegung zu verschaffen. Die jungen Männer stürmten die Fußgängerzone hinunter. Einige wussten, dass es unten am Fluss eine Trinkhalle gab. Also anstehen, Bier kaufen und schnell austrinken, bevor es weitergeht.

Ben hatte nach seiner Gewohnheit nur wenig gefrühstückt und jetzt wie die anderen eine Halbe getrunken. Auf der Weiterfahrt fühlte er sich leicht angesäuselt. Er schnitt im Gespräch mit Ulf weitere ernste Themen an: die Weltgeschichte, das Universum. Und dann die Sache mit der Rotverschiebung, war das nicht ungeheuerlich? Alles entfernte sich mit ständig zunehmender Geschwindigkeit voneinander. Ulf sah ihn ruhig und zufrieden an. Der Krakeel rundherum störte sie jetzt viel weniger. Kommt ein Viehjud in die Stadt, fing einer schräg hinter ihnen an, und die Männer über vierzig lachten schon lauthals. Die Mundharmonika versuchte es mit Auf der schwäbschen Eisenbahne, und einige von den reiferen Damen fielen unsicher ein.

Sie kamen etwas verspätet zu ihrem Mittagessen in einer Miniaturschwarzwaldlandschaft an. Das Programm für diesen Tag war, wie sich allmählich zeigte, mit Attraktionen überfrachtet. Der Abstecher in die andere genauso reizvolle Gegend wurde nach dem Kaffeetrinken kurzerhand gestrichen.

Die Busse nahmen den Rückweg über die Autobahn und luden sie alle am Rand der Großstadt wieder aus. Die Festsäle dicht bei der Straßenbahnendstation erwarteten sie schon, grell erleuchtet und etwas sparsam ausgeschmückt. Nur einer von ihnen war für sie reserviert, am Tag nach Himmelfahrt wollten auch andere feiern.

Ulf sorgte dafür, dass sie mitten unter den jungen Leuten saßen. Auch Frau Schiller fand Platz an diesem Tisch der Jugend. Ben sah sich erst um und kam dann bald mit Jungen und Mädchen ins Gespräch, an denen er bisher im Amt nur vorübergegangen war. Jungen und Mädchen? Ja, das waren sie jetzt viel eher für ihn als junge Männer und Frauen.

„Anders herum!“ rief jemand und meinte damit bloß, er solle seine erste Zigarette umdrehen und statt am brennenden Ende lieber am Mundstück ziehen. Tatsächlich hatte er sich schon über den Geschmack nach Asche und Kohle gewundert. Sie lachten, es klang gutmütig, sie lachten ihn nicht aus. Später rauchte er noch eine Zigarette.

Es gab da einen schmalen Rotblonden, so still und fein, dass er ihn immer wieder ansehen musste. Das Gespräch mit ihm beschränkte sich darauf, dass sie sich ihre Vornamen nannten. Seiner lautete Olaf. Neben ihm saß ein naiver Frechdachs, er hieß Alex und wollte unbedingt in der kommenden Woche mit Ben mittags essen gehen. Zutraulich wie ein junger Hund - am Ende wird er noch den Kopf an Bens Knie reiben.

Die Lange aus der Schalterhalle, wie sie von den jungen Leuten des Amtes genannt wurde, überragte alle um ein bis zwei Köpfe, nur Ulf nicht, mit dem sie an diesem Abend noch kaum ein Wort sprach. Sie hätte auch als die Hübsche bezeichnet werden können, sie war in der Tat die reizvollste unter den jungen Frauen. Sie hatte etwas von einem großen, hübschen, schlanken Jungen und war zur gleichen Zeit bereits perfekte junge Dame. Sie hatte ja im Amt Kontakt mit dem Publikum und wusste, wie man gut auftritt. Ben unterhielt sich gern mit ihr, ohne nachher noch zu wissen worüber eigentlich.

Das Tanzen blieb ihnen nicht ganz erspart. Ben und Ulf wurden jeder einmal von etwas älteren Bürokolleginnen aufgefordert. Beim Wiener Walzer bewegten sie sich auf dem schmalen Grat zwischen schlecht und gar nicht tanzen können. Sie hatten sich nicht verweigert, das musste man ihnen zugute halten.

Ben sah, wie Frau Schiller zu einem weiter entfernten Tisch hinüberwinkte. Dort saß Herr Adelmann und hielt seine kleinen Vorträge, wie sonst auch. Frau Schiller sagte und jeder am Tisch der Jugend konnte es hören: „Der Mann ist krank, sehr krank.“

Viel wichtiger als das Tanzen war das Trinken. Es geschah nebenbei und wie von selbst, so wie man beim Reden eben auch atmet. Ohne Vorwarnung wurde es Ben auf einmal speiübel. Er rannte zu den Toiletten. Nur noch dort drinnen ankommen, bevor es losgeht. Ulf kam schnell hinterher, er war schon in seiner Nähe. Ulf hielt draußen Wache, während Ben in der Kabine würgte und kotzte.

Sie kehrten zu ihrem Tisch zurück. Die Unterhaltung war noch in vollem Gang. Ben fühlte sich erleichtert, er trank allerdings von da an nichts mehr. Eine halbe Stunde später meldete sich die Übelkeit plötzlich zurück. Die vorherige Szene wiederholte sich, und Ben übergab sich mit noch mehr Getöse, wie in einem Krampf. Er dauerte länger, mit Eruptionen, denen täuschende Stille oder leises Stöhnen folgte, bevor es wieder losging.

Ulf hörte alles vor der Tür mit an und rief ab und zu in die Toilette hinein: „Ben, hörst du mich? Geht es noch? Wird es schon besser?“ Seine Stimme klang einfühlsam und tröstlich.

Ben wankte aus der Kabine, erschöpft zitternd und doch schon getröstet. Ulf stützte ihn beim Gehen. Als sie bei den anderen ankamen, fanden einige, es sei jetzt die richtige Zeit heimzufahren. Alle standen auf und gingen langsam zur Bahn. Ben und Ulf kamen als Letzte dort an und saßen ohne die anderen in einem Wagen für sich. Auf der langen Strecke ins Zentrum ging es Ben wieder zunehmend schlechter. Um nicht auch in der Bahn kotzen zu müssen, verhielt er sich meist still und saß leicht gekrümmt da. Einmal weinte er sogar, vor Übelkeit und vor Wut und weil es auf seine Weise doch auch schön war.

„Lass doch, das geht wieder vorbei“, sagte Ulf, im gleichen Ton wie vorhin.

„Herrgott, ich lebe so gern …“

„Recht so, das tun doch alle.“

„Aber ich kann es nicht richtig.“

„Unsinn, red am besten gar nichts.“

In der Stadtmitte setzte ihn Ulf in die andere Bahn und kam selbst mit hinauf. Ben fand immer mehr Geschmack an der Situation. Er sagte wiederholt: „Du bist ein verdammt feiner Kerl, Ulf.“

Die Villa stand vollkommen dunkel da oben in ihrem Garten. Alle anderen Bewohner waren verreist. Ulf sah hinauf und sagte: „Kommst du jetzt auch allein zurecht? Wenn ich die letzte Vierzehn erwischen will, muss ich gleich wieder hinunter.“ Er wollte zur Haltestelle zurück.

„Ja, wird schon gehen …“ Ben stand auf der stark abschüssigen Straße unter ihm. Er müsste noch irgendetwas aus dieser Lage machen können. So versuchte er, Ulfs Wange zu streicheln, und erreichte mit der Hand doch nur seine Halspartie. Ulf sah lächelnd zu ihm herunter. Es war auch ein verlegenes Lächeln, gewiss. Aber das war es nicht allein, was lag sonst noch darin: immer noch Sympathie oder auch schon Trauer?

Ben lag zwei Tage allein in der Villa und erbrach sich alle ein bis zwei Stunden. Am Schluss kam nur noch Galle.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno,

ich würde die Annäherung der beiden Männer in den Vordergrund rücken und einige andere überflüssige Passagen streichen.

Den Schluss fand ich verwirrend. Ist Ben ernsthaft krank oder ist das Erbrechen von Galle nur ein Bild für Selbstekel oder Ekel an der Welt oder Ausdruck von Trauer?

Positiv finde ich die Entwicklung von Deinem eher sachlichen Stil hin zu mehr Gefühl.

VG,
DS
 
Liebe Frau Dr. Schneider, gern nehme ich Ihre Anregungen auf und wende sie ein wenig hin und her, um sie zu untersuchen. Also:

1. "Annäherung der beiden Männer"? Ist es nicht eher die Geschichte einer misslingenden Annäherung? Siehe vorletzten Absatz.

2. Fürs Streichen bin ich immer zu haben. Einen Großteil meiner Zeit hier verbringe ich mit Eliminieren und Verknappen. Hier habe ich nur noch keinen Ansatz gefunden. Evtl. denkst du an die Zeilen, die das übrige Personal betreffen. Aber das Milieu sollte dadurch nebenbei auch skizziert werden.

3. Das anhaltende Vomieren mit Erbrechen von Galle lässt sich so erklären: kaum gefrühstückt, dann zu viel getrunken, erstmals geraucht und dazu auch noch nervös überreizt. Die Galle als buchstäblich letztes Wort kann natürlich als kleines Bild aufgefasst werden, so wie von dir angedeutet.

4. Fühle mich immer bestärkt, wenn man positive Entwicklung feststellt, wobei hier unklar ist, ob deine Feststellung den Verlauf im Text oder etwas darüber hinaus meint.

Freundlichen Nachmittagsgruß
Arno Abendschön
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno, nachdem ich Deinen Text nochmal mit "Verstand" :) gelesen habe, kann ich Dir sagen:

1. Du hast recht: Es wird keine Romanze geben. Traurig, aber wahr.

2.


Sie kamen etwas verspätet zu ihrem Mittagessen in einer Miniaturschwarzwaldlandschaft an. Das Programm für diesen Tag war, wie sich allmählich zeigte, mit Attraktionen überfrachtet. Der Abstecher in die andere genauso reizvolle Gegend wurde nach dem Kaffeetrinken kurzerhand gestrichen.

Die Busse nahmen den Rückweg über die Autobahn und luden sie alle am Rand der Großstadt wieder aus. Die Festsäle dicht bei der Straßenbahnendstation erwarteten sie schon, grell erleuchtet und etwas sparsam ausgeschmückt. Nur einer von ihnen war für sie reserviert, am Tag nach Himmelfahrt wollten auch andere feiern.

Ulf sorgte dafür, dass sie mitten unter den jungen Leuten saßen. Auch Frau Schiller fand Platz an diesem Tisch der Jugend. Ben sah sich erst um und kam dann bald mit Jungen und Mädchen ins Gespräch, an denen er bisher im Amt nur vorübergegangen war. Jungen und Mädchen? Ja, das waren sie jetzt viel eher für ihn als junge Männer und Frauen.
Hier könntest Du locker ein paar Sachen streichen, die für die spätere Sympathie nicht entscheidend sind.


3. Alles verstanden. Ich fasse es am ehesten als Bild auf.

4. Ich meine den Text. Er wirkt lebhafter, hat auch wörtliche Rede und deutet Gefühle zwar nur an, aber doch sehr gut vermittelt.

LG
DS
 



 
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