Der Blumenfreund

Bilbo

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DER BLUMENFREUND
Karsten Graf ging wütend vor dem Zimmer seines Freundes Julian hin und her, während er versuchte zu verstehen, was dieser dort drinnen am Telefon besprach. Die beiden hatten sich vor vielen Jahren als Nachbarn in einem Schrebergartenverein kennengelernt und viel zusammen unternommen. Doch die Situation hatte sich geändert, als Julian den Zwei-Millionen-Mark.-Jackpot im Lotto gewann. Er gab seinen Schrebergarten, seine Großstadtwohnung und seinen Job auf und legte sich statt dessen eine Villa auf dem Land zu. Karsten hingegen war bald darauf arbeits- und somit auch mittellos geworden. Das war mittlerweile zwei Jahre her. Seit damals hatte Julian immer wieder den "reichen Onkel" gegenüber Karsten gespielt, indem er ihm regelmäßig Geld in kleinen Mengen gab. Zunächst war Karsten noch froh darüber gewesen, aber je mehr Zeit verging, desto mehr hasste Karsten diese Abhängigkeit und desto neidischer wurde er. Trotzdem war er gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, wenn er nicht auf der Straße landen wollte. Du glaubst nicht, was ich entdeckt habe!" hörte er Julian gerade sagen. "Eine völlig neue Pflanzenart, wenn mich nicht alles täuscht... Ja, mitten im Dschungel... sofort... nahe kommen... nenne sie `mors florens`..." Karsten verdrehte die Augen. Zwar hatte er nicht alles verstanden, aber er hatte sowieso nicht viel für exotische Pflanzen übrig. Julian hingegen war erst vor kurzem von einer seiner zahlreichen Reisen in die Tropen zurückgekehrt, auf denen er seltene Arten suchte, um sie mit nach Hause zu bringen. Jetzt allerdings wurde Karsten hellhörig und blieb an der Tür stehen. "Mindestens vierhunderttausend Mark... wenn ich sie verkaufe..." Plötzlich wusste Karsten, was er zu tun hatte. Entschlossen lief er nach draußen und fuhr mit dem nächsten Bus zu einem Hotel, das nur einen Kilometer entfernt lag. Dort mietete er ein Zimmer und traf seine Vorbereitungen. Er kannte Julian lange genug, um zu wissen, dass dieser jeden Freitagabend mit einigen anderen Pflanzenfreunden, die Karsten allesamt für Spinner hielt, am Stammtisch zusammensaß. Da sonst niemand in der Villa wohnte und sein Freund weder eine Alarmanlage noch ähnliche Vorrichtungen installiert hatte, schlenderte Karsten völlig ruhig den Feldweg zu dessen Villa entlang. Dann holte er die Brechstange hervor, die er gekauft hatte und verschaffte sich durch die Verandatür Einlass. Wie er erwartet hatte, war alles still. Karsten ging hinunter in Julians Pflanzenkeller, der nur mit einem spärlichen Licht beleuchtet wurde. Aber alle hier stehenden Pflanzen waren ältere Exemplare, das wusste Karsten von früheren Besuchen. Also musste die "mors florens" noch im Arbeitszimmer im ersten Stock stehen. Als Karsten dort ankam, entdeckte er sie auf der Fensterbank. Schnell nahm er die Pflanze, die mit einer großen blauen Blüte und vielen kleinen Stacheln geschmückt war, in die Hand und machte sich auf den Rückweg. Als er die Treppe hinunter hastete, wäre ihm die Pflanze fast dieselbe hinabgefallen, aber durch eine blitzschnelle Reaktion gelang es ihm, sie aufzufangen. "Verdammt!" fluchte Karsten, als er merkte, dass ihm ein Stachel tief in den Daumen gefahren war und nun verräterische Blutstropfen zur Erde rannen, aber er konnte sich jetzt nicht darum kümmern. Inzwischen war es fast 23 Uhr und Julian konnte jede Minute zurückkommen. Erst auf der halben Strecke zum Dorf fiel ihm auf, dass er seinen Hotelschlüssel verloren hatte. Er lag vermutlich irgendwo in Julians Haus und Karsten brauchte ihn unbedingt! Daher versteckte er die Pflanze im Gebüsch und rannte den Weg zurück. Der Finger hatte aufgehört zu bluten, dafür bekam Karsten nun Magenschmerzen, die immer schlimmer wurden. Anscheinend waren ihm das Abendessen und die Aufregung nicht bekommen. Glücklicherweise war Julian noch immer nicht zurück. Er schleppte sich erneut zum Arbeitszimmer und wollte gerade den Schlüsselbund vom Boden aufheben, als ihn ein weiterer Krampf befiel, schlimmer als alle vorherigen. Sich windend und stöhnend vor Schmerzen stolperte Karsten zum Telefon. Egal was passierte, er musste einen Arzt rufen! Aber anstatt die Nummer des Notrufes zu wählen, drückten seine zitternden Finger auf die Anrufwiedergabe-Taste. Karsten hörte Julians Stimme und die von einem anderen Mann auf dem Band. Es war die Aufzeichnung des Telefonats, das er am Vormittag mitgehört hatte! "Du glaubst nicht, was ich entdeckt habe! Eine völlig neue Pflanzenart, wenn mich nicht alles täuscht." "In Südafrika?" "Ja, mitten im Dschungel. Kleine Vögel sterben sofort, wenn sie ihr zu nahe kommen und sich an den giftigen Dornen verletzen. Deshalb nenne ich sie `mors florens`." "Wie viele hast du davon gefunden?" "Mindestens vierhundert! Tausend Mark bekomme ich bestimmt, wenn ich sie verkaufe." Auf einmal erkannte Karsten, dass er gleich mehrere Fehler nacheinander gemacht hatte. Aber diese Einsicht kam zu spät. Ihm fiel gerade noch ein, was er im Lateinunterricht vor langer Zeit gelernt hatte: "mors florens" hieß "blühender Tod"! Und im selben Augenblick trat genau dieser bei Karsten ein.


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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